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Ausgabe:

1983

Spalte:

905-906

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Meier, Kurt

Titel/Untertitel:

Volkskirche 1918 - 1945 1983

Rezensent:

Wendelborn, Gert

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Seite 1

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905

Theologische Literaturzeitung 108. Jahrgang 1983 Nr. 12

906

anpaßt und einpaßt. Eine solche Reformation verwirklicht längst
betriebene Absichten des Rates gegen den Stadtklerus und kommt
anstehenden Wünschen der Bevölkerung in bezug auf Kult, Fasten
und Leistungen für die Kirche entgegen. Ein Glück für Nördlingen,
daß es damals gerade diesen Luther in Wittenberg gab, der den Weg
zur Erreichung der angestrebten Ziele ebnen half! Mit Recht wird die
Frage gestellt, ob dieses Mittelmaß reformatorischen Geschehens
nicht auch in vielen anderen Städten anzutreffen ist. Auf jeden Fall
aber wird es deutlich, wie gerade im Mittelmäßigen und Alltäglichen
die Entwicklungslinien zu einer Veränderung hin drängten, für die
Luther dann den geschichtlichen Rahmen und die theologische
Begründung gegeben hat. Daß er von so vielen und so unterschiedlichen
Kräften als die Führergestalt angesehen wurde, daß er eine
geschichtlich notwendige Leistung vollbracht hat, wird gerade auch
von einem solchen aufs Ganze gesehen unbedeutenden Ort wie Nördlingen
her einsichtig. Darin liegt bei aller Beschäftigung mit lokalen
und biographischen Einzelheiten der allgemeine reformationsgeschichtliche
Wert der Arbeit.

Friedewald b. Dresden Karlheinz Blaschke

Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des
XVI. Jahrhunderts

Zwei der bedeutendsten deutschen Bibliotheken, die Bayerische
Staatsbibliothek in München und die Herzog-August-Bibliothek in
Wolfenbüttel geben jetzt ein großangelegtes Nachschlagewerk unter
dem Titel „Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen
Drucke des XVI. Jahrhunderts (VD 16)" heraus, das mit Unterstützung
der Deutschen Forschungsgemeinschaft erarbeitet worden ist
und das man als das größte und anspruchsvollste Projekt der Neukatalogisierung
alter Bibliotheksbestände bezeichnet hat. In rund 40
großformatigen Bänden von je 800 Seiten Umfang werden die bibliographisch
exakten Beschreibungen von 90 000 im Jahrhundert der
Reforrriation erschienenen Büchern geboten, aufgegliedert in 3 Abteilungen
mit zusammen rund 330 000 Titelaufnahmen. Der erste Band
dieses im Verlag Anton Hiersemann in Stuttgart erscheinenden Standardwerkes
wurde bereits ausgeliefert.

Kirchengeschichte: Neuzeit

Meier, Kurt: Volkskirche 1918-1945. Ekklesiologie und Zeitgeschichte
. München: Kaiser 1982. 79 S. 8' = Theologische
Existenz heute, 213. Kart. DM 12,-.

Das schmale Bändchen behandelt in konzentrierter Form ein
Grundproblem der deutschen evangelischen Kirchengeschichte des
20. Jh., das keinen Christen unbeteiligt lassen kann und entsprechend
kontrovers beurteilt wird. Der Rez. kann diesem leidenschaftlichen
Votum für die Volkskirche in seinen bei aller vornehmen Zurückhaltung
doch sehr eindeutigen Wertungen nur sehr bedingt zustimmen,
er begrüßt aber, daß hier viel interessantes Material zur eigenen
Urteilsfindung zusammengetragen ist, darunter neben Vertrautem
auch kaum noch Bekanntes. M. wendet sich zunächst der kirchlichen
Situation in der Weimarer Republik zu und erörtert nacheinander die
liberale Konzeption einer freien demokratischen Volkskirche - auch
in ihrem mehr elitären Flügel-, die religiös-sozialistische Konzeption
einer zum Proletariat hin offenen Volkskirche, die vor allem von
Dibelius, aber überhaupt von der Mehrzahl der Pfarrer geforderte
Wiederherstellung der „religiös-ethischen Kulturrelevanz des Christentums
", um maßgeblich an der „geistigen Wertbildung und
-Propagierung" beteiligt zu sein, die stärker konfessionell lutherisch
geprägte Konzeption des Kieler Praktischen Theologen Walter Bülck,
die als Institution verstandene Volkskirche primär als Verkündigungsanstalt
zu gestalten, in der die Laien freilich nur als Objekt begriffen
wurden, das von bewußten Lutheranern im Unionsbereich wie
Wilhelm Zöllner vertretene Verständnis einer Amts- und Bekenntniskirche
und das Bestreben von Männern wie Gerhard Hilbert und -
stärker pietistisch beeinflußt - Erich Stange, auf dem Boden der
Volkskirche in Anknüpfung an Gedanken, die Luther 1523-26
äußerte, die Kerngemeinden deutlicher als Missionsfaktor zu profilieren
. Für M. ist entscheidend, daß alle diese Konzeptionen am Gedanken
der Volkskirche festhielten und daß selbst der zuletzt behandelte
K. Barth einen profanen Außenaspekt der Kirche anerkannt habe.
Sind aber nicht wichtiger die von liberalen Protestanten, religiösen
Sozialisten und nicht zuletzt von Dialektischen Theologen angestellten
Überlegungen zu einer Erneuerung der Kirche mit ihrem kritischen
Potential? Wie wenig es befriedigen kann, das Plädoyer für
Volkskirche an sich in den Mittelpunkt der Betrachtung zu rücken,
zeigen die Ausführungen M.s zur Situation unter der Nazi-Herrschaft.
Die entscheidende Frage, ob Volkskirche als Kirche für nordische
Herrenmenschen oder als Ort der Verkündigung des Wortes Gottes in
seinem Zuspruch und Anspruch, die sich an alles Volk richten, begriffen
wird, tritt nicht hervor. Für den Zeitraum 1933 bis 1945 bezieht
der Verfasser gelegentlich auch .gemäßigte' D. C. in die relevante
volkskirchliche Möglichkeit ein. Zeigt aber nicht gerade dies augenfällig
die Problematik der Überordnung „realhistorischer" Gesichtspunkte
über das Entscheidung und Scheidung mit sich bringende Gotteswort
?

Es stellen sich gerade dem evangelischen Christen in der DDR also
prinzipielle Fragen nach der rechten, zeit- und ortsgerechten Gestalt
der Kirche Jesu Christi, und man kann M. nur dankbar dafür sein, daß
er für eine ekklesiologische Sachdebatte ein so reiches Material übersichtlich
bereitstellt. Die Frage ist nur, ob es forderlich ist, die Akzente
so zu setzen, wie M. es tut. Auch hier hängt sehr viel an bestimmten
Grundvoraussetzungen der jeweiligen Glaubensposition, die als
solche offen diskutiert werden müssen. Es geht freilich auch um die
rechte Wertung und Einordnung der Erfahrungen, die Christen im
deutschen Sprachbereich in der langen geschichtlichen Epoche seit
1945 gemacht haben. Auch ist zu fragen, ob M. die realgeschichtlichen
Auswirkungen des zähen Festhaltens der großen Mehrheit der
Christen in der DEK 1933-45 mit einem sich gegen Ende der NS-
Herrschaft deutlich noch verstärkenden Trend völlig richtig beurteilt.
Seine Sicht erhellt bereits aus der von ihm gewählten Überschrift des
betreffenden Abschnitts seiner Darlegungen: „Resistenzfaktor Volkskirche
". Er spricht in diesem Zusammenhang von schwer durchbrechbaren
sozialpsychologisch wirksamen Schranken gegen die Verbreitung
der NS-Ideologie unter evangelischen Christen, von einem
pluriformen und differenziert wirksamen Störfaktor im „Dritten
Reich". In einem gewissen Maße stellte die bestehende Volkskirche
sicher einen solchen Störfaktor dar, aber es ist die Frage, ob er - für
sich stehend - gegen den braunen Gewaltstaat Bestand gehabt hätte.
Die Vorgänge 1933/34 sprechen leider eine andere Sprache, zeugen
sie doch von einem erschreckend schnellen Erosionsprozeß im deutschen
evangelischen Kirchentum. Auch stellt sich ja die Frage, welche
Alternative denn dieses Volkskirchenkonzept in der Folgezeit bot, ob
sie zu den Gegebenheiten vor 1933 zurückkehren oder mutig in der
geschichtlich gebotenen Weise Neuland beschreiten konnte und
wollte. War sie wirklich in der Lage, angesichts der so unterschiedlichen
Situation in den Westzonen bzw. der BRD und in der SBZ bzw.
DDR jeweils wegweisend zu wirken? War nicht gerade in der DDR
von Christen klar zu durchschauen, daß die volkskirchliche Gestalt
der Gemeinde Jesu Christi zwar eine geschichtlich sehr langfristige
Phase dieser, aber nun eben doch nicht ihre einzig mögliche Gestalt
darstellt? Waren nicht neben den zweifellos vorhandenen starken
auch die schwachen, gefahrlichen und überlebten Seiten dieser zu
beachten? Und ist wirklich das selbstgenügsame Ghetto, das keiner
von uns will, die einzig mögliche Alternative zur Volkskirche? Wir
werden geduldig darüber reden und streiten müssen.

Rostock Gert Wendelborn