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Ausgabe:

1985

Spalte:

897-899

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Titel/Untertitel:

Von Meister Dietrich zu Meister Eckhart 1985

Rezensent:

Kern, Udo

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Theologische Literaturzeitung 110. Jahrgang 1985 Nr. 12

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Kirchengeschichte: Mittelalter

Hasch, Kurt [Hrsg.]: Von Meister Dietrich zu Meister Eckhart. Hamburg
: Meiner 1984. XIII, 192 S. gr. 8* = Corpus Philosophorum
Teutonicorum Medii Aevi Beihefte, 2. Lw. DM 96.-.

Diescr von Kurt Flasch herausgegebene Band enthält Beiträge eines
Symposions der Editoren der Werke Dietrich von Freibergs und „einiger
befreundeter Gelehrter" (S. VII) vom Oktober 1979, das die Ve
Section de L'Ecole Pratique des Hautcs Budes, Paris, ermöglichte.
Schwerpunkt dieser Publikation ist die Interpretation des Denkens
Dietrich von Freibergs. Daneben werden Traditionen untersucht, die
Dietrich von Freiberg und seine Zeit philosophisch prägten; auch die
Beziehung zu Meister Eckhart wird thematisiert.

Eröffnet wird der Band durch einen schönen Beitrag Rudolf K<7i/is.
der sich mit dem Sein der Zeit bei Aristoteles und Dietrich von Freiberg
beschäftigt. Renn stützt seine Definition der aristotelischen Zeitkonzeption
auf Phys. IV 10,218b9-l 1,219 b2 und Phys. IV
14.223a 16-29. Die Zeit ist für Aristoteles etwas (tO an der Bewegung,
Präziser: als Zahl der Bewegung im Hinblick auf ein npörr.pov und
i'mcpov. Indem die Seele die Bewegung eingrenzt durch das Setzen
eines Vorher {xpÖTSpov) und Nachher (ßarepov), wird sie sich der Zeit
bewußt. Die Seele realisiert das durch das Zeitsubstrat der Bewegung
ermöglichte „Vorher" und „Nachher". Die Zeit ist als Zahl der Bewegung
auf das Zählende der Seele gründend angewiesen. So ist die Zeit
für Aristoteles „weder ein reines .Gedankending' noch ein reines
■Naturding'. Sie ist nicht in anima, nicht sine anima, sondern ab
anima (in actu)." (4)- Aristoteles und Augustin beeinflussen Dietrichs
Zeitlchre. Dietrich definiert mit Augustin in ihm nicht bewußten
Gegensatz zu Aristoteles die Zeit klar auf Seiten des Subjekts. Die Zeit
ist ein ..Gedankending". Ihr Sein hat sie in anima et ab anima. Dietrich
, dessen Ausgangspunkt der Bestimmung der Zeit der Begriff des
Kontinuums und nicht wie bei Aristoteles der der Bewegung ist, verkennt
die für die aristotelische Zeitkonzeption konstitutive Bedeutung
der Bewegung. Allein die Seele ist für Dietrich die causa temporis.

Helene Merk untersucht die Geschichte des Begriffes Dcitas von
Cicero bis Meister Eckhart; insbesondere die Traditionen des Eck-
hartschen Gebrauches dieses Begriffes werden erörtert. Deitas bei
Eckhart ist geprägt von der Eckhartschcn Lektüre des Boethius und
desGilbert von Poitiers.

«Procio ed Ermcte in Germania da Alberto Magno a Bcrtoldo di
Moosburg. Per una prospettiva di ricerca sulla cultura filosofica
tedesca nel secolo dclle suc origini (1250-1350)» ist das Thema des
Beitrages von Loris Sturlese.

Dietrich von Freibergs frühes (vor 1286 entstandenes) Werk „De
origine rcrum praedicamentalium" ist der Gegenstand von Kurt
Fidschi Beitrag. De origine hat primär aristotelische und averroesche
Traditionsbezüge. Aberauch Augustin, Boethius, Gilbert von Poitiers
und der Liber de causis sind zu nennen. Die philosophische Bedeutung
von De origine sieht K. Flasch darin: „Es ist nicht einzusehen,
daß die usia einen logos hat und daß die wirkliche Welt eine dihairc-
tische. also definitionsadäquate Struktur hat. wenn man nicht
erkennt, daß der Intellekt die ratio rei als solche konstituiert und
damit die partes formac ante totum begründet. Selbst wenn man die
Lösung Dietrichs und darüber hinaus auch die Kantsche verwirft,
bleibt De origine wichtig - als der Nachweis einer Begründungslücke
in dem von Platon-Aristotclcs sich herschreibenden Realitätsanspruch
der definitorisch verfahrenden Vernunft." (42)

Theo Kolmach untersucht die modi des Seienden bei Dietrich. Er
geht davon aus. daß die aristotelische Ontologie uns eine schwere
Hypothek in ihrer „einseitigen Orientierung am Sein der Naturdinge"
hinterlassen hat. (46) Von hieraus werden das Sein des menschlichen
Erkennens und Bewußtseins nicht in ihrer eigenen Seinswürde, sondern
definitorisch bewertet vom Sein der Naturdinge. Dementsprechend
wird im Mittelalter gegenüber dem cns extra animam dasens in
anima als esse diminutum (vermindertes Sein) angesehen. Diese generalisierende
Feststellung Kobuschs für das Mittelalter scheint mir
nicht überzeugend zu sein. Zumindest müßte sie materialmäßig belegt
werden. - Für Kobusch kommt Dietrichs Lehre vom ens coneeptio-
nale philosophiehistorisch besondere Bedeutung zu, da hier strukturell
gleich reales und konzeptionales Sein definiert wird und somit
„das Sein des menschlichen Bewußtseins", das Dietrich ens in anima
bzw. ens conceptionalc nennt, und „seine verschiedenen Modi zum
ersten Mal in der Geschichte der Philosophie gegenüber dem Sein der
Natur ontologisch eigens thematisiert und in seiner Eigengesetzlichkeit
gesehen" wird. (46) Das ens naturae ist kategorial faßbar. Darin
unterscheidet es sich wesentlich vom ens conceptionale. Beim Natur-
Seienden bzw. selbständigen realen Sein gelten folgende modi resp.
maneries: „Gott selbst als erste Ursache, die intellektuellen Substanzen
, die entia spiritualia und die universitas corporum huius mundi."
(51) Die modi des ens conceptionale „konstituieren sich, insofern eine
Sache in verschiedener Weise erkannt werden kann. Sie wird aber entweder
im Hinblick auf das erkannt, was zu ihrer Substanz gehört, oder
im Hinblick auf das der Substanz Äußere." (51) - Kobusch wendet
sich zu Recht gegen den Versuch (K. Flasch, B. Mojsisch). Dietrich
auf Grund seiner These, daß das erkennende Subjekt das washeitliche
Sein der Dinge konstituiert und nicht dieses jenem vorgegeben wird,
gleichsam als „Kant des Mittelalters" (59) zu feiern. Wenn man
Dietrich hier transzendcntalphilosophisch interpretiert, verwischt
man die klare Trennung von Gedachtem und Naturhaftem bei
Dietrich.

Burkhard Mojsisch ist mit 2 Beiträgen vertreten; zum einen untersucht
er das schon in dem Beitrag von Th. Kobusch thematisierte ens
conceptionalc bei Dietrich, zum anderen den Begriff der causa essen-
tialis bei Dietrich und Eckhart. Dietrich und Eckhart stimmen der
gcmeinscholastischen Differenzierung des Seienden in ens reale
secundum naturam (Naturseiendes, ens extra animam) und ens cogni-
tivum (Gedankending, cns in anima) zu. Letzteres nennt Dietrich ens
conceptionale. Das ens conceptionale ist „forma conceptionalis einer
singulären Substanz, z. B. des Menschen, der Inhalte erfaßt, die in
einem solchen Erfassungsakt auch kein reales, sondern vielmehr ein
intentionales Sein (esse intentionale) besitzen." (98) Das beinhaltet
das Früher-Sein der „intellcktuelle(n) Erfassungsakte und ihrer
Inhalte", der Wesen- und Washeiten des Naturseienden, vor den
Naturdingen. (103) - Die causa essentialis - ein zentraler Gedanke
Dietrichscher Philosophie -. die direkt die Wesenheiten der Dinge
hervorbringt, ist die prinzipielle ursächliche causa des durch sie selbst
Verursachten. Die fünf Konstitutiva der causa essentialis - substantia,
substantia viva, substantia viva esscntialiter, vita intellcctualis und
intcllectus in actu - sind bei Gott, den Intelligenzen, den Himmels-
seelcn und dem intellcctus agens zu finden. Der tätige Intellekt, der zu
den causae essentiales gehört, erkennt nach Dietrich - und hier ist
Dietrich Eckhart ganz nahe - „Gott in Gott auf die Weise Gottes und
erkennt zugleich sein Wesen und die Gesamtheit der Seienden nicht
nur gemäß seinem eigenen Wesen, sondern auch in Gott auf die Weise
Gottes." (1090 Dieses korrespondiert dem Eckhartschen Gott-
wissenden Menschen. In diesem Zusammenhang vermißt man bei
Mojsisch den Hinweis auf Ruedi Imbachs Arbeit von 1972 „Deusest
intelligcre".

Alain de Libera ist auch mit zwei Aufsätzen vertreten, die die
„intentiones primae et secundae" bei Dietrich von Freiberg bzw.
„Meister Eckhart und die Kontroverse über die Einheit und Vielfältigkeit
(pluralite) der Formen" zum Thema haben. Eckharts Stellung in
der Problematik der Formen ist eigenständig. Alain de Libera resümiert
: «La place du Thuringien (sc. Eckhart) dans la qucrelle des
formes est donc tout-ä-fait originale. Partisan de la doctrine unitaire.
Eckhart fait de sa defense l'occasion d'exposer une Philosophie et une
theologie distinetesde Celles de Thomas et. en tout cas. de ses Premiers
Partisans dominicains. Avcrti des theses de Dietrich de Freiberg, il cn
utilise une partic pour soutenir Thomas, alors meme que le Fribour-
geois prefere Averroes ä l'Aquinate sur la question de la mixtio ele-
mentorum. La complcxite meme de cette Strategie montre combien il