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Ausgabe:

1980

Spalte:

169-173

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Herrmann, Siegfried

Titel/Untertitel:

Zeit und Geschichte 1980

Rezensent:

Wagner, Siegfried

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Seite 1, Seite 2, Seite 3

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Theologische Literaturzeitung 105. Jahrgang 1980 Nr. 3

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biblische Tradition analysiert und interpretiert. Die Perspektiven
zur Arbeit schließen mit der berechtigten Feststellung, dafj
„ethisch nicht legitimiert werden kann, wenn der Arbeitende
nicht im Vollzug seiner Arbeit zu seinem Recht kommt" (369).
Daraus ergibt sich für die Freizeitproblematik, daß sie nur gelöst
werden kann, wenn die Arbeitsbedingungen humanisiert
werden. Erst wenn Arbeit als sinngebend erfahren werden
kann, ist der Weg auch zu echter Muße frei, die dann nicht
mehr suspensive und kompensatorische Funktionen zur Arbeitswelt
erfüllen muß (394). Im Unterschied zu Freizeitbetätigungen
, die letzten Endes doch auf die notwendige Arbeit bezogen
bleiben, wird die Muße so verstanden, „dafj es Betätigungsfelder
im menschlichen Dasein gäbe, in denen sich der
Mensch selbst genügen kann, weil er durch sie keine anderen
Ziele zu setzen braucht" (395). Dieses an der vita contempla-
tiva gewonnene Ideal der Muße scheint allerdings für den
Menschen der Gegenwart eher eine Utopie als ein konkret faßbares
Ziel zu sein. Das Kapitel enthält schließlich Aussagen über
den Begriff der „Qualität des Lebens" und Aspekte zur Entwicklungshilfe
und fordert zur „kämpferischen Solidarität mit
den Armen" auf, wie sie in Nairobi vertreten wurde (433).

Der letzte Teil" sammelt Phänomene aus dem Umfeld der
menschlichen Kultur, die ethische Relevanz aufweisen. Das
betrifft unter anderem die „Sprache als Träger von Sittlichkeit
" sowie die Ethik der Kunst. Weil man Kunst und Sittlichkeit
von der Erfahrung her parallelisieren kann, können
Kunstwerke ethischen Modellcharakter erhalten; „nach Elementen
der Kontrasterfahrung, der Sinnerfahrung und der
Motivationserfahrung" soll das Kunstwerk für das theologischethische
Verständnis aufgeschlossen werden (489). Bemerkenswert
ist der Versuch, die sprachliche Kommunikation als Voraussetzung
und ursprüngliches Feld sittlichen Handelns zu
analysieren (457). Die Beiträge über „Bildung und Sittlichkeit",
„Frömmigkeit als Thema der Ethik" und „Ethik und Ethos"
wirken als Marginalien; dabei drängt sich die Frage an die
Themenauswahl auf, warum etwas das Thema der Kirche als
eines wichtigen Ortes für das sittliche Handeln keine Berücksichtigung
gefunden hat.11 Die Ekklcsiologie hat durchaus
auch ethische Komponenten, die in diesem fünften Teil des
zweiten Bandes ihren Platz hätten finden können.

Eine Rezension eines solchen Handbuches kann nicht mehr
leisten, als den Aufbau des Werkes nachzuzeichnen und einige
Akzente auf zentrale Beiträge zu setzen. Den Herausgebern

ist im Blick auf den zweiten Band insgesamt zu danken, dafj
sie konkrete Fragen nicht umgangen haben, auch wenn im
einzelnen nicht alle Wünsche an ein Handbuch der Ethik erfüllt
sein mögen. Daß die besondere gesellschaftliche Umwelt,
in der das Buch geschrieben und gedruckt worden ist, manche
Fragen ausblendet, wird dabei auch sichtbar. Man kann aber
andererseits feststellen, daß in vielen Beiträgen Impulse für
die soziale, politische, wirtschaftliche und kulturelle Humanisierung
menschlicher Lebensbedingungen gegeben werden, die
ein Umdenken in der Gesellschaft erfordern (z. B. 66ff. 261.
411ff. 432f). Wenn die Herausgeber in der Einführung die
Hoffnung ausgesprochen haben, „mit diesem Werk einen redlichen
und sachlich verantwortbaren Beitrag zur Ökumene geleistet
zu haben" (7), so kann man nur bestätigen, daß — vielleicht
abgesehen von dem rein katholisch konzipierten und
verfaßten ersten Teil des ersten Bandes — die interkonfessionelle
Kooperation gelungen ist, so daß das Handbuch einen
erstaunlichen Konsensus in Fragestellungen und Lösungsvorschlägen
zwischen römisch-katholischer und evangelischer theologischer
Ethik belegt. Besser als manche Lexika und zum
Teil auch als manche Lehrbücher verdeutlicht das Handbuch
die umfangreichen Probleme, mit denen christliche Ethik sich
heute auseinanderzusetzen hat.

I Vgl. A. Langner (Hrsg.), Theologie und Sozialethik im Spannungsfeld der
Gesellschaft, 1974, 76 ff.

J K. Barth, Ethik I 1928, hrsg. v. D. Braun, 1973, 53.

3 F. Furger, Zur Begründung eines christlichen Ethos - Forschungstendenzen
in der katholischen Moraltheologie, in i Theologische Berichte 4, hrsg. v. J.
Pfammatter u. F. Furger, 1974, 38. Auf Furgers Bericht stützen sich die Angaben
dieses kurzen Überblicks.

4 Vgl. K. E. Logstrup, Die ethische Forderung, 1959.

5 W. Trillhaas, Ethik, 31970, 22.

6 Vgl. H. Schulze, Theologische Sozialethik - Grundlegung, Methodik, Programmatik
, 1979.

7 Vor allem bei J. Fletcher, Moral ohne Normen?, 1967.

8Z. B. W. Korff, Theologische Ethik - eine Einführung, 1975. Im WSrterbuch
christlicher Ethik, hrsg. v. B. Stoeckle in der Herderbücherei, 1975, erscheint
wohl das Stichwort .Ethik', aber nicht mehr „Moraltheologie".

0 E. Wolf, Sozialethik - Theologische Grundfragen, hrsg, v. T. Strohm, 1975
behandelt im zweiten Teil „Die Institutionen als von Gott angebotener Ort
der Bewährung in Verantwortung" (168-289) und versteht Institutionalität als
das für das Wesen des Menschen konstitutive Gegenüber zu den Institutionen
des Bundes, der Ehe und des Eigentums.

10 F. Bäckle, Fundamentalmoral, 1977, 70 ff. beruft sich dafür auf die Summa
Theologiae des Thomas von Aquino.

II Vgl. die These von der .Kirche als Beziehungsfeld ethischer Reflexion"
bei P. L. Lehmann, Ethik als Antwort - Methodik einer Koinonia-Ethik, 1966,
38 ff.

Allgemeines, Festschriften

Herrmann, Siegfried: Zeit und Geschichte. Stuttgart—Bcrlin-
Köln-Mainz: Kohlhammer [1977] 167 S. 8° = Kohlhammer
Taschenbücher 1002. Biblische Konfrontationen, Kart.
DM 10,-.

Dieses Büchlein ist gut geschrieben. Wer es zur Hand nimmt,
legt es erst dann wieder weg, wenn er es ganz gelesen hat.
Was den Leser stark berührt, ist das leidenschaftliche Engagement
des Vf. bei der Sache. Siegfried Herrmann ist zugleich
ganz Theologe und ganz Historiker. Und den Fachmann interessiert
schon, wie bei Herrmann Geschichtswissenschaft und
Theologie übereinkommen. So ist die Darstellung in diesem
Taschenbuch ein Stückweit Rechenschaftslegung über die genannte
eigene „Doppelexistenz", wie sie eigentlich jedem Ex-
egeten vorzunehmen aufgegeben ist. Daß da zuweilen schier
unerträgliche Spannungen entstehen, wird jedem Theologen
schon nach den ersten Studiensemestern deutlich, und der interessierte
nachdenkliche „Laie" verspürt in der vorfindlichen
Diastase zwischen Theologie und Gemeindefrömmigkeit das
Spannungsfeld, das er nicht zu benennen versteht („Theologengezänk
"). So sind in die Vorführung von Sachinformationen
über das Thema „Zeit und Geschichte" — versteht sich im
Verständnis der alt- wie neutestamentlichen Texte — immer
wieder Reflexionen grundsätzlicher Art über Geschichte und
Theologie und beider Verhältnis zueinander eingefügt, in denen
der Autor seine Position zu erkennen gibt. Das beginnt
schon in dem als „Vorspiel" bezeichneten Abschnitt über die
„historische Zigarre", in welchem der Bochumer Alttestament-
ler dem Leser pädagogisch sehr geschickt anhand einer mehr
oder weniger beglaubigten historischen Anekdote aus dem
Bericht über die Schlacht von Königgrätz im Sommer 1866
und ihrer Widerspiegelung in Schulbüchern und Geschichtsdarstellungen
, filmischen und bildkünstlerischen Interpretationen
das Problem von Geschichtsereignis, seiner Deutung und
Darstellung ins Bewußtsein zu rücken versteht. Eindrücklich
tritt hervor, welche entscheidende Rolle der jeweilige gesellschaftliche
Standort und Kontext des Historikers für das Sagen
von Geschichte spielt und wie eben auch Anekdote, Legende
und Überlieferungsschichtung schon meinungsbildcnd und
-prägend und ihrerseits geschichtswirksam werden können.
„Das .Postulat der Wertfreiheit' [J. Habermas) ist in den historischen
Wissenschaften eine Selbsttäuschung, weil keine Zeit
ablösbar ist von Wertvorstellungen, die sie prägt und be-