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Ausgabe:

1984

Spalte:

139-141

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Sievernich, Michael

Titel/Untertitel:

Schuld und Suende in der Theologie der Gegenwart 1984

Rezensent:

Krötke, Wolf

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139

Theologische Literaturzeitung 109. Jahrgang 1984 Nr. 2

140

Systematische Theologie: Dogmatik

Sievernich, Michael: Schuld und Sünde in der Theologie der Gegenwart
. Frankfurt/M.: Knecht 1982, 464 S. 8° = Frankfurter Theologische
Studien, 29. Kart. DM 58,-.

Die vorliegende Dissertation, die 1981 vom Fachbereich Katholische
Theologie der Universität Münster angenommen wurde, will
„eine Bestandsaufnahme sündentheologischen Denkens in der Gegenwart
" sein (vgl. S. 410, 24). Diese Bestandsaufnahme erscheint
sinnvoll und nötig angesichts dessen, daß das christliche Reden von
Schuld und Sünde seine „Plausibilität" Für den Menschen der Gegenwart
eingebüßt hat und dennoch die Erfahrung von Bösem und seiner
Macht diesem Menschen nicht fremd ist (vgl. S. 19ff). Die Frage, wie
es zu einem „theologisch verantworteten und lehensweltlich relevanten
Verständnis von Schuld und Sünde in der Gegenwartssituation"
kommen kann (S. 24), prägt darum die Arbeit des Vf. Er bemüht sich
dabei, bis zu Fragen des „praktischen" Redens von Schuld und Sünde
vorzudringen. Aus diesem Grunde stellt er einem ersten Hauptteil,
der sich mit fachtheologischen Texten beschäftigt (S. 31-302), einen
zweiten Hauptteil zur Seite, der das Thema von Schuld und Sünde in
„neueren Glaubensbüchern" analysiert (S. 303-401).

„Die Theologie der Sünde in der Gegenwart" wird Für den Vf. durch
K. Rahner, P. Schoonenberg, P. Tillich, Teilhard de Chardin,
D. Solle, J. B. Metz und die lateinamerikanische „Theologie der Befreiung
" repräsentiert. Diese - besonders aus der Sicht der evangelischen
Theologie - doch etwas merkwürdig wirkende Auswahl ist
dadurch bedingt, daß es hier um theologische Bemühungen geht, die
„erfahrungsmäßige Zugänge zum Thema.. . schaffen, um das
Schisma zwischen Glaubens- und Lebenswelt zu überwinden"
(S. 292). Der Vf. referiert diese „Zugänge", indem er jeweils vom theologischen
Gesamtanliegen eines Autors ausgeht und das Verständnis
von Schuld und Sünde als Teil dieses Gesamtanliegens behandelt.
Hier kann nur auf einige Akzente hingewiesen werden, die diese auf
die Dauer etwas monotonen Referate setzen.

K. Rahners „mystagogische Theologie" (S. 60) versteht die Sünde
als die in der Freiheit des Menschen begründete „Möglichkeit der
Selbstverneinung und Selbstverschließung vor Gott" (S. 62). Diese
Selbstverschließung kann auch im Sinne des Dogmas von der Erbsünde
interpretiert werden, sofern „die individuelle und kollektive
Situation der Freiheit des Menschen immer durch Objektivationen
fremder Schuld mitbestimmt ist" (S. 63). Da aber durch die Sünde die
gnadenhaft ermöglichte Selbsttranszendenz des Menschen nicht aufgehoben
wird, kann diese Sclbsttranszendenz zugleich als „aktive
Befreiung der Menschheit aus der Selbstentfremdung verstanden werden
" (S. 66) - Kritisches hat der Vf. zu diesen Grundthesen Rahners
nicht zu sagen!

Die Bedeutung von P. Schoonenhergs Sündenlehre sieht der Vf. in
der „situationalistische(n) Interpretation", „die die Erbsünde als sündige
Situiertheit der Freiheit" versteht (S. 93). D. h. der Mensch ist in
einem „Erleider und Täter der geschichtlichen Situation" (S. 91).
Seine eigene Entscheidung partizipiert immer an der „Sünde der
Welt" (vgl. S. 80ff). Dieses Verständnis der Sünde als „Macht der
Situation" hält der Vf. im Blick auf ein gegenwärtiges Reden von der
Sünde für so bedeutsam, daß er es mit einigen belletristischen Beispielen
illustriert (vgl. S. 94ff). Da die „Macht der Situation" jedoch die
Freiheit des Menschen nicht aufhebt, bleibt es auch hier dabei, daß
der Mensch „vor die Entscheidung gestellt" ist, „ob er sich die fündige
Situation' oder die Heilssituation einhandelt'" (S. 99).

An P. Tillichs Lehre von der Entfremdung hebt der Vf. positiv hervor
, daß die Kategorie der „Entfremdung" trotz ihrer vielfachen und
schillernden Verwendung in der Gegenwart die Sünde als „Faktum"
und als „Akt" in einem begreift (vgl. S. 130). Sie faßt die verschiedenen
Dimensionen der „Desintegration" des Menschen in einer für die
Erfahrung zugänglichen Weise zusammen. Neben grundsätzlichen
Anfragen an die „Methode der Korrelation" kritisiert der Vf. aber,

daß die Schuldfrage bei Tillich „zeittypisch verdeckt" sei von der
Frage nach dem „Sinn" (vgl. S. 127).

Innerhalb von Teilhard de Chardins „evolutiver Weltanschauung"
sind das Übel und die Sünde eine unvermeidliche Begleiterscheinung
der Evolution. Der Erbsünde kann so eine „kosmische Natur" zugesprochen
werden (vgl. S. 167). Denn in der „evolutiven Schöpfung
kommt das Viele in seiner schrittweisen Einswerdung . . . nicht umhin
, sich ,mit Schmerzen und Sünden zu durchtränken'; statistisch
gesehen müssen Unordnungen auftreten" (S. 168). Die Sünde kommt
so in einen „Gesamtzusammenhang des Übels" zu stehen (vgl. S. 178)
und liegt doch in der Verantwortung des Menschen, sofern der
Mensch Träger der Evolution wird. Der Vf. unterstreicht, daß Teil-
hards Verdienst vor allem darin bestehe, „der Äußerlichkeit einen
größeren Stellenwert" gegeben zu haben, ohne die entscheidende Stellung
der „Subjektivität" beim Sündigen zu gefährden (vgl. S. 176).

Die letzten drei vom Vf. referierten theologischen Konzeptionen
sind alle dem Anliegen einer gesellschaftlich und politisch relevanten
Anschauung von der Sünde verpflichtet. Für D. Solle ist „Sünde" ein
„gesellschaftlicher Begriff' (S. 192), der vor allem auf einen „Mangel
an weltverändernder Liebe" hinweist (vgl. S. 196). Der Vf. hebt hervor
, daß Solle damit auf „verdrängte . . . soziale Aspekte" der Sündenlehre
aufmerksam macht. Er kritisiert aber die „Ausblendung der
theologischen Dimension" und die damit verbundene „Ethisierung
des Sünden- und Vergebungsverständnisses" (vgl. S. 194). - Als viel
tiefgreifender wird demgegenüber die Behandlung der Sünden-
Thematik bei J. B. Metz beurteilt. Gerade die „politische Theologie"
muß nach Metz „Tod und Schuld als unverdrängbare Dimension
erinnern und behaupten" (S. 214). Sie wendet sich gegen eine abstrakte
Fortschrittsideologie, die ausklammert, daß der Mensch sterben
muß, und gegen den „Entschuldigungsmechanismus", mit dem
sich der emanzipierte Mensch gegen seine Schuld abschirmt (vgl.
S. 215Ff). Nur wenn Menschen in ihrer Schuld vor Gott standhalten,
können sie Subjekte sein, die wirklich an Gottes Überwindung der
Schuld im eigenen Handeln beteiligt sind. - Der Handlungsbezug des
Sündenverständnisses, der bei Solle und Metz erkennbar ist, wird
noch deutlicher in der lateinamerikanischen „Theologie der Befreiung
" (der Vf. bezieht sich vor allem auf G. Gutierrez). Als „Reflexion
über die historische Praxis" versteht sie die Sünde als „strukturelles
" Phänomen. Die „Sünde kristallisiert sich in Strukturen der
Ungerechtigkeit und Gewalt" (S. 256), so daß die Erfahrung der Befreiung
durch Jesus Christus „in den Kampf des Christen gegen die
Sünde in ihrer strukturell konkretisierten Form" Führt (S. 278). Obgleich
der Vf. die theologischen Probleme der Rede von der „strukturellen
Sünde" sieht, bescheinigt er dieser Theologie, daß sie sich ..auf
der Linie von Desideraten an eine moderne Sotcriologic" bewegt,
„wie sie K. Rahner formuliert hat", nämlich auf der Linie einer
„richtig verstandenen Selbsterlösung der Menschheit" (S. 278).

Der erste Hauptteil der Arbeit schließt mit der Konslatierung wichtiger
Tendenzen gegenwärtiger Sündentheologie. Folgende Merkmale
dieser Sündentheologie werden hervorgehoben: 1) Die Aufmerksamkeit
hat sich von der „Erfahrung der individuellen Schuld vor Gott"
auf die „Erfahrung der Macht des Bösen in der Geschichte" verlagert
(S. 294). 2) Die Macht des Bösen wird nicht in „moralischen" Kategorien
beschrieben, sondern als „objektivierte Macht" in der Geschichte
, an der der Mensch mit seiner „personalen" Tat teil hat (vgl.
S. 296). 3) Die Sünde wird passivisch als „Unterlassung" und „Verweigerung
" verstanden, nicht als aktive Wendung gegen Gott (vgl.
S. 298). 4) Es gibt „keine neutrale Rede von Unheil und Sünde .. .,
die von der Erlösungswirklichkeit absieht" (S. 298). Die Erlösung
wird aber zugleich immer auf ihre Bedeutung für die Befreiung des
Menschen aus „objektiven sozialen Strukturen" bezogen (S. 299).
5) Darum kommt dem menschlichen Handeln bei der Überwindung
der Sünde „eine ungemein große Bedeutung" zu (S. 300).

Über diese Feststellungen kommen auch die Analysen des Redens
von Schuld und Sünde in den „neueren Glaubensbüchern" nicht hinaus
. Der Vf. analysiert den „Holländischen Katechismus" (S. 31611).