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Ausgabe:

1987

Spalte:

909-911

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Ericksen, Robert P.

Titel/Untertitel:

Theologen unter Hitler 1987

Rezensent:

Meier, Kurt

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Theologische Literaturzeitung 112. Jahrgang 1987 Nr. 12

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als die Säkularreligion des 19. Jh. zog sie wie die anderen Freikirchler
wenig in seinen Bann; und wenn der Nationalismus gar mit einem
Schuß Preußentum einherkam (wie 1866 geschehen), dann begehrten
sie auf. Ob man selber noch die bisherige Heimat wolle und ob die
vielen anderen einem noch das Heimatrecht unbestritten ließen, das
war nie ganz sicher. Deshalb war es wichtig, Verbindung zu halten zu
jenen, die eine neue Heimat suchten oder gefunden hatten, diesen fernen
Brüdern zu helfen oder von ihnen Hilfe zu erhalten. Sowieso war
auf die Verfassung der Gesellschaft immer weniger Verlaß. Auch die
Alt- und Freilutheraner erleben die sozialen Umbrüche und Notstände
als Anstöße zu ihrer Entstehung und Entfaltung. Zumindest im
Nebeneffekt geht von ihnen auch Sozialhilfe aus. Ohne daß das in
Herrmanns Untersuchung eigens thematisiert würde, klingt es doch
deutlich an.

Die Alt- und Freilutheraner sind immer auch „erweckt" gewesen
und scheuten sich nicht, in einem von ihnen als lau empfundenen religiösen
Klima ihren Glauben zu bekennen und die von ihnen erfahrene
Meidung mit Meidung zu erwidern. Aber nachdem einmal die Bekenntnisfrage
gestellt worden war und nachdem die Fragenden gemeint
hatten, sie nur durch Trennung beantworten zu können,
meldete sich auch sofort wieder die Aufgabe, in Lehre und Leben, in
Bekenntnis und kirchlichem Alltag Bandbreiten zu ermöglichen und
zu erhalten. Gerade die auf verpflichtete Gemeinschaft besonders angewiesenen
kleineren Kirchen gehen schon in ihren Anfängen durch
schwerste Zerreißproben. Es wollte und will gelernt sein, daß sogar
noch die Gemeinde und der Bruder bzw. die Schwester, denen man
dieselbe Bekenntnistreue zubilligt wie sich selber, eine andere Gemeinde
, ein anderer Bruder, eine andere Schwester sind und bleiben.
Aus diesem Lernvorgang sind auch die Alt- und Freilutheraner noch
bis heute nicht entlassen. Das zeigen nicht zuletzt die Verhältnisse in
der Deutschen Demokratischen Republik, wo der Vf. zu Hause ist.

An der vorliegenden Buchveröffentlichung ist noch zu würdigen,
daß sie aufs sauberste besorgt ist (zwei, drei entdeckte Druckfehler hier
zu nennen, käme einer Beleidigung gleich!). In den 150 Seiten „Anmerkungen
" steckt unsäglich viel Kleinarbeit in höchster Sorgfalt.
Das „Literatur-Verzeichnis" ist eine wahre Fundgrube. Daß ein
solches Werk ein Sachregister hat, ist dankenswert; daß es ein Ortsregister
enthält, ist schon nicht selbstverständlich; aber es bietet
darüber hinaus im Personenregister noch an die 470 Kürzestbiographien
. Respekt!

Bensheim HeincrGrote

Ericksen. Robert P.: Theologen unter Hitler. Das Bündnis zwischen
evangelischer Dogmatik und Nationalsozialismus. Aus dem
Amerik. von A. Lösch. München-Wien: Hanser 1986. 343 S. 8*.
geb. DM 48.-.

Schon durch kleinere Studien zur protestantischen Kirchen-
geschichtc unter dem Nationalsozialismus hervorgetreten, legt der
Autor einem komparativistischen Entwurf des theologisch-politischen
Einstellungsvcrhaltcns dreier profilierter Universitätstheologen
aus der Zeit des Dritten Reiches vor: Gerhard Kittel (1888-1948),
Paul Althaus (1888-1966) und Emanuel Hirsch (1888-1972). Die in
zupackendem Erzähl- und Erörterungsstil geschriebene Monographie
, deren deutsche Ubersetzung mancher Begriffe Anfragen zuläßt,
bietet zunächst einen gewissen Orientierungsüberblick vom 19. Jh.
her. der aus der theologiegcschichtlich-bibelwissenschaftlichen Literatur
gewonnen und für amerikanische Leser bestimmt ist. Die gesellschaftliche
Krisensituation in Deutschland nach dem ersten Weltkrieg
, ein politisches und kulturelles Destabilisicrungsphänomen
auch für kirchliches Bewußtsein, wird auf den Hintergrund der Krise
der Moderne seit dem Beginn des 20. Jh. aufgezeichnet. Eine
Wendung zum Irrationalismus in der evangelischen Theologie wollte
die Vertrauenskrise gegenüber der Tragfähigkeit von Vernunft und

Fortschritt unterlaufen (26). Ericksen betont und belegt auch exemplarisch
, daß direkte Ableitung politischer Entscheidungen von der
Theologie bzw. von einer bestimmten theologischen Position (etwa
der des Luthertums) als undifferenziert und gewaltsam gelten muß
(440- Vielmehr spielen dabei biographische und lebensweltliche Probleme
eine nicht zu unterschätzende Rolle, die der Vf. allerdings nicht
immer wirklich ausgeglichen mit der pointiert dargebotenen analytischen
Skizze theologischer Sachverhalte präsentiert, die bei den drei
exemplarisch und damit für die Theologieszenerie im Dritten Reich
nicht repräsentativ genug herangezogenen Theologen eine Rolle
spielen.

Neben der Erörterung der Denkstrukturen und des Arbeitsprofils
der drei behandelten Universitätstheologen, vorrangig auf entsprechendes
Schrifttum aus der NS-Zeit bezogen, finden sich öfters auch
kulpatorische Erwägungen, gelegentlich inquisitorisch akzentuiert
und simplifizierend artikuliert (Kittel „war kein böser Mensch, er vertrat
nur eine böse Idee"; ob es rechtens war, ihn „1945 anzuklagen, zu
verurteilen und einzusperren", gilt als fraglich [51]).

Etwas advokatenhaft wirkende Erwägungen inmitten der zeitgeschichtlichen
Sacherörterung muß der Leser öfters in Kauf nehmen,
ebenso die gelegentliche Drastik der Beurteilung. Andererseits fehlen
auch Ambivalenzen und Widersprüche nicht ganz, nicht nur bei den
behandelten Theologen. So fällt die unausgeglichene Charakterisierung
der Bekennenden Kirche hinsichtlich ihrer politischen Bedeutung
auf (vgl. 740- G. Kittel, dem schon Leonore Siegele-Wensch-
kewitz eindringende Studien gewidmet hatte, die auch Kontroverse
Diskussionen auslösten, wird vornehmlich im Blick auf seine Beurteilung
des Judentums vor und nach 1933 ausgiebig analysiert, wobei
besonders sein Mitwirken in Walter Franks Reichsinstitut für die Geschichte
des neuen Deutschlands, Abt. Judenfrage, gravierend ins Gewicht
fallt (72). Kittel hatte 1933 publizistisch für den Gastzustand
der Juden in Deutschland plädiert, also eine Art rechtseinschränkende
Apartheidsforderung erhoben, die antiemanzipatorisch motiviert
war und voraufklärerische biblisch-metahistorische Begründungszusammenhänge
einschloß (Übertragung heilsgeschichtlicher
Verwerfungskategorien auf die Ebene des Politischen). Die völlig
konträren Beurteilungen im Blick auf Kittels Forschungen und Publikationen
im Dritten Reich nach 1945 zeigen das breite mögliche
Beurteilungsspektrum in der Schuldfrage (105 ff). Aber die Beteiligung
an Forschungsinstitutionen des NS-Regimes hat nicht lediglich korrigierende
wissenschaftliche Einflußnahme auf den rassentheoretischen
und -propagandistischen Trend, wie sie Kittel offenbar vorschwebte,
zur Folge gehabt, sondern naturgemäß auch starke Inklinationen zu
objektiver Unterstützung der NS-Judenpolitik, selbst wenn natürlich
den beteiligten Theologen Konsequenzen physischer Liquidierung
völlig fernlagen.

Althaus, dessen positive Würdigung der „deutschen Wende" des
Jahres 1933 „rein volksmissionarisch" (146) begründet gesehen wird,
habe zwar keine grundlegenden theologischen Erkenntnisse dem
Nationalsozialismus geopfert; doch habe seine „christliche, moralische
Aversion gegen Urbanen Säkularismus und linke Politik mit
einer Affinität zu neokonservativen Vorstellungen" (163) im Sinne
seiner „Theologie der Ordnungen" zumindest bis 1937 mit dem NS-
Regime sympathisiert, ohne daß er als „typischer Vermittler" seine
wachsende Ernüchterung und Abgrenzung deutlich genug auszudrücken
vermochte (164). Seine Theologie enthalte „kein wirklich
unakzeptierbares Element", aber im Nachhinein zeige es sich, daß
seine „Schöpfungstheologie" paternalistische und autoritäre Züge des
Nationalsozialismus hätte bestätigen können (166).

Kap. 4 („Der Nazi-Intellektuelle") stellt Emanuel Hirsch dar. Er
gilt als eine „Hauptfigur in der deutschen Theologie des 20. Jahrhunderts
" (170) und stand in dem Ruf, „der vielleicht größte deutsche
Theologe" zu sein (240). Auf seine Bedeutung auch als Lutherforscher
und Kierkegaard-Experte wird hingewiesen. Seine existentielle
Verarbeitung der Moderne als Umformungskrise auch des