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Ausgabe:

1984

Spalte:

429-430

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Kooij, Arie van der

Titel/Untertitel:

Die alten Textzeugen des Jesajabuches 1984

Rezensent:

Hermisson, Hans-Jürgen

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Seite 1

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429

Theologische Literaturzeitung 109. Jahrgang 1984 Nr. 6

430

" P. Barguet, Le Livre des morts des anciens Egypticns, 1967. vgl. ThLZ97,
1972 Sp. 819-821; J.-C. Goyon, Rituels funeraires de l'ancienne Egypte.
1972.

' J. Assmann, Ägyptische Hymnen und Gebete. Zürich-München 1975 =
Die Bibliothek der alten Welt.

' Hymnen und Gebete S. 351-353; die Übersetzung von Barucq-Daumas
S. 236-239 konnte noch nicht berücksichtigt werden.

? Literatur in der «Bibliographie de la deuxieme partic»(S. .311-316); ferner
E. v. Nordheim. Der große Hymnus des Echnaton und Psalm 104. Gott und
Mensch im Ägypten der Amarnazcit und in Israel. In: Theologie und Menschenbild
. Ewald Link .. . gewidmet. Frankfurt/M. - Bern - Las Vegas 1978.
S. 51-74.

* Hymnen und Gebete S. 215-221.

' E. Hornung. Meisterwerke altiigyptischer Dichtung. Zürich-München
1978.S. 69-73.

" Vgl. J. Assmann, in: Göltinger Miszellenö. 1973. S. 9-32; 25. 1977.
S. 38 f.

* Die Anleihen an Amarnahymncn in der Phraseologie eines Hymnus des
eklektizistisch gestalteten Pctosiris-Grabes in Tuna cl-Gcbcl aus frühptolemäi-
schcr Zeit (vgl. zuletzt Barucq. L'expression de la louange S. 318) besagen noch
nicht, daß es eine ungebrochene Kontinuität des Sonnengesangs in Ägypten
und eine jahrhundertelange Strahlkraft bis nach Israel gegeben hat.

Altes Testament

Kooij, Arie van der: Die alten Textzeugen des Jesajabuches. Ein Beitrag
zur Textgeschichte des Alten Testaments. Freiburg/Schweiz:
Universitätsverlag; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1981. XI,
374 S. gr. 8* = Orbis Biblicus et Orientalis. 35.

Die Textgeschichte des Jesajabuches verdient aus mancherlei
Gründen besondere Aufmerksamkeit. Für Jesus Sirach war (der
ganze) Jesaja der „größte Prophet", und das Jcsajabuch war Für die
Theologie und die Zukunftserwartung vieler Zeiten wichtig. Das spiegelt
sich auch, wie die hier vorgelegte Arbeit zeigen kann, in der frühen
Tcxtgeschichtc des Buches. Die gelehrte Untersuchung gilt den
spezifischen Problemen im Arbeitsbereich der Textkritik, aber sie
kann ein weil darüberhinausgehendes Interesse beanspruchen, weil
sie den Nachweis zu fuhren sucht, daß die „produktive" Phase der
Tcxtgestaltung mit der Kanonisierung durchaus nicht abgeschlossen
war. auch wenn die Tradentcn sich nunmehr anderer Mittel bedienten
und den Text nur mit seinem „richtigen" Sinn wiedergeben wollten.
Damit ergeben sich neue Gesichtspunkte für die Auslegungsge-
schichtc wie für die Beurteilung der alten Textzeugen und ihr Verhältnis
zum masoretischen Text.

Van der Kooij beschränkt seine Arbeit auf die Textzeugen, die unmittelbar
auf eine hebräische Vorlage zurückgehen, und auf den Zeitraum
von 200 v. Chr. bis 400 n. Chr. Nachdem er als Ziel der Textkritik
„die Tcxtgestalt . .. auf der Stufe der letzten Redaktion" eines
Buches bestimmt hat (9), stellt er die Frage nach dem Abschluß des
Jesajabuches und ermittelt dafür mit einer Skizze der Redaktions-
gcschichtc das Ende des 6. Jh. Die Frühansetzung des Beginns der
Textgeschichte hat aber für die Arbeit keine unmittelbaren Folgen,
weil mit der Septuaginta zu Jes der älteste Textzeuge erst im 2. Jh.
v. Chr. anzuireffen ist.

Der untersuehte Zeitraum ist in drei Abschnitte unterteilt. Die erste
Periode (200-75 v. Chr.) wird durch die „alte" Septuaginta des Jcsaja-
buchs (LXX Jes) und die erste Jesaja-Handschrift aus Qumran
(IQJes'1) repräsentiert. Die zweite Periode (bis zum Ende des Bar
Kosiba-Aufstands 135 n. Chr.) wird vertreten durch die zweite Qum-
ranhandschrift (IQJesb). die griechischen Übersetzungen von Theo-
dotion und Aquila und das aramäische Jesajatargum. Für die dritte
Periode (bis 400 n. Chr.) sind die griechische Übersetzung von Sym-
machus, die syrische Übersetzung (PcsJcs) und schließlich die lateinische
Übersetzung des Hieronymus (VulgJes) zu berücksichtigen.

Für jeden der alten Textzeugen wird zunächst der Text vorgestellt
und das Verfahren des Tradentcn mit einer Reihe von Beispielen
charakterisiert. Ein besonderes Interesse gilt der Frage nach der historischen
Herkunft (Datierung, Abfassungsort, Verfasser). Schließlich
wird das Verhältnis des Textzeugen bzw. seiner Vorlage zur (prae-/
proto-)masoretischen Überlieferung bestimmt und der textkritische
Wert beurteilt.

Forschungsgeschichtliche Übersichten und eine gründliche Auseinandersetzung
mit der wichtigeren Sekundärliteratur runden die Darstellung
ab. so daß man im ganzen ein anschauliches und mit vielen
Beispielen ausgestaltetes Bild der Textgeschichte des Jesajabuches
erhält.

Das Interesse an der historischen Herkunft hängt mit der besonderen
Aufmerksamkeit zusammen, die der Verfasser der interpretierenden
Textüberlieferung widmet. In Anknüpfung an Seeligmann (zur
LXX) u. a. stellt er ein reichhaltiges Material zur Diskussion, in dem
Textvarianten nicht durch bloße mechanische Fehler oder mangelnde
Sprachkenntnisse und auch nicht allein als sprachliche Modernisierung
(so vor allem in einem grundlegenden Aufsatz von E. Y. Kutscher
zu IQJesa, der hier zunächst überwiegend zustimmend referiert
wird) zu erklären seien, sondern als aktualisierende Interpretation,
insbesondere als Erfüllungsinterpretation, aber auch aktualisierte
eschatologische Erwartung. Was für das Targum geläufig ist, spielt
also auch für die meisten anderen Textzeugen eine gewichtige Rolle.
Dabei können z. B. Buchstabenvertauschungen gerade zur exegetischen
Methode gehören und nicht auf bloßem Versehen beruhen;
Methoden der Midraschexegese sind auch bei der Textüberlieferung
zu berücksichtigen.

Das ist im Grundsatz eindrucksvoll und überzeugend; im Detail
und in der Durchführung ist der Wahrscheinlichkeitsgrad der gefundenen
Ergebnisse verschieden. Hinsichtlich der Verfasserfrage kommt
van der Kooij zu recht pointierten Aussagen: so stammt LXX Jes von
einem schriftgclehrten Priester und Anhänger der Oniaden in Leonto-
polis und wurde im Jahre 140 abgefaßt: IQJesa wurde im gleichen
Jahr vom „Lehrer der Gerechtigkeit" persönlich in einem Zelt oder in
einer Höhle von Qumran geschrieben (weshalb denn auch nicht einer
den anderen beeinflußt haben kann); Theodotion schrieb sein Werk in
der Schule von Hillel dem Älteren um die Zeitenwende; das Prophe-
tentargum (ebenso wie das Onkelos-Targum zum Pentateuch) stammt
von dem Oberpriester Eleazar aus Modein, dem Enkel Bar Kosibas,
aus dem Jahr 132 n. Chr.: ein gelehrter judenchristlicher Priester aus
Edessa verfaßte um 162 n. Chr. die PesJes*Symmachus aber war Jude
und um 200 n. Chr. Schüler und Bewunderer des Patriarchen R. Juda
I. - am Ende bedauert man fast, daß Hieronymus kein Anonymus ist!
Das Schlußverfahren ist manchmal ähnlich kühn wie das der alten
Tradentcn und Interpreten.

So kommt van der Kooij auf den „Lehrer der Gerechtigkeit" als Verfasser (!)
der ersten Jesajarollc von Qumran. weil in der Anfangsphasc der Gemeinde
nach IQpHab2,8f nur er eine inspirierte Neuinterpretation prophetischer
Texte habe geben können. Das Datum 140 v.Chr. soll aus dem Zusatz „bis
heute" in Jes 47.12 und dem fehlenden Vers 12b folgen, denn 141 wurde Babylon
durch den Parther Mithridates I. eingenommen. Schließlich muß es sich sogar
um die Originalrollc handeln, weil man sonst doch eher eine neue Rolle
geschrieben als Ergänzungen zugefügt hätte.

Wen wie den Rezensenten solche Folgerungen noch nicht ganz
überzeugen, der kann sie getrost beiseite lassen, ebenso wie den allzu
frühen Abschluß der Jesaja-Rcdaktion. Das Buch verliert damit kräftige
(aber zum Teil schwer beweisbare) Pointen, aber nicht seine Substanz
. Sic liegt in einer Fülle von Einzelbcobachtungcn, die oft überzeugen
oder jedenfalls ernsthaft diskutiert zu werden verdienen: sei es
zum Verständnis einzelner Varianten, sei es darüberhinaus zum
methodischen Vorgehen der alten Textzeugen, sei es schließlich zur
Geschichte des Bibcltextcs. So ist die Arbeit von Bedeutung nicht nur
für die Auslegung des Jesajabuchs. sondern für das ganze Feld alttcsta-
mentlichcr Textkritik.

Angesichts zahlreicher orthographischer f ehler des deutschen Manuskripts,
die man dem Autor natürlich nicht anlasten kann, möchte man wünschen, daß
Herausgeber oder Verlage maschinenschriftlichen Druckvorlagen in dieser
Hinsicht noch größere Aufmerksamkeit widmen.

Tübingen Hans-Jürgen Hermisson