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Ausgabe:

1987

Spalte:

283-285

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Mack, Rüdiger

Titel/Untertitel:

Pietismus und Frühaufklärung an der Universität Giessen und in Hessen-Darmstadt 1987

Rezensent:

Sträter, Udo

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283

Theologische Literaturzeitung I 12. Jahrgang 1987 Nr. 4

284

(129). Trotz vieler Gemeinsamkeiten sind die Differenzen tiefgreifend
: „Die eine Linie knüpft an der antiken Philosophie bzw. der
Ethik an und will zum sittlich Guten führen, das mit der Glaubenspraxis
identifiziert wird; die andere Linie geht von der Verkündigung
der Kirche aus, die das Geschenk der göttlichen, allem menschlichen
Verdienst zuvorkommenden Gnade predigt" (157). Die Autorin hat
viel Verständnis für Erasmus, möchte aber letztlich „für Luther
sprechen" (159).

Das Nachwort der Hgn. läßt viele Stimmen zu Wort kommen.
„Früchte für die Ökumene" wurden eingebracht. Beide Konfessionen
wollten den Theologen Luther sprechen lassen. Man sah den Menschen
Luther: „Er ist nicht der Held, der Nationalrevolutionär. Es
spricht ganz schlicht und einfach der gläubige Christ Martin Luther.
Der wird dargestellt, und das in einer großen Differenziertheit Hier
haben wir einen ganz bedeutsamen ökumenischen Fortschritt." (Bros-
seder, 183) Zuletzt kommt noch kurz der Dialog zwischen marxistischen
Lutherforschern und Kirchenhistorikern in der DDR in den
Blick: Hier kam „so etwas wie ein philosophisch-theologischer Disput
über das Christentum, über Christentum und Marxismus zustande"
(Kühn, 184). Der Band, der aus Wiener Sicht eine Bilanz des Luther-
Jubiläums zieht, verdient Beachtung.

Rostock Gert Haendler

Kirchengeschichte: Neuzeit

Mack, Rüdiger: Pietismus und Frühaufklärung an der Universität
Gießen und in Hessen-Darmstadt. Gießen: Justus-Liebig-Univer-
sität 1984. XII, 323 S. m. Abb. 8".

Die Landgrafschaft Hessen-Darmstadt, unmittelbarer Nachbar der
Reichsstadt Frankfurt a. M., in der Ph. J. Spener 20 Jahre lang als
Senior des Predigerministeriums amtierte und in der er 1675 seine
„Pia Desideria" veröffentlichte, war von Beginn an vom Entstehen
der pietistischen Bewegung betroffen. Nachdem erste Versuche zur
Konventikelbildung nach Frankfurter Vorbild am Widerstand der
Gießener Orthodoxie gescheitert waren, gelang den Spener-Anhän-
gern J. H. May und J. Ch. Bilefeld unter landesherrlicher Protektion
in den Jahren 1689-1695 die „Eroberung" der Universität Gießen,
die damit als erste deutsche Universität, noch vor Halle, dem Pietismus
geöffnet wurde.

In seiner Studie „Die Gießener Theologen und der Pietismus in der
Landgrafschaft Hessen-Darmstadt", die als Schwerpunkt mehr als die
Hälfte des hier anzuzeigenden Sammelbandes umfaßt (S. 25-205),
zeichnet der Vf. ein detailreiches Bild der pietistischen Phase Gießens.
Dabei verfolgt er über die zuerst von W. Köhler (1907) untersuchte
Expansionsphase des Pietismus hinaus die weitere Entwicklung an der
Universität bis in die zweite Hälfte des 18. Jh.: Ausführlich widmet er
sich der „Sichtungszeit", die mit der Abgrenzung von separatistischen
Strömungen und mit dem Verzicht auf Ausprägung eigener Sozialformen
die strikt landeskirchliche Einbindung des Pietismus in H.-D.
heraufführte; er schildert den Verlust der pietistischen Hegemonie
durch die teilweise Entmachtung Bilefelds und den Tod der pietistenfreundlichen
Landgräfin Dorothea Charlotte; eingehende Darstellung
findet der lange Jahre in Gießen lehrende Johann Heinrich
May; die abschließenden Kapitel der Studie gelten den kurzen Gießener
Amtszeiten von J. J. Rambach (1731-1735) und Ch. M. Pfaff
(1756-1760), die der bis zur Funktionsunfähigkeit zerstrittenen
Theologischen Fakultät trotz einzelner Erfolge keine Glanzlichter
mehr aufzusetzen vermochten, so daß nach Pfaffs Tod die im Kampf
gegen Zinzendorf erstarkte anachronistische Gießener Orthodoxie die
pietistische Phase an der Universität beendete. Im Anhang der Studie
druckt der Vf. drei bisher unveröffentlichte Briefe von G. Arnold an J.
H. May (S. 197-205).

Die Studie zieht umfangreiches Quellenmaterial heran: neben

Archivalien aus Gießen und Darmstadt vor allem den in Hamburg
bewahrten Bestand von rd. 1 000 Briefen an J. H. May. Sie enthält
anregende Beobachtungen, so zum möglichen Einfluß des Separatisten
Klopfer auf die Radikalisierung von G. Arnolds Kirchenkritik.
Kritisch anzumerken ist, daß ein zu sparsames Angebot bibliographischer
Angaben und präziser Daten (vielfach dominieren relative Zeitbestimmungen
wie „damals", „bald", „später") dem Leser die Orientierung
in der nicht immer übersichtlichen Darstellung erschweren;
für die Aufstiegsphase des Gießener Pietismus bleibt die alte Arbeit
von Köhler zurgenauen Nachfrage unentbehrlich.

Daß Vf. den Pietismus in H.-D. von Gießen aus in den Blick nimmt,
ist gut begründet in der beherrschenden Stellung der Universität für
das kirchliche Leben im Lande. Allerdings läßt die Studie hinter der
ausführlichen Schilderung inneruniversitärer Streitigkeiten und der
wechselhaften Beziehungen zwischen Universität und Hof überraschend
stark zurücktreten die Darstellung dessen, was für Vf.
Ausgangspunkt seiner Forschungen zum Pietismus war: „den Impulsen
nachzuspüren], die Spener und seine Jünger der Hochschule, dem
Kirchenwesen und dem weltlichen Regiment gaben" (S. V). Welche
Impulse das außer dem Streben nach Sicherung der eigenen Machtposition
gewesen sein könnten, wird eher beiläufig benannt (Veränderte
Einstellung gegenüber den Juden. Verbesserung des Schul- und
Unterrichtswesens, Intensivierung des pastoralen Amtsbewußtseins,
Zühlsches Waisenhaus). Wie der pietistische Drang nach „Veränderung
der sozialen Verhältnisse" in konkrete Politik umgesetzt worden
sei, etwa im Kreis der an Halle orientierten „Regierungs- und Hofpietisten
" (S. 183), harrt noch der näheren Ausführung. Zu fragen ist
also: in wieweit liegt mit dieser Studie die vom Vf. intendierte
„zusammenfassende Darstellung der pietistischen Epoche im Land
und an der Hochschule" (S. V) vor? Für die Geschichte des Pietismus
an der Universität Gießen, zumindest soweit sie sich als Geschichte
von Konflikten zeigt, ist zusammenfassende Darstellung erreicht; für
den Nachweis positiv wirkender Dynamik pietistischer Einflußnahme
ist das schon weniger der Fall; von der „pietistischen Epoche im
Land" dagegen ist in der Studie, abgesehen vom Darmstädter Hof,
kaum die Rede. Die von Diehl formulierte Aufgabe, nach der auf Gießen
und die pietistischen „Führer" konzentrierten Arbeit Köhlers sei
nun „der Frage nachzugehen, in welcher Form und durch welche Persönlichkeiten
die neuen Gedanken in die Gemeinden hinausgetragen
wurden und wie das Leben aussieht, das unter der Wirkung der neuen
Gedanken sich entwickelte", ist noch nicht erledigt. Ob in H.-D.
außerhalb von Hof und Universität überhaupt pietistische Breitenwirkung
feststellbar sei - was vom Vf. in diesem Band ebenso verneint
(S. 267 u. ö.) wie unter Hinweis auf das Wirken J. H. Mays und auf
Kirchenneubauten um die Jahrhundertwende (S. 193) vorsichtig
bejaht wird -, bleibt letztlich offen, zumal „die Quellenlage einen
Blick in das geistliche Leben in den Gemeinden der Landgrafschaft
bislang kaum zuläßt" (S. 192). Fazit: Die Studie bietet in Erforschung
und umfassender Darstellung der pietistischen Phase Gießens einen
neuen Stand (ohne jedoch Köhler entbehrlich zu machen: vgl. oben!).
Für die Erforschung des Pietismus in H.-D. insgesamt bietet sie eine
notwendige und hilfreiche Zwischenbilanz.

Der Band enthält ferner vier schon zuvor (zumeist im Jahrbuch der
Hessischen Kirchengeschichtlichen Vereinigung) gedruckte Arbeiten
des Vf. aus den Jahren 1978-1983, die der Studie als Vorarbeiten
gedient haben und sie nun einleitend und in Einzelfragen vertiefend
umrahmen: zunächst die Skizze „Die Obrigkeit und der Pietismus in
der Landgrafschaft Hessen-Darmstadt (1675-1750)" (S. I -24) als einführende
„Problemanzeige"; sodann die Aufsätze „Libertinärer
Pietismus. Die Wanderungen der Pfarrerswitwe Wetzel"
(S. 206-238), einen vor allem aus Quellen des Solms-Laubachischen
Archivs gearbeiteten Beitrag zum „radikalen Pietismus" in den Hessischen
Territorien, und „Johann Reinhard Hedinger und die pietistischen
Querelen in Gießen (1694-1699)" (S. 239-272); dem im Titel
des Bandes genannten Themenbereich der Frühaufklärung ist explizit
nur der letzte Aufsatz gewidmet: „Johann Christoph Friedrich Schulz