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Ausgabe:

1983

Spalte:

56

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Titel/Untertitel:

Basisgemeinden und Befreiung 1983

Rezensent:

Wendelborn, Gert

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Theologische Literaturzeitung 108. Jahrgang 1983 Nr. 1

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Croatto kennzeichnet diese Dialektik als hermeneutischen Zirkel. Der
Text als eine vieldeutige linguistische Struktur öffnet sich einer neuen
Interpretation von einem neuen Kontext her. Da aber jede Interpretation
als vermeintlich einzig richtige den Sinn des Textes abschließen
will, ist neue Sinnaneignung nur im Kampf möglich. Durch Einschließen
dagegen wird der Sinn zerstört. Natürlich ist das neue Ereignis,
von dem her die Befrei.ungstheologen alle biblischen Texte deuten
wollen, das der ganzheitlichen und sämtliche Menschen einbeziehenden
Befreiung, so daß es sich um eine dezidiert politische Lektüre
der Bibel handelt. Das Risiko und die Gefahren eines solchen Verfahrens
liegen auf der Hand. Dennoch: Sollte nicht Croatto der Unterscheidung
von tötendem Buchstaben und lebendig machendem Geist
bei Paulus wie beim jungen Luther unter einem bestimmten Aspekt
erstaunlich nahe kommen? Prien gibt auch einen summarischen
Überblick über die Geschichte des Protestantismus LAs in diesem
Zeitraum, dabei Brasilien heraushebend, aber auch die Ansätze zu
übergreifender Zusammenarbeit in geographischer wie in konfessioneller
Hinsicht besonders beleuchtend. Einwanderungs- und Missions
-Protestantismus, Freikirchen, evangelikale Gruppierungen und
Pfingstler werden voneinander abgehoben und die gesellschaftlichen
Hintergründe und Auswirkungen ihrer Haltung trefflich beleuchtet.
Prien verdeutlicht, daß der Protestantismus in LA, indem er sich v. a.
an intellektuelle Eliten und das Bürgertum wandte, kapitalistische
Prozesse und die für diese erforderlichen Verhaltensweisen begünstigte
, was gegenüber einer kolonialistisch-feudalen Geisteshaltung
ein Fortschritt war, zugleich aber Entfremdungsprozesse neuer Art
förderte. Erst auf ihrer 1. Versammlung 1978 in Mexiko hätten ökumenisch
offene evangelische Kirchen LAs - 110 aus 16 Denominationen
- den politischen Bewußtseinsstand von Medellin erreicht.

Es kann nicht überraschen, daß im Laufe der 1970er Jahre der
Widerstand gegen den Geist von Medellin und die Theologie der Befreiung
sich zusehends versteifte. Es ist an sich niemandem zu verübeln
, daß er die.se Theologie - die erste originale kath. Theologie des
Subkontinents, der ihre Gegner keinen geschlossenen Entwurf entgegenzustellen
wissen - nicht widerspruchslos hinnimmt. Jedoch ist
die Antithese gerade in diesem Falle primär Ausdruck politischer
Aversion: Mit der Befreiungstheologie soll christliches Streben nach
grundlegendem Gesellschaftswandel zugunsten der bisher Unterdrückten
und Marginalisierten getroffen werden. Es ist das besondere
Verdienst des Beitrages von Jose C o m b 1 i n, bis zu sei ner A usweisung
aus Brasilien theologischer Berater Erzbischof Cämaras, diese Hintergründe
im Detail aufzudecken. Ebenso wie Dussel betrachtet er die
XIV. CELAM-Versammlung in der bolivianischen Stadt Sucre im
November 1972, auf der der kolumbianische Weihbischof Lopez Tru-
jillo zum neuen Generalsekretär gewählt wurde - er ist seit 1979 Vorsitzender
-, als die Kehre des CELAM. Diese steht in direktem Zusammenhang
mit dem Rechtsruck auf dem Subkontinent, der zur Errichtung
mehrerer von der Doktrin der Nationalen Sicherheit geleiteter
Militärdiktaturen führte. Es gelang der Rechten, die Herrschaft
in der CELAM wiederzuerlangen, es gelang ihr jedoch nicht, in vollem
Einvernehmen mit mehreren Sektoren der Kurie die
III. CELAM-Konferenz in Puebla 1979 zum Ort der Abrechnung mit
der Befreiungstheologie zu machen, obgleich Lopez Trujillo, Veke-
mans und dezidierte theologische Gegner der Befreiungstheologie wie
B. Kloppenburg auf Vortragsreisen und durch Veröffentlichungen
diese Abrechnung systematisch vorbereiteten und das Konsultationsdokument
als erstes Ergebnis der Vorbereitung auf Puebla in diesem
Geist abgefaßt war. Es ist sehr verdienstvoll, daß Comblin wie auch
Prien in seinem abschließenden wichtigen Beitrag über Puebla die
unterschiedlichen Phasen der mehrjährigen Vorbereitung auf diese
Konferenz erhellen und den Weg vom Konsultationsdokument über
den Widerspruch einiger nationaler Bischofskonferenzen und das darauf
erstellte Arbeitsdokument bis zum Abschlußdokument Pueblas in
minutiösem Vergleich dem Leser erschließen. Nicht minder aufschlußreich
ist der Vergleich des in Puebla schließlich einmütig angenommenen
Textes mit den darauf von den Kreisen um Lopez Trujillo

und Baggio noch in Puebla und an der Kurie ohne Wissen der
Bischöfe LAs vorgenommenen Änderungen, die das Abschlußpapier
der Konferenz dem kirchenoffiziellen Standpunkt in Formulierungen,
die als brisant empfunden werden, annähern wollen. Auch die von der
kath. Bischofskonferenz in der BRD veröffentlichte deutsche Übersetzung
enthält weitere Veränderungen. Oft handelt es sich hierbei nur
um Nuancierungen eher stilistischer Art, insgesamt aber stellen sie
eine deutliche Abschwächung des dort Beschlossenen dar. Trotzdem
kann Prien zeigen, daß die integralistische Konzeption für Puebla
scheiterte, wenn auch das Abschlußdokument von mancherlei unbefriedigenden
Kompromissen nicht frei ist. Es kam wohl zu Warnungen
, aber nicht zu einer Verwerfung der Befreiungstheologie, obgleich
deren Vertreter von einer Mitwirkung völlig ausgeschlossen waren,
während die Doktrin der Nationalen Sicherheit verurteilt wird. Dies
ist am meisten der brasilianischen Bischofskonferenz zu verdanken,
die sich am entschlossensten gegen das Bestreben v. a. der Bischofskonferenzen
in Argentinien und Kolumbien wehrte, Medellin grundlegend
zugunsten einer traditionell-risikofreien Theologie und einer
kapitalistischen Entwicklungskonzeption zu revidieren. Auch das so
fruchtbare Experiment der - schon über 160 000 - Basisgemeinden
darf weitergeführt werden.

Rostock Gert Wendelborn

Reiser, Antonio, u. Paul Gerhard Schoenborn [Hrsg.]: Basisgemeinden
und Befreiung. Lesebuch zuf Theologie und christlichen Praxis
in Lateinamerika. Wuppertal: Jugenddienst-Verlag 1981. 384 S. 8'

Den beiden Herausgebern ist sehr dafür zu danken, daß sie uns erstmals
im deutschen Sprachraum eine so reichhaltige Sammlung (67
Texte) zum Selbstverständnis lateinamerikanischer Basisgemeinden
(= BG) (seit 1975) zur Verfügung stellen, die durch das Schlußdokument
der 4. internationalen Konferenz der ökumenischen Vereinigung
der Theologen der Dritten Welt vom Februar/März 1980 in Sao
Paulo eingerahmt werden. Sie stammen zu einem großen Teil aus Brasilien
, wo die BG eine besondere Rolle spielen, doch sind neben
vielen süd- auch die mittelamerikanischen Länder gebührend berücksichtigt
, in denen das Ringen um gesellschaftliche Veränderung besonders
dramatisch ist. Erklärungen von Bischöfen stehen neben Erfahrungsberichten
von BG; der berühmte peruanische Campesino-
Katechismus „Vamos caminando" kann gut mit anderen katechismusartigen
Lehrstücken verglichen werden. In den BG entstandene
neue Lieder sind ebenso zu finden wie Agitationsmaterial in Gestalt
von Comics und Postern. Alle Texte sind sehr direkt. Die für kath.
Verlautbarungen ungewöhnliche neue Sprache als die Sprache des
Alltags der niederen Schichten entspricht den neuen Inhalten. Noch
unmittelbarer als in der Befreiungstheologic werden geistliche Aussagen
in den Dienst politischer Zielsetzungen gestellt. Allen möglichen
Einwänden zum Trotz ist dabei festzuhalten, daß hier in der
solidarischen Integration in den politischen Befreiungskampf des Volkes
auch neue geistliche Erfahrungen gemacht werden: Die Teile der
lateinamerikanischen Kirche, die sich diesem Lernprozeß öffneten,
bestimmen sich neu als eine dem Volk gerade in seinen armen und
unterdrückten Teilen fest verbundene Gemeinschaft, die sich nicht
länger als Instrument der Herrschenden und als Opium des Volkes
mißbrauchen läßt, sondern sich in den Dienst des hereinbrechenden
Reiches Gottes stellt, das ein Leben der Fülle und mündigen Reife für
sämtliche Menschen bedeutet und in der gemeinsamen befreienden,
zum Opfer bereiten Praxis schon heute zeichenhaft antizipiert wird.
Darunter verändern sich auch Christologie und Mariologie. In der
Nachfolge des gekreuzigten und auferstandenen Gottessohnes, der
sogar als „Genosse Jesus" angesprochen werden kann, und in fester
Verbindung mit dem armen Mädchen Maria, das das Magnificat betete
, wird man hineingezogen in den Heil und Wohl schaffenden Liebeswillen
Gottes für alle.

Rostock Cicrt Wcndelborn