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Ausgabe:

1985

Spalte:

735-736

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Gueuret, Agnès

Titel/Untertitel:

L' Engendrement d' un récit 1985

Rezensent:

Zeller, Dieter

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Seite 1

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735

Theologische Literaturzeitung I 10. Jahrgang 1985 Nr. 10

736

Jesus der Messias ist, um verstehen zu können, daß sein Tod der Tod
des Messias ist (S. 145). Erst die Überzeugung, daß Jesus göttliche
Wundermacht hat, läßt seinen Tod als freiwillige Selbsthingabe
erscheinen. Um diese enge Beziehung von Wunder und Passion zu
illustrieren, weist P. auf Mk 10,45: Das Wort von der freiwilligen
Selbsthingabe des Menschensohns steht nach Leidensweissagungen
und vor einer Wundergeschichte. Passion und Wunder (Heilung des
Bartimäus) sind Ausdruck desselben Dienstes des Messias an den
erlösungsbedürftigen Menschen (S. 150).

Pilgaard hat eine ausgewogene, auf gründlicher Lektüre der Texte
basierende Markusinterpretation vorgelegt. Ihr Vorzug ist, daß sie alle
Geheimnismotive (Schweigegebote, Jüngerunverständnis, Parabeltheorie
) einbezieht, ohne eine systematische „Geheimnistheorie" zu
konstruieren. Auch verzichtet sie darauf, Wort und Wunder, Wunder
und Passion gegeneinander auszuspielen. Sie ist textgemäß, insofern
sie als Einheit verstehen will, was im Text nebeneinander steht.
Jedoch hat diese Interpretation Grenzen: Sie basiert auf einer rein
textimmanenten Analyse. Zeit- und Religionsgeschichte spielen keine
Rolle. Ein Versuch, das Evangelium des Markus geschichtlich einzuordnen
, fehlt. Zwei Arbeiten, die sich dieser Frage nach dem „Sitz im
Leben" des Markusevangeliums widmen, werden nicht erwähnt:
H. C. Kee, Community of the New Age. Studies in Mark's Gospel,
Philadelphia 1977, und W. H. Kelber, The Kingdom in Mark: A New
Place and a New Time, Philadelphia 1974. (Merkwürdigerweise fehlt
auch eine Arbeit, die sich in manchen Gedanken mit der Pilgaards
berührt: G. Minette De Tillesse: Le secret messianique dans
PEvangilede Marc, Lectio Divina47, Paris 1968.)

Die Selbstbeschränkung des Vf. auf textimmanente Analysen ist
jedoch legitim und schließt nicht aus, daß er in weiteren Arbeiten in
stärkerem Maße den geschichtlichen Rahmen berücksichtigt. Ebenso
legitim ist die Ausklammerung neuer strukturalistischer Ansätze. Wer
wie P. den Markustext als kohärenten Text versteht und gegenüber
allzu genauen Scheidungen von Tradition und Redaktion wohltuend
zurückhaltend ist (ohne auf sie zu verzichten), nähert sich damit
jedoch einer Auffassung des Evangeliums als eines kohärenten Textes,
wie sie von den verschiedenen Varianten des Strukturalismus vertreten
werden. Die dänische Exegese hat solche Ansätze mit erfreulicher
Nüchternheit aufgegriffen. Ich denke an Arbeiten von G. Hallbäck
(zuletzt: Strukturalisme og eksegese, Bibel og historie4, Kobenhavn
1983). Auch in diese Richtung sind weitere Entwicklungen möglich
.

Alles in allem handelt es sich um ein gutes Buch: Klar in der Gedankenführung
, sorgfältig in den Beobachtungen, ausgewogen im Urteil.
Es wäre wünschenswert, wenn der Vf. die Ergebnisse in einem Aufsatz
auch für Leser zugänglich macht, die kein Dänisch verstehen.

Heidelberg GerdTheißen

Gueuret, Agnes: L'engendrement d'un recit. L'cvangile de Penfance
selon saint Luc. Preface de A.-J. Greimas. Postface de P. Geoltrain.
Paris: Ed. du Cerf 1983. 319 S. 8° = Lectio Divina, 113. ffr 140.-.

In dieser Diplomarbeit der Ecole pratique des Hautes Etudes analysiert
Frau G. die ersten beiden Kapitel des Lk nach dem Muster von
A. J. Greimas1 „semiotisch". D. h.: sie untersucht nicht die Referenz
des Textes oder seine Vorgeschichte, sondern seine innere Sinnorganisation
, die Weise, wie seine Elemente zueinander ins Verhältnis treten
.

Vorweg gliedert die Autorin den Text nach Ort und Zeit, Akteuren
und Refrains in drei Erzählfolgen: 1,5-80 ; 2,1-40; 2,41-52. Dabei
kommt leider noch nicht sein Bauprinzip, der Parallelismus zwischen
Johannes und Jesus, genügend zum Ausdruck. Kap. II beschreibt
dann die syntaktische Komponente der Erzählung: Feingliederung,
Aktantenstruktur, die Funktion der einzelnen Erzählzüge. Vereinfacht
gesagt ergibt sich, was der Rezensent selbst schon an den Geburtsansagen
beobachtet hatte2. Zwei Handlungsebenen überlagern

sich: die menschliche Geschichte, wie Eltern zu einem Kind kommen,
und die Geschichte, die Gott in diesen Kindern mit seinem Volk
anfängt. Ihre Bedeutung gilt es zu erkennen (vgl. 81).

Kap. III erhebt, ausgehend von den Cantica, die semantische Komponente
. Letztlich stehen sich die Kategorien „gegenseitige Mitteilung
in Unterschiedenheit" und „exklusive Herrschaft in Trennung"
gegenüber (230). Das mag abstrakt klingen, will jedoch auf einen Nenner
bringen, was sich da ereignet: Himmel und Erde verbinden sich.
Israel wird von seinen Feinden befreit, das Niedrige wird erhöht.

Im Unterschied zu früheren strukturalistischen Versuchen, die im
Text kreisen, fügt G. noch ein IV. Kap. «I'enonciation» an. das ihn als
Aussage des Evangelisten für einen Hörerkreis faßt. Wir würden es
hierzulande mit „Textpragmatik" überschreiben. Hier werden eindrücklich
die Kommunikationsrichtungen des Prologs 1,1-4 herausgearbeitet
. Ergebnis: Lk macht die Ereignisse glaubhaft, indem er sie
interpretiert, wie dann die Kindheitsgeschichte beweist. Hier eröffnet
sich auch - wie schon früher im Buch - ein Ausblick auf das Ganze des
dritten Evangeliums.

G. lehrt Beziehungen im Text sehen, für die die hergebrachte Exegese
blind ist. Z. B. daß das Beten des Volkes 1,10 etwas mit der Erlösung
zu tun hat, die ihm nach 1,68 gewährt ist (441). Oder wenn der
Unterschied zwischen dem Täufer und Jesus an den Örtlichkeiten aufgezeigt
wird: Der in der Gesellschaft Geborene lebt außerhalb (nämlich
in der Wüste: 1,80), der außerhalb der Gesellschaft (in der
Krippe) Geborene lebt in der Gesellschaft (229 zu 2,51). G.s Methode
eignet sich besonders gut, um den Bezug der Erzählung auf den Leser
zu erhellen, dessen Stelle oft die vorkommenden Personen mit ihren
Äußerungen vertreten (vgl. zusammenfassend 259ff).

Freilich hört G„ weil sie einen bis ins letzte durchorganisierten Text
annimmt, auch manchmal die Flöhe husten. Manche Differenzierungen
wirken künstlich. Z. B. hat schon M. Dibelius vermerkt, daß die
Eltern Jesu in Kap. 2 eine andere Rolle spielen als in Kap. 1, und
dafür traditionsgeschichtliche Gründe angeführt. G. macht jetzt
beachtliche textpragmatische Gründe geltend. Aber kann man sagen,
daß sie als Subjekt ganz zurücktreten (126 ff aus der Formulierung in
2,21 ff herausgelesen, vgl. 144)? Höchstens als Subjekt des Erkennens!
Vor allem scheint mir die Theorie einer allmählichen ..Neudefinition
" der Ortsbezeichnungen (zusammenfassend 232IT im Anschluß
an L. Marin) dem lk Gedanken der heilsgeschichtlichcn Kontinuität
nicht gerecht zu werden, die gerade durch die Selbigkeit der heiligen
Orte gewährleistet ist. Der von G. im 2. Kap. aufgespürte Gegensatz
von „etablierter Ordnung" und „neuen Werten" ist demgegenüber zu
schroff. M. E. ist weder das mosaische Gesetz noch der römische Zensus
bei Lk so negativ besetzt, daß sie einfach der überholten Ordnung
zugeschlagen werden könnten.

Die Vfn. hat sich bei der historisch-kritischen Exegese kundig
gemacht (falsch nur 25: Maria aus dem Stamm Davids - anders 138).
Was ihr Werk dieser Forschungsrichtung Neues bringt, ist 292 IT
zusammengestellt. Ihr Verdienst ist nicht so sehr die Klärung von Einzelheiten
(z. B. die Zuschreibung des Magnificat an Elisabeth), sondern
daß sie Zusammenhänge im Text erschließt. Der Ausleger tut gut
daran, nach dem textimmanenten Sinn von „Unebenheiten und
Spannungen" zu fragen, bevor er die Lösung in der Rekonstruktion
des Textwachstums sucht. Trotz ihrer schwierigen, aber konsequenten
Terminologie - ein Glossar erleichtert das Verständnis - sollte die
unübersetzbare Arbeit deshalb im deutschen Sprachraum nicht unbekannt
bleiben.

Mainz Dieter Zeller

' Scmantiquc structurale, 1966; Maupassant, 1976; zus. mit J. Courtes:
Dictionnaire raisonne de la theorie du langage. 1979.

2 Vgl. D. Zeller. Die Verkündigung der Geburt - Wandlungen einer Gattung,
in: R. Pesch (Hrsg.), Zur Theologie der Kindheitsgcschichtcn. Kath. Akademie
Freiburg 1981.27-48.28f.