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Ausgabe:

1988

Spalte:

834-835

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Wengert, Timothy J.

Titel/Untertitel:

Philip Melanchthon's "Annotationes in Johannem" in relation to its predecessors and contemporaries 1988

Rezensent:

Wetzel, Richard

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Theologische Literaturzeitung 113. Jahrgang 1988 Nr. 11

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Kirehengcsehiehte Rulins, in der Luther die kirchenrechtlichen
Beschlüsse des Konzils von Nicäa fand, um sie in der Leipziger Disputation
gegen Eck zu benützen. Im Allgemeinen vermeidet es der Vf.,
historiographische Entscheidungen zu treffen, die vom Hauptpfad
der Lutherforschung abweichen. Die Diskussion über Luthers
Geburtsjahr (1483 oder 1484) wird zwar erwähnt, aber die Gründe für
1483 werden nicht referiert. Der Streit um das Datum des Thesenanschlags
von 1517. allgemein auf den 31. Oktober datiert, wird im
Zusammenhang einer Quellenanalyse erläutert, aber nicht entschieden
(„höchstwahrscheinlich in jenen Tagen"). Luthers Antwort vor
Kaiser und Reich in Worms wird zitiert, ohne auf die Frage einzugehen
, ob Luther vielleicht doch auch gesagt hätte: „Hier stehe ich.
ich kann nicht anders."

-Die Ansätze der Theologie Luthers werden vom Vf. gut herausgearbeitet
, besonders der Ansatz der Rechtfertigungslehrc im biblischen
Begriff der iustitia Dei im Zusammenhang mit der Frage, wann es zur
reformatorischen Entdeckung kam. Der Vf. neigt zur Annahme, daß
sie 1518 erfolgt sei und weist darauf hin, daß Luthers Äußerungen von
1545 über ein bestimmtes Ereignis berichten, das innerhalb eines religiösen
Erfahrungsprozesses gesehen werden müßte. Zu diesem Erfahrungsprozeß
gehöre auch Luthers Kampf gegen die spätfranziskanische
(ockhamistische) Sünden- und Gnadcnlehre. Das Resultat
wäre das populäre theologische Programm mit „Paulus und Augustin
gegen die Scholastik". Der Vf. zeigt, wie die Konturen der relörmato-
rischen Theologie in diesem Programm sichtbar werden, besonders in
den Schriften von 1520. und er kommt zu dem Schluß, daß in Luthers
Rechtfertigungsichre das Heil den Charakter der Freiheit gewinnt.

Neuralgische Fragen der Lutherforschung werden vom Vf. so objektiv
wie möglich vom Gesichtspunkt Luthers aus geschildert. Nach
Luther sondern sich die Bauern von der allgemeinen Rechtsgemeinschaft
ab und werden daher zu Aufrührern. Daß die damalige Rechtsordnung
die Bauern unterdrückte, wird nicht in Rechnung gezogen,
obwohl der Vf. einräumt, daß Luther sehr subjektive Eindrücke während
seiner Reise durch das Aufstandsgebiet sammelte. Es käme
darauf an, wie weit die politisch-rechtlichen Argumentationsmöglichkeiten
damals reichten. Natürlich könnte man auch die Frage erörtern
, warum Luther gegen die rechtlichen Grundlagen der Kirche
polemisierte, aber nicht gegen eine feudalistische Rechtsordnung, die
nicht auf die Schwachen Rücksicht nahm. In diesem Zusammenhang
hätte der Vf. auch kritischer mit Luthers sogenannter Zwei-Reiche-
Lchrc umgehen können.

Eine der neuralgischsten Fragen der Lutherforschung ist Luthers
Auseinandersetzung mit dem Judentum, vom Vf. im letzten Kapitel
behandelt. Im kritischen Teil dieser Darstellung sieht der Vf. Luther
in einer Fragestellung verhaftet, die zwischen einer Vorstellung des
rabbinisch-talmudischen Judentums als Institution und als jüdischpharisäische
Religiosität unterscheidet. Es sei jedoch fraglich, ob
Luther, auf Grund der damaligen Erkenntnisbedingungen, genaue
religionsgeschichtliche Urteile hätte treffen können. Es ist aber einfacher
, und auch historisch-theologisch genauer, Luthers Schlußfolgerung
zu beachten, die die Grundlage für seinen Judenhaß bildet:
Gott habe dem Volk Israel jene Institutionen genommen, deren
Bestand er bis zum Kommen des Messias zugesagt hätte (Tempel.
Priestertum, Land etc.). Das sei ein Zeichen, daß Gott die Juden verstoßen
habe, der Hauptgrund, warum Christen dies auch tun müßten.
Diese Schlußfolgerung verletzt das Grundprinzip der Theologie
Luthers, daß man das Werk des Deus revelatus nicht mit dem Werk
des Deus absconditus spekulativ verbinden dürfte. Wie Luther es
Erasmus erklärte: quod supra nos, nihil ad nos. Nach Luther wäre es
daher richtiger, nicht zu erklären, warum die Juden sich nicht bekehren
, als zu folgern, daß sie es nicht tun, weil Gott es so bestimmt habe.
Der Vf. erläutert zwar, wie und warum Luther argumentierte (in dem
„Brief wider die Sabbater", 1538). Aber er beurteilt ihn als Religions-
geschichtler und nicht als einen Theologen, der versucht, über seinen
eigenen Schatten zu springen. Im Hinblick auf moderne Probleme
zwischen Juden und Christen müßte eine deutsche Lutherbiographic

r

zumindest die Frage stellen, ob Luther sich nicht doch theologisch
geirrt hätte.

Diese kritischen Bemerkungen über die vom Vf. behandelten Probleme
der Lutherbiographie beabsichtigen nicht, den Wert dieses
Buches zu beanstanden. Wer es versucht hat, eine im Rahmen der
Lutherforschung ausgewogene Lutherbiographie zu schreiben, weiß,
wie gewagt ein solches Unternehmen ist. Der Vf. hat einen guten Wurf
getan. Sein Buch ist ein gediegener Wegweiser im Irrgarten der
Lutherforschung.

Gettysburg Eric W. Gritsch

Wengcrt, Timothy J.: Philip Mclanchthon's Annotationes in Johan-
nem in Relation to its Predecessors and Contemporaries. Genf:
Droz 1987.281 S. 4' = Travaux d'Humanisme et Renaissance, 220.

Nach Vorüberlegungen (Kap. I) über den sachgemäßen Zugang zu
exegetischer Literatur und über das Genus litterarium .Kommentar'
weist W. (Kap. 2) M.s Johannes-Kommentar seinen .Sitz im Leben'
der vom Reformeifer gepackten Universität Wittenberg zu. Äußerungen
von Witlenbcrger Kollegen in Vorreden und Briefen, bes. Luthers,
aber auch Oekolampads in Basel, verdichten sich in W.s Augen zu
dem - realisierten - Plan eines kurzgefaßten theologischen .Wittenberger
Kommentars zum NT'.

Die folgenden drei Kap. untersuchen die Beziehung von M.s Johannes
-Kommentar zur exegetischen Tradition der Alten Kirche
(Kap. 3) und des Mittelalters (Kap. 4) sowie zu Arbeiten anderer
Humanisten (Kap. 5). W. geht in der Ermittlung der nachweisbar
benutzten Kirchenväter sehr behutsam zu Werke: Da M. von den
Griechen (Kap. 3), im Unterschied zu Nonnos (Paraphrase) und Cyrill
v. Alexandrien, den Chrysostomus nie beim Namen nennt, sichert
W. den Zugang zu ihm über den Chrysostomus-gesättigten .Bulgaren'
Theophylakt. der M. damals beschäftigt (650- Ebenso umsichtig ist
die mühevolle Sichtung der zahlreichen philologischen und theologischen
Parallelen auf solche Stellen hin, an denen jenseits aller Zufälligkeit
positive oder negative Aufnahme sicher ist. Zu Cyrill siehe bes.
68, zu Chrysostomus/Thcophylakt bes. 71, zur Allegorese 72f.
Hauptpunkte des Disscnses: Lumen naturale (Joh 1.9). Willensfreiheit
(Joh 6.44) und Rechtfertigung aus dem Glauben allein (Joh 5.24).
- Bei den lateinischen Vätern Hilarius und Augustin führt die Suche
nach Tradenten auf Thomas von Aquin (77) bzw. Luther (78); Augustin
wird im übrigen direkt, breit und auf allen Ebenen - Philologie,
Hermeneutik, Theologie - rezipiert, siehe bes. Wort und Sakrament
8lf, Allegorese 86f, Grundkonsens 88IT. Signifikant ist das Fehlen
jeglicher Bemühung um Evangelienharmonic und der soteriologische
Akzent auf Christologie und Trinitätslehre.

Konnte W. in der Patristik Pierre Fraenkcl („Testimonia Patrum".
1961) folgen, so betritt er Neuland mit der Analyse der Beziehung von
M.s Johannes-Kommentar zur exegetischen Tradition des Mittelalters
(Kap. 4). Der verdichtete und fast anonyme Charakter der mittelalterlichen
exegetischen Tradition, die außerdem dieselben Quellen
benützt, die M. direkt zur Verlügung standen, veranlaßt W. zu
äußerst vorsichtigem Umgang mit Namen. Zählten allein die Parallelen
und wäre nicht M.s völliges Stillschweigen, dann wäre Thomas v.

uin als eine Hauptquelle M.s unabweisbar, denn nicht nur unter
den anderen damals gedruckt zugänglichen mittelalterlichen Autoren
(Hugo v. St. Cher, Albert d. Gr. und Nikolaus v. Lyra), steht er an der
Spitze, sondern unter allen untersuchten Exegeten. auch den patristi-
schen und humanistischen. Wichtigste „mittelalterliche" Entdeckungen
bei M. sind: philologiseh/hermeneutisch die Techniken der
Quaestio (99ff, bes. 102), der Definitio (1030 und - eng zusammenhängend
- des Querverweises (104IT), sogar der Divisio (I07ff); theologisch
: die Allegorese (Allegorie des Lammes I lOff), die (tropologi-
sche) Typologie (I 12f), die Unterscheidung von Littera und Spiritus
(bes. 1 14). Sakramentale und priesterlich-hierarchische Beziige, inklusive
Petrus-Amt, übergeht M. oder weist sie ab.

Gering ist die Zahl der Berührungspunkte zwischen M. und Eras-