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Ausgabe:

1987

Spalte:

48-50

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Höfer, Liselotte

Titel/Untertitel:

Otto Karrer 1987

Rezensent:

Sonntag, Franz Peter

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Theologische Literaturzeitung 112. Jahrgang 1987 Nr. I

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Problemen der Christenheit in anderen Kulturen und Kontinenten zu
konfrontieren" (43). Doch fehlt Amerika nicht ganz (vgl. Martin
Luther King; Reinhold Niebuhr; Probleme Indiens sind durch Mutter
Teresa präsent). Der wirkungsgeschichtliche Aspekt erlaubt elastisch
periodisierende Rückgriffe auf Personen, deren Lebenszeit oder
Schaffensperiode ganz oder teilweise vor dem Ersten Weltkrieg
liegt.

Die redaktionellen Standards entsprechen leserfreundlich der Zielgruppe
des Gesamtwerkes. Plastisch-anschaulicher Gestaltungsweise
verpflichtet, tragen die Einzelbeiträge naturgemäß eine unterschiedliche
historiographische Handschrift. Das kommt aber der Varietät
und Larhigkeit des Gesamtbildes zugute, das sich im Vollzug der Lektüre
dem Leser zu einem Mosaik zusammenfügt. Die Autoren haben
in der Regel schon thematisch einschlägig gearbeitet. Manche Beiträge
lassen daher auch EorschungsdilVerenzen transparent werden. Natürlich
unterscheidet sich die Aussagcrelevanz der Einzelbeiträge nach
ihrem Kontextbezug. Auch die Geschichtsrepräsentanz der prosopo-
graphischen Objekte ist unterschiedlich. Insofern ist jede Auswahl ein
Wagnis. Warum bei den Theologen Althaus, Eiert, Gogarten und
Hirsch fehlen, mag man ebenso fragen, wie man vielleicht Bischof
Wurm vermißt, wenn man Otto Dibelius behandelt sieht. Uber den
problematischen Begrenzungs/uang legt sich der Hg. selbst Rechenschaft
ab (43).

Zur Charakterisierung der Epoche hat M. Greschat in Band III
(= Band 10.1 der Reihe) eine längere Einleitung vorausgeschickt (Die
neueste Zeit: vom Ersten Wellkrieg bis zur Gegenwart; 7-44). Er
spricht von ..unverkennbarer Ernüchterung" im Blick auf Ideologien,
verweist auch auf ..unübersehbare Hochschätzung und teilweise sogar
Neuentdeckung der Dimension des Religiösen - bis hin zu einer weitgefächerten
sozialen, ökologischen und politischen Friedensbewegung
", übersieht aber keineswegs ..die andauernde Mächtigkeit vielfältiger
Kräfte und Tendenzen, die diesen Zielsetzungen nach wie vor
massiv entgegenwirken" (7). Eine ..epochale Weende" wird insofern
konstatiert, als christentumsgeschichtlich eine Extension der christlichen
Religion in Bereichen der ..Dritten Welt" sich abzeichnet,
deren Entwieklungsziel gleichwohl noch nicht abzusehen sei (8).
Wenngleich exemplarisch nur partiell durchgeführt, eignet den Bänden
eine ökumenische Tendenz, die die „prinzipiell unumstrittene, in
der Praxis jedoch in aller Regel noch keineswegs realisierte Einsieht,
daß das Christentum nicht nur das konfessionelle, sondern auch das
nationale Zeitalter endgültig hinter sich gelassen hat" (9). aufleuchten
lassen möchte. Die ..Geschichtsmächtigkeit" der berücksichtigten
Gestalten der Kirchengeschichte erschließe sich angemessen nur „in
der dialektischen Zuordnung von Individualität und Gesellschaft, von
Personalität und personenübergreifenden Strukturen" (10). Eine
Kontextskizze (11-43) will dem Leser die Einordnung der historischen
Exponenten der neuesten Christentumsgeschichte erleichtern.
Hier wird nun freilich nicht oder kaum auf die prosopographischen
Einzelbeiträge und ihren Ertrag Bezug genommen, sondern der
anregende Versuch gemacht. Entwicklungslinien des geschichtlichen
Umfelds seit dem ersten Weltkrieg anzudeuten. Nationalismus und
Antikommunismus gelten als Signaturen einer verbreiteten Mentalität
in Kirche und Gesellschaft; auch ihre Verursachungskomplexe
werden historisch aspekthaft aufgewiesen. Mit antisäkularistischem
Rcchristianisierungskonzept suchen die Kirchen Anlehnung an kon-
servativ-restaurative Beharrungsmächte innerhalb einer gesellschaftshistorischen
Krisensituation. Die Anfälligkeit des Protestantismus für
Hitler wird in der kirchenstrukturellen Zerrissenheit und in der
Hoffnung auf ein kirchlichen Einfluß und Existenz begünstigendes
Sozialkonzept gesehen. Doch hat der Ausbau des NS-Totalstaats
wachsenden Druck auf Kirche und Christentum in Deutschland
ausgeübt. Diese Trendwende in religionspolitischer Hinsicht und das
Erkennen des „zutiefst nihilistischen Charakters" des NS-Systems hat
nach 1945 eine antitotalstaatliche Rechristianisierungstendenz wirksam
werden lassen, die christliche Gesellschaftsmodclle begünstigte.
Gleichwohl erscheint es M. Greschat einseitig und vereinfacht, nur

die kirchliche Restauration zu betonen und die „unverkennbare
Langzeitwirkung vieler neuer Fragestellungen, ohne die die erheblichen
Umbrüche in den 60er Jahren auch in den Kirchen schlechterdings
/licht verständlich sind", zu übersehen (33). Solch monotenden-
ziellc Kennzeichnung der unmittelbaren Nachkriegsgeschichte der
Kirchen verdecke die tatsächlichen Veränderungen, die in der Nachkriegszeit
stattgefunden haben. Doch hat der unmittelbar nach 1945
beobachtete Trend zur Wahrnehmung politischer Verantwortung von
Christen in den Kirchen Westeuropas nicht verhindern können, daß
bald eine gegenläufige Tendenz sich geltend machte, für die „wirtschaftlicher
Aufschwung, Konsumdenken und ein massiver Antikommunismus
" als „dominierende Gesichtspunkte" anzusehen sind
(340- Auch die gesellschaftlich-kirchliche Situation in den USA
wird kurz beleuchtet; bei dem Ausblick auf die osteuropäische
Situation wird stärker das restriktive Moment als funktional-kooperative
Möglichkeiten hervorgehoben (vgl. aber den Beitrag über Josef
L. Hromadka, der exemplarisch einen „Lernprozeß" zwischen Kirchen
und sozialistischer Gesellschaftsordnung belegt und auf Konfliktbewältigung
orientiert). Es hätte eine Berücksichtigung weiterei
Gegenwartsexponenten aus dem osteuropäischen Kirchentum sich
aus Proportionalitätsgründen nahegelegt und Modellfunktion für
stärkere Differenzierung im prosopographischen Korpus gewonnen,
um die sich der Hg. in seiner Skizze bemüht.

Zur Orientieruni des Lesers folgt die Liste der Autoren und ihrer Beiträge:
Band 10,1: M. Greschat (Einleitung); R. Smend: Julius Wellhausen; I'.
Fischer-Apclt: Wilhelm Herrmann: C'.-J. Kaltenborn: Adolf von
Harnack; Fl. Zingel: Kranz Hitze; C. Goichot: Alfred Loisy; W. Joch-
mi n n : Friedrich Naumann; A. Lindt: FFcrmann Kutter; M. Matt mOller:
I cunhard Ragaz; M.Guasko: Ramcli MurrhC'h.Sch wobei: Martin Rade;
R. R. Doerries. Waller Rauschenbusch: T. Rendtorff: Ernst TroeHsch;
W. R. Ward: John Raleigh Moll; L. Thunhcrg: Nathan Söderblom; W.
Ziegler: Michael laulhahei; E. Brviier: Nikolai Bcrdjajew; FL-R. Mülle
r-Sc h wc fc : Karl Heim; G. Altner: Alberl Schweitzer: B. Sias i e w s k i:
Clement August Graf von Galen; W. D. Zimmermann : Otto Dibelius; K.
Hausberger: Bischof Konrad Graf von Preysing. Band 10.2: C. H. Ratschow
: Pierre Teilhard de Chardin; E.V. VVcslon: George Bell: J. Ii
Hygen: F'ivind Berggrav; G. Klein: Rudolf Bultmann; H.-B. Gcrl:
Romano Guardini: J. S.t'obwav : Friedrieh Siegmund-Schultze: W. Kreck:
Karl Harth: C. H. Ratschow : Paul Tillieh: P. Hauptmann: Athenagoras
I.; M.Opocensky: Josef I . Hromädka; F. Lorenz : Reinold von l'hadden-
TrieglafT; M. Greschat: Martin Niemöller: K.-W. Dahin: Reinhold
Niebuhr; D. Koch: Gustav W. Heinemann; K. Blaser: Willem A Visser'l
Hooft; R. R. Thalmann: Jochen Klepper: H. Ott: Dietrich Bonhoetfer;
K U. Neufeld: Alfred Delp SJ. G. van Roon: Helmulh James von
Moltke; B. A 1b recht: Mutter Teresa: D. Ritsehl: Marlin Luther King Jr.
Korrigenda: Bd. 10,1: S. 8. Z. 7 . u.: Kirchen und Ciemeinden: Bd. 10,2: S.
263./. I v. u.: Hermann Mulert

Leipzig Kurt Meier

Ilöfer. Liselotte: Otto Karrer 1888-1976. Kämpfen und Leiden für
eine weltoffene Kirche. Unter Mitarb. und mit einem Vorw. von
V. Conzemius. Ereiburg-Basel-Wien: Herder 1985. 480 S.. 4 Taf.
gr. 8°. geb. DM 48,-.

Kaum ein Theologe, Wissenschaftler, Schriftsteller aus dem katholischen
Raum hat in wenigen Jahrzehnten so viele Türen aufgestoßen,
so viele Hoffnungen geweckt, aber auch so viele Gegner fast magnetisch
auf sich gezogen wie Otto Karrer. Der 1888 in Ballrechten
Baden geborene Otto Karrer. der 1976 in Luzern starb, lebte und litt
mit der Kirche. Der „Unverstandene Pionier" (Victor Conzemius)
sagte, er sei bereit, mit Christus in die Fundamente der Kirche einzugehen
. Dieser Satz deutet das Ausmaß der Leidensfahigkeit eines
Theologen an, dessen Leben zu einem Zeugnis geworden ist.

Karrer war kein grimmiger Kämpfer, der nach einem Plan für eine
Öffnung der Kirche auf eine neue Zeit hin stritt. Sein Wirken war
diskret und weniger absichtlich, dafür aber vielseitig und nachhaltig
.