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Ausgabe:

1991

Spalte:

24-26

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Gradwohl, Roland

Titel/Untertitel:

Bibelauslegungen aus jüdischen Quellen 1991

Rezensent:

Hinz, Christoph

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Theologische Lileraturzeitung 116. Jahrgang 1991 Nr. 1

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Fewell, Danna Nolan: Circle of Sovereignty. A Story of Stories in
Daniel 1-6. Sheffield: Almond Press 1988. 207 S. 8* = Journal for
the Study of the Old Testament, Suppl. Series 2. Bible and Litera-
ture Series, 20. Lw. £25.-.

Weniger als exegetischer Beitrag zum Danielbuch denn als anschauliches
Beispiel einer in Amerika modisch werdenden Method ■ von
"close reading" biblischer Texte ist diese Studie zu den Daniellegenden
interessant. Unter "close reading" wird nicht etwa ein
genaueres Beachten des Wortlauts, eine Orientierung an dem, was
dasteht, womöglich im Urtext, begriffen, sondern eine Textbearbeitung
im Sinne des NewCriticism, der von angeblich allgemeingültigen
Regeln der 'narrative poetics' (9) ausgeht und nicht den Autor, sondern
den Leser bzw. "the impact of the work on the reader" zum
Gegenstand literaturwissenschaftlicher Untersuchung macht (15).
Vorausgesetzt wird, daß ein Erzähler seinen Leser in eine "story
world" verweisen will, die Referenz seiner Worte also nicht in der
realen Welt zu suchen sind. Hinzu tritt, daß jede Erzählung absichtlich
unvollständig ist, "gaps in information" enthält, die der Leser
aufTüllen soll. "The text does not produce one meaning . . . The
reader, in fact, in the very act of reading the literary work, helps to
create the text" (160- So ist ein vorgegebener Text nicht mehr als ein
Puzzle, das auf Zusammenfügung wartet; 'close reading' besteht vor
allem im Aufspüren und Ausfüllen solcher Lücken (18). Damit entfällt
die Notwendigkeit strenger exegetischer oder historischer Methoden
: "What I see in the text, the judgements that 1 make, the values
that I elevate, the attitudes that I critique, are as much influenced by
my nationality, race, gender, religious tradition, locality, tcmporality,
and a multitude of experiences resisting simple Classification, as the
are guided by academic agenda" (17). Das bedeutet das faktische Aus
für historisch-kritische Bibelforschung oder jede Art von einer
Allgemeingültigkeit und ökumenische Anerkennung beanspruchenden
Exegese. 'Close reading' heißt also, die eigenen Vorurteile bewußt
in die Exegese einbringen und sie nicht zurückzudrängen, wie es
bisher exegetisches Ideal gewesen ist.

Um den Leseraspekt zu erfassen und die von Texten offengelassenen
Lücken auszufüllen, ist vor allem der Charakter der handelnden
Personen zu rekonstruieren, den gerade biblische Texte mehr andeuten
als schildern. "While, in the past, biblical critics have resisted
discussions of characters' motivations, attitudes, emotions, for fear of
reading too much in the text, now more critics are of the opinion that
economy of characterization invites and encourages such specula-
tion"(22).-

Trotz genereller Verabschiedung der historischen Verstehensprin-
zipien hat Fewell zuviel kritische Sekundärliteratur gelesen, um sich
allzusehr dem subjektiven Lesergefühl anheimzugeben. Einige ihrer
Beobachtungen sind durchaus bedenkenswert. So schon, wenn die
Einleitung erklärt, daß "the principal characters in the Daniel
stories ... are not the Judean sages, but the foreign sovereigns" (10).
Die Bezeichnung Legende ist dafür unangemessen, weil nicht Beispiele
frommen Lebens hervorgekehrt werden, vielmehr: "the most
basic Opposition... is that of divine sovereignty and human
sovereignty" (15). Das 'close reading' erlaubt beneidenswerterweise,
solche gewiß bedenkenswerte Sätze hinzustellen, ohne zu näherer
Auseinandersetzung mit anderen Auffassungen genötigt zu sein.

An den Ausführungen zu Kap. 1, wo die allgemeine kritische Linie
beibehalten wird, und zu Kap. 2, wo diese in besonderer Weise verlassen
wird, läßt sich das kontrastreiche Vorgehen der Vfn. verdeutlichen
. Auch unter historischen Gesichtspunkten trifft zu, daß in
diesem Kapitel nicht von einer pragmatischen Berufserziehung der
deportierten Jünglinge die Rede sein soll, sondern - so F. - von ihrer
Einführung in 'the Babylonian way of life'. Die Speisen von der
Königstafcl legen eine Treuegemeinschaft mit dem Herrscher fest und
sind deshalb anstößig, nicht wegen Verstoßes gegen israelitische Gesetze
(370- - Das Ausfüllen der Erzähllücken von Kap. 2 führt
dagegen weithin auf die Bahn freier dichterischer Erfindung. Die einleitenden
Worte schon über die menschliche Unfähigkeit, gottgesandte
Träume zu erraten, ist 'packed with irony' (56). Daniel
erzählt dann dem König die Wahrheit, aber keineswegs die volle
Wahrheit, die ihm bewußt ist. Er gibt bestimmte Symbolbezüge des
Bildes nicht preis, z. B. den grundsätzlichen Unterschied zwischen
dem kommenden göttlichen Reich und den vorangehenden menschlichen
Herrschaften (59). Daniel minimalisiert absichtlieh Nebu-
kadnezars Schuld. Die Erklärung des Traums ist eine "version of
diplomacy . . . Daniel's private political hopesare more complex than
those he is Willing to express in public" (61). Der Charakter Daniels ist
freilich nicht über Zweifel erhaben, die religiöse Ehrung durch Nebu-
kadnezar hätte er nicht annehmen dürfen (62). - In diesem Stil werden
auch die nachfolgenden Kapitel erläutert. Wo immer der Text einem
kritischen Leser Anstöße bereitet, wird gern auf ironische Absicht des
Verfassers geschlossen (z. B. S. 77, 79,82,84 u. ö.).-

Zustimmung oder Ablehnung einer solchen Exegese hängt an dem
Für oder Wider historischer Methode. Wer dieser anhängt, muß
bezweifeln, daß der Erstschriftsteller der aramäischen Daniclerzäh-
lungen, wo und wann man immer ihn ansetzt, primär seinen 'implied
reader' unterhalten wollte, wie es die Theorie der narrativen Poetik
generell voraussetzt, daß er nur auf eine 'story world', nicht aber auf
eine reale Welt verweisen wollte. Dann aber hat er wohl doch handlungsleitende
Informationen geben wollen und nicht dem Leserkreis
'a myriad variations' (26) zur Wahl gestellt. Der Vfn. ist zu danken,
daß sie die Alternative so klar zum Ausdruck gebracht hat.

Hamburg Klaus Koch

Gradwohl, Roland: Bibelauslegungen aus jüdischen Quellen. 1: Die

alttestamentlichen Predigttexte des 3. Jahrgangs. 253 S. 2: Die alt-
testamentlichen Predigttexte des 4. Jahrgangs. 331 S. 3: Die alt-
testamentlichen Predigttexte des 5. Jahrgangs. 348 S. 4: Die alt-
testamentlichen Predigttexte des 6. Jahrgangs. 336 S. Stuttgart:
Calwer 1986/87/88/89. 8- Kart, je DM 34,-.

1. Die Zahl der jüdischen Stimmen, die uns in theologisch rele> nuten
Veröffentlichungen in deutscher Sprache begegnen, nimmt zu,
eine Bereicherung, die uns zugleich die Pluralität .der Aneignung
jüdischer Lehre und ihrer Darstellungen bewußt macht. R. Gradwohl
tritt in den vorliegenden Bänden mit eigenen Akzenten hinzu. Jakob
J. Petuchowski hatte bereits ein Büchlein angeboten: Wie unsere Meister
die Schrift erklären. Beispielhafte Bibclauslegung aus dem Judentum
, 1982. Doch blieben sie - weil allgemeinverständlich geschrieben
- ohne Bezug auf den hebräischen Text. Gradwohl legt jüdische Auslegungen
der hebräischen Bibel vor, exemplarisch durchgeführt an
den alttestamentlichen Texten der 3.-6. Predigtreihe. Damit richten
sie sich in bisher ungewohnter Weise an Pfarrer, rufen das Wissen um
den ungekündigten Bund mit Israel wach und dessen Konsequenz.
Diese besagt, daß unsere christliche Auslegung des Alten Testaments
neben die jüdische tritt, welche nicht aufgehoben ist. Schon innerhalb
jüdischer Überlieferung bleiben verschiedene Deutungen nebeneinander
stehen. „.Siebzig Gesichter hat die Tora', sagen die Weisen", so
beginnt Bd. 1,10.

2. Roland Gradwohl, geb. 1931 in Basel, Leo Baeck College London
, Rabbiner der jüdischen Gemeinde in Bern 1965-79, lebt seit
1979 in Jerusalem. Er ist Chefkorrespondent des israelischen
Wochenblattes für die Schweiz und steht in manchen Artikeln der
Gruppe Os we Schalom/Netivot Schalom in Israel nahe. Für die
,Anregung' zu vorliegenden Auslegungen dankt er Kirchenrat Hartmut
Metzger, Denkendorf (Bd. 1,10). Auf den von ihm geleiteten
Kursen zur jüdisch-christlichen Begegnung hatte R. Gradwohl seh
Jahren Bibclarbeiten gehalten. Die Auslegungen sind in Jerusalem
gearbeitet (Bd. 4,8), erstaunlich gleichmäßig in der Intensität. Bischof
H. von Keler hat ihnen ein Geleitwort mitgegeben.

3. Die 4 Bände enthalten 81 Auslegungen. Der Pentateuch mit 26
und Jesaja mit 32 Texten haben deutlich das Schwergewicht. Jede
Auslegung besteht aus 4 Abschnitten, die der Bibeltcxt-Übersetzung