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Ausgabe:

1987

Spalte:

348-349

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Stuhlmann, Rainer

Titel/Untertitel:

Das eschatologische Maß im Neuen Testament 1987

Rezensent:

Berger, Klaus

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347

Theologische Literaturzeitung 112. Jahrgang 1987 Nr. 5

348

Vf. wendet sich mit seiner Dissertation gegen die weit verbreitete
Unsitte des "mirror-reading", das aus jeder pointierten Äußerung des
Paulus auf eine entsprechende Gegenthese seiner vermeintlichen Gegner
zu schließen wagt. Er versucht stattdessen, die in dieser Hinsicht
oft mißhandelten autobiographischen Aussagen angemessener zu
interpretieren, und leistet dabei sowohl einen förderlichen Beitrag zur
Methodologie der Briefexegese als auch zu einem besseren Verständnis
der autobiographischen Aussagen des Paulus im Rahmen des antiken
Denkens. Den wesentlichen Grund für den nachweislich falschen
Consens der Forschung in bezug auf die paulinischen Selbstaussagen
sieht er in einem völligen Verkennen der Eigenart antiker autobiographischer
Aussagen, in deren Rahmen allein ein angemesseneres Verständnis
der paulinischen Selbstaussagen möglich ist.

Auf eine Introduction (S. 1 ff), die sehr hilfreich und übersichtlich
informiert über Zweck, Anlaß, Vorgehensweise und Voraussetzungen
sowie die Definition autobiographischer Bemerkungen, folgt (Kap. 1:
Autobiography in Antiquitiy, S. 17ff) ein sehr lesenswertes und
instruktives Kapitel über die antike Autobiographie und ihre tiefgreifenden
Unterschiede zum modernen Verständnis.

In diesem Zusammenhang werden die drei Genera der antiken Rhetorik
vorgestellt mit ihrer Unterscheidung von genus judiciale, genus
deliberativum und genus demonstrativum, und diese Einführung erweist
sich als außerordentlich hilfreich für die folgende Einzeluntersuchung
. Endlich einmal wird mit profunder Sachkenntnis der Nachweis
geführt, daß die inzwischen Mode gewordene Berücksichtigung
antiker Rhetorik wesentlich viel mehr sein kann als eine akademische
Spielerei.

Die Vielfalt der Erscheinungsformen antiker Autobiographie und
ihr primär nicht historisches Interesse wird an eindrucksvollen Beispielen
vorgeführt und ausdrücklich auch das für das antike Denken
und Empfinden Unschickliche der Autobiographie (S. 54: "It should
be remembered that autobiography was an innovation which challen-
ged the very Weltanschauung of antiquity. It asserted the role of the
individual as over against the Community. And it was a minority
movement - few were in a position to assert themselves in this way.
Accordingly, it aroused the envy more than the righteous indignation
of the masses.") und die Strategien zur Bewältigung des Anstoßes
thematisiert, um abschließend den Bezügen zwischen der Autobiographie
und ihrer Funktion in der Rhetorik nachzugehen.

Kap. 2 (Critique of Existing Approaches to Paul's Autobiographi-
cal Remarks Demonstrated in Galatians, S. 75ff) führt die gängige
Praxis des "mirror-reading" und den wissenschaftlichen Consens mit
seinen Ungereimtheiten vor. (Vollständigkeit halte ich nicht für ein
erstrebenswertes Ziel, aber Vf. macht es sich hier vielleicht doch etwas
zu einfach, wenn er u. a. meine Paulus-Arbeit zwar im Lit.Verz.
erwähnt, aber nirgends benutzt, obwohl sie ihm die Karrikatur des
wissenschaftlichen Consensus etwas schwieriger gemacht hätte, während
er andererseits manche Unterstützung für seine richtigen Thesen
hätte finden können.) Sein Ziel ist dabei der Nachweis, daß "the
almost totally arbitrary selection of which of Paul's denials are presu-
med to respond to opposing accusations is laragely responsible for the
differences between and among the advocates of 'mirror-reading'"
(S. 95).

Durchgeführt wird das Programm der literarischen Interpretation
der autobiographischen Aussagen des Paulus am Gal und am IThess.
Beide Abschnitte zeichnen sich durch außergewöhnliche Sorgfalt und
Umsicht bei der überaus genauen Einzelanalyse aus, die vorbildlich
genannt zu werden verdient.

Dabei liefert Kap. 3 (The Function of Paul's Autobiographical
Remarks in His Letter to the Galatians, S. 123 ff) eine sorgfältig begründete
, glänzende Widerlegung der These von H. D. Betz, es
handele sich beim Gal um einen "apologetic letter". Vielmehr zeigt
die Analyse, daß der Brief nicht zum genus judiciale, sondern zum
genus deliberativum zu zählen ist, und das ist für das Gesamtverständnis
von erheblicher Bedeutung, werden doch so erst die einzelnen
Aussagen zwanglos in ihrer Funktion für das Ganze verstanden.

Auch für den IThess kommt das Kap. 4 (The Function of Paul's
Autobiographical Remarks in 1 Thessalonians, S. 177ff) zu dem
Ergebnis, daß von einer apologetischen Motivation der zahlreichen
autobiographischen Abschnitte keine Rede sein könne, so daß auch
hier das genus judiciale ausscheidet (S. 119). Die Autobiographie steht
auch hier in viel zu enger sachlicher Beziehung zur Paränese, als daß
sie anders als durch das paulinische Interesse an der Exemplifizierung
der Themen an seiner Person motiviert sein könne. Bei der Alternative
, ob das genus deliberativum oder das genus demonstrativum für
die Klassifizierung zutrifft, entscheidet der Gesamttenor des Briefes,
wobei Vf. sich mit guten Gründen für das genus demonstrativum
entscheidet (S. 220).

Gewiß finden sich neben zahlreichen exzellenten Einzelbeobachtungen
auch einige Thesen, die Widerspruch herausfordern. So
scheint mir u. a. S. 134 die These, der zweite Besuch in Jerusalem
werde nur erwähnt, weil der entscheidende Vergleich mit Petrus im
Folgenden vorbereitet werden soll und die narratio zur Demonstration
des Charakters üblicherweise dreiteilig war, wenig überzeugend.
Dies zeigt doch wohl eher, daß Paulus anfangs in Petrus einen Verbündeten
hatte und es erst später in Antiochien zu einem Umfallen
des Petrus kam. Ich kann mir ferner schlechterdings nicht mit
Gal6,12ff und 1,7 zusammenreimen, daß Paulus in Galatien keine
Gegner gehabt haben soll und der ganze Gal sich daraus erklärt, daß
"perhaps the Galatians innocently inquired of Paul whether the com-
mand of the Law concerning circumcision for the sons of Abraham
applied to them as his spiritual descendants" (S. 120). Und daß ohne
wirkliche Widerlegung der wohlbegründeten These, die Unruhestifter
wollten Verfolgung in Palästina (Jerusalem) vermeiden (Gal 6,12).
S. 148 ganz naiv von einer Verfolgung in Galatien geredet wird, ist
angesichts der sonstigen Qualität der Argumentation geradezu ärgerlich
.

Im Schlußteil (Conclusion, S. 223) sieht Vf. sein Ziel als wenigstens
teilweise erreicht an, "if it is recognized, that the usual view of Paul's
autobiographical remarks may no longer remain an unexamined
assumption from which exegesis and historical reconstruetions may
safely proeeed. Perhaps even those scholars who are not persuaded to
abandon the consensus opionion completely will at least be compelled
to re-examine it, and join the investigation of the funetions of Paul's
autobiographical remarks" (S. 225). Dies hat Vf. mit Sicherheit erreicht
und dabei einen weiteren hilfreichen Beitrag für das Verständnis
des großen Apostels geliefert, der in der weiteren Forschung nicht
übersehen werden sollte.

Münster/W. Alfred Suhl

Stuhlmann. Rainer: Das eschatologische Maß im Neuen Testament.

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1983. XII, 265 S. gr. 8° =
FRLANT, 132.Lw.DM 68,-.

Die von Joachim Jeremias angeregte und unter Wolfgang Schräge
fertiggestellte Bonner Dissertation von 1978/79 behandelt sehr verschiedenartige
Texte und Vorstellungen unter dem gemeinsamen
Nenner des „Maßes": In erster Linie gehören dazu zeitliche Maßvorstellungen
wie das Maß der Jahre der Satansherrschaft Mk 16.14 W,
die Frist nach Apk 12,12; 20,3, die nur noch kurze Zeit nach Apk, die
Erfüllung des Maßes der Zeit der Heidenvölker nach Lk 21,24, die
Verkürzung der Zeit nach den synoptischen Apokalypsen, die „zusammengedrängte
Zeit" nach 1 Kor 7,29 und schließlich die Vorstellung
, daß das Zeitmaß „voll" ist (Mk 1,15; Gal 4,4 „Fülle der Zeit";
Eph 1,10, aber auch Mt 1,17; 8,29); mit einem Maß der Zeit, das erst
voll werden muß, rechnen implizit auch die Saatgleichnisse des
Neuen Testaments. In zweiter Linie gehören zu den Maßvorstellungen
des Neuen Testaments solche über das Maß von Leiden
(Kol 1,24; 2Korl,6; 4,12; 2Tim2,IO) und über das .Sündenmaß
(Mt 23,32; IThess 2,16). Einen dritten, davon unabhängigen Komplex
bilden Texte über das von Gott festgesetzte Maß (= Zahl) der Gerechten
und Versiegelten oder überhaupt aller Menschen.