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Ausgabe:

1987

Spalte:

849-850

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Müller, Wunibald

Titel/Untertitel:

Homosexualität - eine Herausforderung für Theologie und Seelsorge 1987

Rezensent:

Haustein, Manfred

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Seite 1

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849

Theologische Literaturzeitung 112. Jahrgang 1987 Nr. 11

850

Müller, Wunibald: Homosexualität, eine Herausforderung für Theologie
und Seelsorge. Mit einem Vorwort von H. Pompey. Mainz:
Grünewald 1986. 240 S. 8". Kart. DM 32-

Das Buch ist die gekürzte Darstellung einer Arbeit, die im Jahre
1984 vom Theologischen Fachbereich der Julius-Maximilians-Universität
Würzburg als Dissertation angenommen wurde. Ein besonderer
Wert der Veröffentlichung besteht darin, daß sie „den augenblicklichen
Forschungsstand und die aktuelle Diskussion zum Thema
Homosexualität, wie sie in Psychologie, Theologie und in den Kirchen
der USA vorzufinden sind, dem deutschsprachigen Raum" zuganglich
macht. Auch der Forschungsstand der Psychiatrie und Soziologie
sowie die organisierten Selbsthilfeaktivitäten Homosexueller
Werden angemessen einbezogen. In gewisser Weise ist diese dankenswerte
profunde Vcrmittlungsleistung jener von Dietrich Stollberg hinsichtlich
der amerikanischen Seelsorgcbcwegung vergleichbar, welche
dieser 1969 mit seinem Buch „Therapeutische Seelsorge" erbracht
hat. Die Arbeit berücksichtigt darüber hinaus die Forschungssituation
und gesellschaftlich-kirchliche Diskussionslage innerhalb der BRD
und in England. Der Autor vermittelt jedoch nicht nur vielfältig theoretische
Fakten, Daten, Erkenntnisse und theologische und institutionell
-kirchliche Stellungnahmen. Die Veröffentlichung ist spürbar
unterlegt und getragen von existentiellem Engagement, einer starken
glaubensmäßig bestimmten Partizipation an den Bedrängnissen und
Konflikten Homosexueller und reichen praktischen Erfahrungen,
ohne daß dadurch eine Verzerrung ins Subjektivistische im Sinne
einer emotionalisierten Kampf- und Anklageschrift erfolgt. Diese Erfahrungen
beruhen auf „unzähligen Gesprächen", die Müller, selbst
kein Homosexueller, bei Veranstaltungen der Arbeitsgemeinschaft
••Homosexuelle und Kirche5' in der BRD, während eines fast dreijährigen
Aufenthaltes in Berkeley/CA und in der Beratung mit homosexuellen
Frauen und Männern geführt hat.

Die Arbeit ist gegliedert in drei thematische Komplexe: Erster Teil
~ Ergebnisse und Auswertungen der wissenschaftlichen Homosexualitätsforschung
(S. 19-59). Zweiter Teil - Theologische Grundlagen
und pastoraltheologische und -psychologische Perspektiven für die
Pastorale Praxis mit homosexuellen Menschen (S. 60-125). Dritter
Teil - Spezielle Bereiche der Seelsorge und Beratung für homosexuelle
Menschen (S. 126-219). Die Anlage geht somit von der Homosexualitätsforschung
sowie theologischen und pastoralpsychologischen
Grundüberlcgungen aus, auf denen die detaillierten seelsorgeprak-
tischen Erwägungen und Anregungen des umfänglichen 3. Teils auflohen
.

Speziell inhaltlich kann über die drei Themenkomplexe lediglich
auswahlhaft-selcktiv berichtet werden. Im Ersten Teil wird u. a. die
Entwicklung in der Wertung der Homosexualität von der Kriminalisierung
zur Pathologisierung mit einer Konjunktur der unterschiedlichen
Therapiebemühungen und schließlich zur Akzeptierung als
einer vorfindlichen Lebensvariante, wobei es um die weitestgehende
Ermöglichung werthafter Gestaltung geht, dargestellt. Einen relativ
breiten Raum nimmt das Referat über versuchte therapeutische Behandlungen
homosexueller Menschen (medizinische, psychoanalytische
, verhaltenstherapeutische, weitere psychodynamische und kombinierte
Verfahren) ein, das begründetermaßen mit einer eher negativen
Auswertung „Zur Frage der Verwandlung" schließt. Der Zweite
Teil gliedert die theologischen Stellungnahmen zur Homosexualität
in drei Modelle: Modell I - nein zu homosexueller Orientierung und
Verhalten. Modell II - ja zu homosexueller Orientierung, nein zu
homosexuellem Verhalten. Modell III - ja zu homosexueller Orientierung
und homosexuellem Verhalten im Kontext personaler Beziehungen
. Im Dritten Teil behandelt der Autor spezielle Probleme und
Aufgaben der Scelsorge und Beratung, so u. a. die Beziehungsfähigkeit
Homosexueller (stabile Beziehungen), die Situation heterosexuell verheirateter
homosexueller Männer und Frauen, Homosexualität und
Alter. Schwierigkeiten von und pastorale Hilfen für Priester(n), Pastoren
/innen und Ordcnsmitglicdcr(n). die homosexuell sind.

Müller schreibt als Katholik, wobei er unter Berücksichtigung lehramtlich
gesetzter Grenzen die „progressiven" Positionen besonders
akzentuiert, überhaupt bis zum Äußersten geht und auch Überlegungen
wagt, die auf eine weitere Öffnung tendieren. Zugleich wirbt er um
Verständnis für die langfristigen Entwicklungsprozesse seiner Kirche,
hebt die bereits deutlichen Veränderungen betont hervor und bringt
sich ein als Mittler zwischen Kirche und Homosexuellen. Gleichsam
zwischen den Zeilen, wenn auch aus Gründen der Räson nicht expres-
sis verbis, ist seine Neigung zu Modell III durchaus deutlich. Sofern
die gegenwärtigen lehramtlichen Vorgaben diese?Modell jedoch ausschließen
, bleibt dem Autor praktisch lediglich der Hinweis auf den
sog. Gradualismus, der unter dem Gesichtspunkt weiträumiger Entwicklung
zur Vollkommenheit (im Falle Homosexualität die praktische
Abstinenz, eine zölibatere Laienexistenz) homosexuelle Aktivitäten
zwar grundsätzlich ethisch negiert, jedoch pragmatisch recht
verständnisvoll behandelt. Mag sich im Gradualismus auch überkommene
kirchliche Erfahrung und Weisheit niederschlagen, erscheint er
dem evangelischen Rez. dennoch praktisch-seelsorgerlich nicht vertretbar
, weil er den Homosexuellen letztlich in der Ambivalenz im
Grundwiderspruch und in der Zerrissenheit beläßt und die fundamentale
Selbstakzeptierung äußerst erschwert bzw. unmöglich macht. Die
Arbeit ist geprägt von ökumenischer Weite und referiert keineswegs
lediglich die römisch-katholischen Positionen. Heinrich Pompey.
Lehrstuhlinhaber für Praktische Theologie an der Katholisch-
Theologischen Fakultät Würzburg, einer der profilierten Pastoralpsychologen
des katholischen Bereichs, hat als Förderer der Arbeit ein
wohlbedachtes, abgewogenes Vorwort beigesteuert, das die Leistung
Müllers als einen engagierten Brückendienst zwischen Kirche und
Homosexuellen würdigt, jedoch auch, gleichsam kompensatorisch,
einige konservative Akzente setzt.

Wunibald Müllers Buch wird in der neueren deutschsprachigen
Homosexualitätsliteratur mit Sicherheit verdientermaßen einen vorderen
, geachteten Platz einnehmen.

Leipzig Manfred Haustein

Kirchenrecht

Achilles, Wilhelm-Albrecht: Die Aufsicht über die kirchlichen Stiftungen
der evangelischen Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland
. Tübingen: Mohr 1986. XIV, 312 S. gr. 8" = Jus Ecclesiasti-
cum,21. Lw. DM 74,-.

Im Recht der kirchlichen Stiftungen überschneiden sich in einer besonders
interessanten Weise staatliches und kirchliches Recht. Bei
Erlaß der neueren Stiftungsgesetze in den 60er und 70er Jahren ist die
hierin liegende Problematik wohl kaum je voll ausgelotet worden. Vf.
spricht mit Recht von Niemandsland (S. 131). Vielmehr sind pragmatische
Lösungen angesteuert worden. In einer methodisch wohl wenig
reflektierten Weise ist das Recht der kirchlichen Stiftungen aus
bewährten, überkommenen Elementen und aus neuen verfassungsrechtlichen
Strukturprinzipien zusammengefügt worden. So ist dieses
Rechtsgebiet ein faszinierender Gegenstand für eine eindringende
staatskirchenrechtliche Untersuchung.

Vf. beginnt nicht - wie man bei einem solchen Thema erwartet -
mit einem Rückblick in die Geschichte des kirchlichen Stiftungswesens
. Insoweit kann er sich auf das unübertreffliche Handbuch von
Liermann (Handbuch des Stiftungsrechts. I. Band. Geschichte des
Stiftungsrechts, Tübingen 1963) beziehen. Statt dessen wählt er den
Einstieg bei den Fakten. Er gibt einen Eindruck von Bestand und
Bedeutung kirchlicher Stiftungen. Die Verhältnisse sind insoweit
regional sehr unterschiedlich. Aber im Ganzen überschätzt Vf. vielleicht
die Bedeutung des kirchlichen Stiftungswesens etwas. Die
größte westdeutsche Landeskirche, die hannoversche, betreut lediglich
knapp 30 rechtsfähige Stiftungen, von denen zudem nicht wenige
bis zur Bedeutungslosigkeit verarmt, andere allerdings auch sehr