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Ausgabe:

1991

Spalte:

188-190

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Lannert, Berthold

Titel/Untertitel:

Die Wiederentdeckung der neutestamentlichen Eschatologie durch Johannes Weiß 1991

Rezensent:

Wiefel, Wolfgang

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Theologische Literaturzeitung 116. Jahrgang 1991 Nr. 3

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läßt sich nun erkennen, was Lk sagen wollte, so daß man nicht, wie
bisher öfter, an Einzelbeobachtungen haftenbleibt, die im lk Denken
eine andere Zuordnung verdienen würden, als es im Einzeltext
erscheint. Es geht um das, was ganze Generationen die „lukanische
Apologetik" genannt haben.

Cassidy untersucht zunächst nicht die Texte, die man für einschlägig
hält. Er fragt erst einmal gründlich und in immer neuen Anläufen
(für Jesus, die erste Gemeinde, Petrus und Paulus), inwiefern die Botschaft
Öffentlichkeitsgewicht hat. Das geschieht z. B. durch Jesu Stellung
zu Armen und Diskriminierten. Das entscheidende Motiv hierfür
ist, nach Lk, nicht der Adressat (219 Anm. 31 allgemein; 60: ob
Paulus Juden oder Griechen vor sich hat), sondern Gott als Auftraggeber
(154 unter Verweis auf Apg4,19f; 5,29). Lk will nicht die
jüdischen Behörden (Kap. 5 zu den opponierenden Gruppen) als dem
Zeugnis besonders feindlich zeichnen; auch die römischen Behörden
werden differenziert (157: the response is mixed) vorgeführt, teils als
Überzeugte, teils als „Neutrale" (93: Paulus profitiert von Gallios
Antisemitismus), teils als Gegner. Die einheitlich romfreundliche
Apologetik des Lk gab es nicht! Hiergegen wendet sich besonders
Kap. 10. Wo Christen als Zeugen auftreten (13: schon Jesus tritt nach
Lk highly critical hervor), erregen sie (38: nach Apg ohne Absicht)
mehr oder minder großen Aufruhr (120 f.; 124; 142: Paulus wirkt als
de facto disturber). Lk vertuscht hier nichts. Er treibt also keine Apologetik
! Er will vielmehr zum Zeugnis Mut machen (160). Hier ordnen
sich gut die lk „taktischen" Züge ein (z. B. Berufung aufs Bürgerrecht),
die häufig an weniger glücklichen Punkten zu beobachten sind. Lk
erinnert seine Leser an Möglichkeiten der Selbstverteidigung und
deren Taktik. Er verschweigt aber nicht, daß gelegentlich alle Mittel
versagen und der Zeuge ähnlich Jesus dem Tod ins Auge sehen muß
(50).

Im ganzen ein guter Anstoß, einmal gründlicher über die Zielsetzung
des lk Doppel werkes nachzudenken.

Borsdorf Gottfried Schille

Kertelge, Karl [Hg.]: Der Prozeß gegen Jesus. Historische Rückfrage
und theologische Deutung. Freiburg-Basel-Wien: Herder 1988.
236 S. 8'=QuaestionesDisputatae, 112. Kart. DM 39,50.

Der Band dokumentiert die Arbeit der Tagung der deutschsprachigen
katholischen Neutestamentier im Frühjahr 1987 in Graz. Sie
befaßte sich mit dem Prozeß gegen Jesus sowohl hinsichtlich der mit
ihm verbundenen historischen Probleme als auch bezüglich der
theologischen Deutungen, die in der neutestamentlichen Überlieferung
der Passionsgeschichte hervortreten.

Beide Fragestellungen behandelt J. Gnilka in dem Eröffnungsbeitrag
(Der Prozeß Jesu nach den Berichten des Markus und Matthäus
mit einer Rekonstruktion des historischen Verlaufs, 11 -40), der die
Prozeßberichte bei Markus (14,53-15,15) und Matthäus
(26,57-27,26) unter literarischen und theologischen Gesichtspunkten
analysiert und daran den Versuch einer historischen Rekonstruktion
des prozessualen Geschehens im Bereich der jüdischen und römischen
Instanzen, das zur Verurteilung Jesu führte, anschließt. Gnilka meint
- wohl zu Recht -, daß ein solcher Versuch, „den Prozeß Jesu historisch
zu greifen, nicht ohne Erfolg unternommen werden kann" (39).
Freilich bleibt das Ergebnis von hypothetischen Erwägungen abhängig
. Als weitgehend gesichert darf freilich gelten, daß die jüdischen
Instanzen im Umfeld des Prozesses Jesu im Regelfall nicht die Macht
hatten, Todesurteile zu vollstrecken. Dieser Frage widmet sich besonders
der interessante Aufsatz von K. Müller (Möglichkeit und Vollzug
jüdischer Kapitalgerichtsbarkeit im Prozeß gegen Jesus von Nazaret,
41-83), der besonders die Situation bezüglich der Vergehen gegen das
Tempelheiligtum hervorhebt, in der die Mitwirkung eines jüdischen
Kapitalgerichts und damit eine Beteiligung des jüdischen Kapitalrechts
an der letztlich entscheidenden römischen Rechtssprechung
zugelassen war. Müller beurteilt von daher die Passionsüberlieferung

und rekonstruiert den historischen Verlauf, ungeachtet seiner eigenen
eingangs geäußerten Warnung vor der historischen Auswertung der
Passionsgeschichten der Evangelien.

I. Broer (Der Prozeß gegen Jesus nach Matthäus, 84-110) interpretiert
, nach bedenkenswerten methodischen Überlegungen zum
Gegenstand, die matthäische Passionsgeschichte, die weniger unter
historischer als vielmehr unter theologischer Perspektive gelesen sein
will. Mit der lukanischen Passionsdarstellung befassen sich die Arbeiten
von G. Schneider (Das Verfahren gegen Jesus in der Sicht des dritten
Evangeliums [Lk 22,54-23,25]. Redaktionskritik und historische
Rückfrage, 111-130) und W.Radi (Sonderüberlieferungen bei
Lukas? Traditionsgeschichtliche Fragen zu Lk22,67f; 23,2 und
23,6-12,131-147). Entgegen früheren Ergebnissen rechnet Schneider
nicht mehr mit umfassenderer Sondertradition bei Lukas für die Passionsgeschichte
, er findet sie nur noch in 23,2 und 23,6-16; „im ganzen
zeigt sich, daß Lukas als .Historiker* arbeitet, daß er rekonstruiert
und plausibel erzählen will" (128). Radi verschärft das Ergebnis von
Schneider noch dadurch, daß er auch für Lk 23,6-12 allein Lukas als
Urheber aufweist und damit in die von M. Dibelius gewiesenen
Bahnen zurücklenkt; in der Beurteilung des Lukas setzt er daher etwas
andere Akzente als Schneider: „Er schreibt weder als Historiker noch
als Jurist, sondern als Theologe" (147). Mir bleibt fraglich, ob durch
die Einbeziehung der Passionstradition bei Johannes (und durch die
gebührende Beachtung, daß Matthäus neben Markus kein selbständiger
Zeuge für die Passionsgeschichte ist) nicht doch sich bei Lukas eine
von Markus unabhängige Passionstradition reflektiert.

J. Blank (Die Johannespassion, Intention und Hintergründe,
148-182) wertet die johanneische Passionsgeschichte als ein Zeugnis
christlicher Passa-Haggada, die in der Linie der „Quartadezimaner"
liegt. Der Aufsatz ist ein schönes Zeugnis der geistlich engagierten
exegetischen Arbeit des verstorbenen katholischen Theologen. Das
kurze „Plädoyer für Methodentreue" (183-190) von H.Ritt legt
„Thesen zur Topographie und Chronologie der Johannespassion"
vor, die in dieser Form kaum wesentlich weiterführen. Den Abschluß
des Bandes bilden „Überlegungen zu Anstößen aus der .pragmatischen
' Sprachwissenschaft für die exegetischen Methoden", die
F. Lentzen-Deis unter dem Titel „Passionsbericht als Handlungsmodell
?" (191-232) vorlegt. Der Beitrag erhebt nicht den Anspruch,
grundstürzend Neues vorzutragen, nähert aber sichtlich die traditionelle
Exegese an den Prozeß gegenwartsbezogener theologischer
Reflexion an. Lentzen-Deis analysiert näherhin die beiden Texte
Mk 14,1-11 und 15,55-64 und stellt ihren pragmatischen Bezug auf
die Gemeinde Jesu, die ekklesiologische Bedeutung, die ihnen eignet,
heraus.

Der Band führt in wichtige Aspekte der Passionstradition und ihrer
theologischen und historischen Bewertung ein und vermittelt gewichtige
Einsichten und Anregungen. Daß damit die Diskussion zum
Abschluß gebracht wäre, wird niemand erwarten.

Halle (Saale) Traugott Holtz

Lannert, Berthold: Die Wiederentdeckung der neutestamentlichen
Eschatologie durch Johannes Weiß. Tübingen: Francke 1989. XIII,
304 S., 1 Taf. 8' = Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen
■Zeitalter, 2. Kart. DM 68,-.

Die vorliegende Arbeit, die erste Spezialmonographie über Johannes
Weiß (1863-1914) gehört zu den Büchern, die teils weniger, teils
mehr bieten, als der Titel erwarten läßt. Es handelt sich nicht um eine
wissenschaftliche Biographie des großen Neutestamentiers und Lehrers
von Rudolf Bultmann am Leitfaden des für ihn zentralen Themas
der Eschatologie; die Tiefenforschung konzentriert sich auf den Weg,
der zum bedeutendsten seiner Werke, der „Predigt Jesu vom Reiche
Gottes" (1892) führt und von ihm ausgeht. Andererseits wird ein eindrucksvolles
Panorama der theologiehistorischen, geistesgeschichtlichen
und soziopolitischen Rahmenbedingungen geboten, die für das