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Ausgabe: | 1993 |
Spalte: | 51-54 |
Kategorie: | Philosophie, Religionsphilosophie |
Autor/Hrsg.: | Marcel, Gabriel |
Titel/Untertitel: | Werkauswahl 1993 |
Rezensent: | Ulrich, Michael |
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Theologische Literaturzeitung 118. Jahrgang 1993 Nr. I
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Marcel, Gabriel: Werkauswahl. Hg. von P. Grotzer u.S.Foelz. I:
Hoffnung in einer zerbrochenen Welt? Vorlesungen und Aufsätze
. Eingel. u. hg. von P. Grotzer. Mit einem Vorwort von P.
Ricceur. II: Metaphysisches Tagebuch 1915-1943. Ausgewählt
u. hg. mit einer Einleitung von S. Foelz. III: Unterwegssein.
Ansätze zu einer konkreten Philosophie. Dialog mit Zeitgenossen
. Mit einer Bibliographie hg. von P. Grotzer. Nachwort von
T.-B. Wolf. Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh
1992. 245 S., 377 S., 366 S. gr.80. ISBN 3-506-75341-X. Bd.
II 3-506-75342-8. Bd. III 3-506-75343-6.
Eine Werkausgabe soll angezeigt werden. Deshalb die Fragen
: Wer ist der Autor? Was sind die Schwerpunkte seines philosophischen
Werkes? Was hat M. uns heute zu sagen? Warum
diese Auswahl? Was enthält sie?
M. (1889-1973), ein Franzose, verlor mit 4 Jahren seine Mutter, lebte
längere Zeit bei seiner Großmutter, einer von Deutschland nach Paris
gekommenen Jüdin, versuchte der Langeweile der Schule durch Theater
und Musik zu entfliehen, während des 1. Weltkriegs im Vermißtensuchdienst
tätig, erfährt dabei den Unterschied zwischen den mageren Daten
einer Kartei und dem konkreten Schicksal eines Menschen. Er lernt das
Leben als ein Abenteuer zu sehen, das unsere Neugier und engagierte Antwort
herausfordert. 1914 schreibt er in sein Tagebuch (später als Metaphysisches
Tagebuch veröffentlicht): „Der Glaube ist keine Hypothese". Er,
der in seinem Elternhaus religiösem Glauben nicht begegnete, schreibt
1918 in sein Tagebuch: „Gott ist das Du schlechthin, das nicht zum Es werden
kann." 1929 bittet er um die Taute (in der katholischen Kirche). 1964
ist er in Deutschland so bekannt, daß er den Friedenspreis des Deutschen
Buchhandels erhält.
M. war Künstler. Bis in seine letzten Lebensjahre improvisierte er täglich
auf dem Klavier. Er schrieb Theaterstücke und rezensierte andere. Er
hatte paranormale Erlebnisse und wußte sie in sein Leben einzuordnen. All
das bewahrte ihn davor, bei seinem Philosophieren in der Enge der üblichen
Schulphilosophie stecken zu bleiben.
M. war von Jugend an ein Denker von europäischer Dimension
. Er las neben französischen Philosophen auch englische
und deutsche in ihrer Originalsprache. Er lebte nicht an der
Tradition vorbei, sondern war mit ihr im Gespräch. Er setzte
sich mit Descartes auseinander und mit Bergson, mit Kant und
Sendling, mit Coleridge und Bradley. Er machte es sich nicht
leicht mit der Überwindung des Idealismus und Empirismus
seiner Vorgänger. Deshalb sind seine Darlegungen streckenweise
nicht leicht zu lesen.
M. war ein dialogischer Philosoph. Er suchte nicht nur mit
Geistesverwandten das Gespräch: Nietzsche beeindruckte ihn,
nicht nur von der Sprache her, sondern auch von der Art des Fragens
. Die präzisen Analysen Sartres fand er genial. Mit Bloch
diskutierte er über die Hoffnung. Mit Heidegger verband ihn die
Frage nach dem Sein, mit Jaspers die philosophische Bedeutung
des Glaubens.Teilhard de Chardin gegenüber betonte er die Notwendigkeit
, zwischen Optimismus und Hoffnung zu unterscheiden
. Mit Wust und Buber hatte er viele gemeinsame Aussagen.
Sartre nannte M. einen christlichen Existentialistcn, M. selbst
lehnte diese Klassifizierung ab. Er bezeichnete sich als einen
Philosophen der Schwelle. Er sah seine Berufung darin, mit
anderen unterwegs zu sein, immer wieder die durch Rationalismus
und Positivismus selbst errichteten Schranken zu durchbrechen
und sich hinausführen zu lassen in die befreienden
Weiten der Transzendenz. So blieb M. auch nach seiner Konversion
zum christlichen Glauben immer Philosoph und wurde
nie Theologe im eigentlichen Sinn.
M. sah seine Aufgabe in einer konkreten Philosophie. Er
mißtraute den Abstraktionen und fragte deshalb nicht: „Was ist
der Mensch?", wie die philosophische Tradition seit der Antike
den Menschen zu definieren suchte auf dem Hintergrund anderer
nichtmenschlicher Wesen mit den überlieferten Antworten:
„denkende Substanz", „denkendes Lebewesen", „denkendes
Sein". M. fragt konkret: „Wer bin ich, der ich nach dem Sein
frage?" Dabei geht er von der vollen menschlichen Erfahrung
aus, nicht nur von oberflächlichen Erfahrungsfragmenten, sondern
von gesättigten, geläuterten Erfahrungen, die sich nicht
auf das reine Denken und nicht auf Elemente von Sinneseindrücken
beschränken. Für M. gehörte zur unverkürzten Erfahrung
von vornherein dazu: die Welt und mit ihr die anderen
Menschen und die Kommunikation mit ihnen. Deshalb ist für
M. der Ausgangspunkt seines Fragens nicht der denkende
Mensch mit seinem Bewußtsein, sondern seine inkarnierte, verleiblichte
Existenz, d.h. auch seine soziale Verflochtenheit und
seine geschichtliche Verwurzelung.
Die Unterscheidung von Haben und Sein wird für M. wichtig
. Haben im possesiven Sinn kann ich nur Sachen, Objekte
oder intellektuelle Fähigkeiten. Meine Existenz habe ich nicht,
ich bin sie. Auch habe ich meinen Leib nicht wie ein Auto. Ich
bin meine verleiblichte Existenz. Was ich bin, bin ich nicht notwendig
. Ich muß mich frei entscheiden, ob ich ja sage zu meiner
Existenz, zu meinem Sein, oder nein; ob ich meine Existenz
verrate und verzweifle oder ob ich sie bejahe; ob ich ja
sage zu meiner Situation in der Welt und zu meinem intersubjektiven
Gegenüber. Dem Haben zugeordnet ist der Bereich
des Problematischen, die versachlichende distanzierende Subjekt
-Objekt-Beziehung, die sich alles unterwerfende Rationalität
. Dem Sein zugeordnet ist der Bereich des Metaproblematischen
, des Geheimnisses, der freien Partizipation, die sich in
Treue und Verfügbarkeit äußert. Wir sind aufgerufen, uns durch
antwortende Zustimmung, durch Engagement, in den Bereich
des vollen Seins, der Intersubjektivität hineinnehmen zu lassen
Das ist der Bereich, in dem das Ontologische und das Ethische
noch eine Einheit bilden und nicht gegeneinander ausgespielt
werden können, wo die entscheidenden humanen und religiösen
Wirklichkeiten nicht in den Raum des Vorwissenschaftlichen,
Noch-nichtwissenschaftlichen abgeschoben werden können,
sondern vom Seinsgeheimnis ihren Grund erhalten. So werden
von M. zentrale Begriffe für die philosophische Reflexion zurückgewonnen
: für das Seinsgeheimnis: Gabe, Hoffnung. Verfügbarsein
. Anrufung, Zuflucht; für den antwortenden Menschen
: Glaube, Verantwortung, Wagnis, Sammlung, Zeugnis.
Hingabe, Liebe.
Was hat M. uns heute zu sagen? Vor 25 Jahren war M. in
vieler Munde. Nach den Massenmedien zu urteilen, schein! er
heute vergessen zu sein. Die sind aber höchstens äußerer Anlaß
für wirkliche Kommunikation. M.s Werk hat nichts an Aktualität
eingebüßt. Die Frühzeit der europäischen Geistesgeschichte
war bestimmt von der Reflexion über die Welt der Objekte.
Später „entdeckten" Gottsucher von Augustin bis zu den Reformatoren
die Subjektivität. Im Gefolge von Descartes und Kant
spekulierte man über das Transsubjektive. Heute erkennen wir
die transzendente Bedeutung der Intersubjektivität, des Interpersonalen
, der Verantwortung.
„Schule gemacht" im herkömmlichen Sinn hat M. nicht. Ihm
kam es nach den Worten von Blonde! nicht auf ..gedachtes
Denken", sondern auf „denkendes Denken" an. Er wollte nicht
wie Wissenschaftler Ergebnisse liefern, die jedermann übernehmen
kann, sondern seine Mitmenschen anregen, persönlich
über den Sinn ihres Seins nachzudenken und über den Sinn
ihres Zusammenseins, eine kreative Aufgabe für den einzelnen
und eine konkreative für jede Generation und Gruppe. Allgemeingut
geworden ist M.s Unterscheidung von Haben und
Sein. So beziehen sich E. Fromm und andere ausdrücklich auf
ihn.
Für den Theologen vom Fach dürfte es von Bedeutung sein,
aus dem Munde eines Philosophen zu hören, daß die entscheidenden
humanen und religiösen Fragen nicht von einem distanzierenden
Subjekt-Objekt-Denken aus als „Probleme" behandelt
werden können, sondern nur von einer engagierten, anteilgebenden
und anteilnehmenden Intersubjektivität.