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Ausgabe:

1980

Spalte:

439-441

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Neufeld, Karl H.

Titel/Untertitel:

Adolf Harnacks Konflikt mit der Kirche: Weg-Stationen zum "Wesen des Christentums" 1980

Rezensent:

Kaltenborn, Carl-Jürgen

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Theologische Literaturzeitung 105. Jahrgang 1980 Nr. 6

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ken bestimmt und seine Lebensgeschichte zu einer der „beachtenswerten
deutschen Autobiographien des 18. Jahrhunderts
" gemacht haben. In umsichtiger Auswertung der modernen
Jung-Stilling-Forschung, die durch G. Stecher und
M. Geiger angeregt wurde, zeigt Benrath eindrücklich den
Wandel auf, der Jung-Stillings Lebensbild und Selbstdarstellung
prägt. In den ersten drei Teilen seiner Lebensbeschreibung
hat Jung-Stilling eine reizvolle dichterische
Verklärung seiner Jugendschicksale dargeboten, die nicht
nur im Zeitalter der Empfindsamkeit anziehend gewirkt hat.
Demgegenüber sind in den beiden letzten Teilen die Ereignisse
nur noch chronikartig aneinandergereiht. Dafür tritt
hier Stillings Leitgedanke, die Führung durch die göttliche
Vorsehung, um so nachdrücklicher in den Vordergrund.
Auf diese Weise spiegelt die „Lebensgeschichte" tatsächlich
den ganzen Jung-Stilling wider. Aus seiner Jugendfrömmigkeit
sind noch „die frohen, freudigen Klänge der frommen
Aufklärung" zu vernehmen. Das Leben erscheint als
göttliche, gute Führung und Fügung, sein harmonischer,
sinnvoller Gang läßt auf einen göttlichen Lebensführer
und Weltenlenker schließen. Die individuelle Überzeugung
von der „Providentia Dei specialissima" und das Vertrauen
auf die göttliche „Providentia Dei generalis" bilden also
für den jungen Stilling eine sinnhafte Einheit. Das Verhältnis
zwischen Gott und Mensch erscheint in den frühen
Teilen der „Lebensgeschichte" fast selbstverständlich als
die Beziehung von Vater und Kind und wird jedenfalls
durch kein trennendes Schulderlebnis getrübt.

Die schmerzvollen Erfahrungen der Elberfelder Jahre
haben Jung-Stilling zu der vertieften Einsicht gebracht, daß
Gott durch läuterndes Leiden den Menschen zur Selbstüberwindung
führen will. Erschien ihm bis dahin der Arztberuf
als höchste und letzte Bestimmung seines Lebens, so
befällt ihn jetzt ein tiefgehender Verdruß an der medizinischen
Praxis, die seiner Meinung nach zu wenig festen
wissenschaftlichen Grund besaß, um der Gefahr der Charla-
tanerie entgehen zu können. Die Erfahrungen in Kaiserslautern
, Heidelberg und Marburg lassen nunmehr die akademische
Lehrtätigkeit zum Endziel seiner göttlichen Lebensführung
werden. Und doch erlebte Jung-Stilling 1803,
in seinem 63. Lebensjahre, noch einmal eine große berufliche
Wende, als ihm durch Kurfürst Karl Friedrich von
Baden das freie Wirken eines religiösen Schriftstellers ermöglicht
wurde.

In seinen schicksalsreichen drei Ehen erfährt Jung-Stilling
manche innere Prüfung und Reifung. Die Beschäftigung
mit Kant befreit seinen Glauben von der Gefährdung durch
den Determinismus. Zugleich aber erfolgt der endgültige
Bruch mit der frommen Aufklärung. Nunmehr weiß sich
Jung-Stilling zum Zeugen der Wahrheit berufen. In einer
Zeit, „die am Christus-Ekel kränkelt", wird er nicht müde,
sich angesichts des nahenden Endgerichts für das allein
„wahre altevangelische System" des christlichen Glaubens
und Lebens einzusetzen. So wird Jung-Stilling mehr und
mehr zum Bahnbrecher der Erweckungsbewegung weit über
Deutschland hinaus.

Möge die von Benrath besorgte Neuausgabe der vollständigen
„Lebensgeschichte" zu einem neuen, vertieften Verständnis
jenes entscheidenden Abschnitts unserer Frömmigkeitsgeschichte
beitragen, dem Jung-Stillings Leben
und Wirken in einzigartiger Weise gegolten hat!

Marburg (Lahn) Winfried Zeller

Neufeld, Karl H.: Adolf Harnacks Konflikt mit der Kirche.

Weg-Stationen zum „Wesen des Christentums". Inns-
bruck-Wien-München: Tyrolia 1979. 223 S. 8°= Innsbrucker
theologische Studien, 4. Kart. DM 38,—.

Die Innsbrucker Habilitationsschrift Karl Neufelds ist aus
Vorstudien zu dessen Pariser Dissertation (vgl. unsere Besprechung
ThLZ 104, 1979 Sp. 212-214) erwachsen. „Bei der
erneuten Beschäftigung mit diesem Material gewann es über

die historische Information hinaus... mehr und mehr Eigengewicht
; denn es dokumentierte gleichsam parallel und bisweilen
auch im Gegensatz zur wissenschaftlichen Theologie
Harnacks die existentiell christliche Linie seines Lebens".
(Vorwort, 5).

N. setzt in der vorliegenden Untersuchung die Linie seiner
Harnack-Interpretation aus der Dissertation konsequent
fort: Die in der Existenz Harnacks engverbundenen Fragen
nach dem „Wesen des Christentums" und nach der Kirche
sind ihm „das Kernproblem und der Schlüssel seines wissenschaftlichen
Werkes, seiner Theologie". (179) „Vor allem
steckt darin aber das Zentrum seines Christseins als Leben
in der Welt." (ebd.). Mit unüberhörbarer Kritik gegenüber
der „dialektischen Theologie" formuliert N. am Ende seiner
Arbeit: „Während der Jahre des Weltkrieges und im letzten
Jahrzehnt seines Lebens scheint sich der Berliner Gelehrte
vollends und endgültig von den Fragen der Kirche und des
Christentums abzukehren. Sein wachsender Einfluß macht
sich im politischen, kulturellen und wissenschaftlichen Bereich
geltend, nicht dagegen im kirchlichen ... Dieser Auszug
in die Diaspora bedeutet dennoch für diesen Mann nichts
anderes, als die eigene christliche Verpflichtung zu leben. Es
ist seine Art, Mission zu treiben . .. vielleicht lebte Harnack
so den universalen Anspruch des Evangeliums ... überzeugender
und wirksamer als viele seiner jüngeren Zeitgenossen
in diesen zwanziger Jahren. Mit dem damaligen lauten
Protest und den definitiven Urteilen über die Theologie
und den Glauben der älteren Generation war ja eine Darstellung
des Christentums verbunden, die zwar vorgab,
endlich dessen wahrem Wesen gerecht zu werden, in Wirklichkeit
aber die Christenheit in ein noch engeres Getto einzuschließen
drohte." (180).

N.s Untersuchung gliedert sich in drei Teile nebst einem
Anhang (181—204) mit „Übersicht zur Quellenlage für das
Werk Adolf von Harnacks" und einem rekonstruierten
Briefwechsel zwischen Harnack und seinem Dorpater Lehrer
und Onkel, Moritz von Engelhardt. Im I. Teil versucht der
Autor den Hintergrund zu erhellen, vor dem das Harnack -
sche „Wesen des Christentums" zu verstehen ist. Dabei
knüpft er zunächst an klassische Stellungnahmen zu Harnacks
„Wesen des Christentums" an, verfolgt die Bemühungen
um das „Wesen des Christentums" von Feuerbach
über Hegel bis zu Harnack und skizziert die Situation des
deutschen Protestantismus im 19. Jh. im Blick auf die
„Kirchenfrage".

Der II. Teil zeichnet anhand der Harnack-,.Fälle" bzw.
-Konflikte (Bruch mit dem Vater aufgrund der Veröffentlichung
des I. Bandes seines Lehrbuches der Dogmengeschichte
; Auseinandersetzung über H.s Berufung nach Berlin
; Apostolikumsstreit) den biographischen Anmarsch zum
„Wesen des Christentums". „Harnacks Konflikte mit der
Kirche werden als Etappen auf seinem existentiellen Weg
zum Zeugnis vom .Wesen des Christentums' gesehen." (34).
„Die Parallelen im Leben des heutigen Lesers liegen auf
der Hand und lassen sich leicht benennen: Generationskonflikt
— Bildungskonflikt — Überzeugungskonflikt — Lebensund
Orientierungskonflikt. So bekommt Harnacks persönliches
Schicksal und das dieses Schicksal zusammenfassend
ausdrückende Bekenntnis, ,Das Wesen des Christentums'.
Bedeutung für Wirklichkeiten und Ereignisse, die... heute
jeden treffen können, der sein Christentum ernsthaft und
verantwortlich zu leben versucht." (35).

Das erklärte Interesse der vorliegenden Untersuchung
liegt „nicht bei den historischen Studien als solchen. Unmittelbar
und in erster Linie ist es um das lebendig verstandene
und verwirklichte Christentum zu tun. Unter dieser
Rücksicht signalisiert der innere Zusammenhang der
.Fälle' eine eigentümliche Bedeutung des Christlichen angesichts
einer zunehmenden Bedeutungslosigkeit... ausschließlich
theoretischer Darstellungen. In diesem Licht
wird auch der Sinn des .Wesens des Christentums' und die
Bedeutung der Auseinandersetzungen um diese Vorlesungen
durchsichtig. Was hier zur Sprache kommt, liegt als existen-