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Ausgabe:

1980

Spalte:

210-212

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Immer, Karl

Titel/Untertitel:

Die Briefe des Coetus reformierter Prediger 1980

Rezensent:

Rohkrämer, Martin

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Von diesen römischen Erfahrungen und Erlebnissen leiten
sich, so legt der Vf. nahe, einige eigentümliche Züge in Kapstadts
Verhalten in der folgenden Umbruchszeit her: Die einigermaßen
schonende Behandlung des Prierias, das »papale
Vorurteil" in der Autoritätenfrage, das mit Luthers „konziliari-
stischem Vorurteil" kontrastierte. Und überhaupt ist es nun
diese Frage der in der Kirche gültigen Normen, die anscheinend
nicht zuletzt durch Karlstadts juristische Interessen und
Kenntnisse in den Wittenberger Entscheidungsjahren in den
Vordergrund geschoben wurde und auf deren Lösung im Sinn
der Reformation sich diese Denkrichtung Karlstadts offenbar
besonders auswirkte. In den Beiträgen zur Klärung dieser
Zusammenhänge liegt das wichtigste Verdienst des vorliegenden
Buches.

Der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis in Wittenberg
wird bei B., in Fortführung einer von Karl Bauer begründeten
und neuerdings vor allem in Tübingen gepflegten
Forschungstradition, als der vielschichtige Entscheidungsprozefj
einer wissenschaftlichen Schule dargestellt, in dem die einzelnen
Protagonisten — in den hier zur Debatte stehenden Fragen
erscheint neben Luther und Karlstadt vor allem Melanchthon
als ein solcher — miteinander zusammenwirkten, einander vorwärtstreibend
, aber auch hemmend, und in den doch jeder
zugleich eigene, früher gewonnene Überzeugungen und Einsichten
einbrachte. Wie es scheint, hatte Karlstadt schon in
Rom den Standpunkt vertreten, die ecclesia universalis —
offenbar als die Gesamtheit der institutionell verfaßten Kirche,
nicht jedoch als die Gemeinschaft der Glaubenden verstanden
— sei irrtumsfähig, ein einzelner hervorragender Bibelausleger
sei ihr überlegen. Er hatte sich damit in eine kanonisti-
sche Tradition eingefügt, die der Panormitanus begründet
hatte, und die der Vf. für das frühe 16. Jh. an dem Italiener
Filippo Decio exemplifiziert. Diesen Standpunkt hat Karlstadt
, nach B., in den Anfangsjahren der Reformation bis 1520
auch in Wittenberg vertreten, er lief auf eine „Ekklesiologie
der Sachautorität", nicht der „Amtsautorität" hinaus und war
daher, anders als derjenige Luthers, von vornherein gegenüber
der Institution des Konzils nicht weniger kritisch als gegenüber
der des Papstes, ja bei Karlstadt war sogar, wie schon
angedeutet, dem Papst noch ein gewisser Vorrang an Autorität
zugestanden. Denn Karlstadt entwickelte in seiner großen
Disputation vom 9.5.1518 — deren Interpretation bildet gewissermaßen
das Herzstück des Buches — eine, wie es scheint,
neuartige Theorie über den als Norm geltenden sensus littera-
lis der Schrift, die gegenüber der älteren Scholastik insofern
restriktiv wirkte, als sie nur die „offenkundigen" und „ausdrücklichen
" Aussagen (aperte, expresse) der Bibel als normgebend
anerkannte und damit anscheinend für ein Auslegungsrecht
des Papstes voch viel Raum ließ; Karlstadt lehrte ein
„suprema scriptura", nicht ein „sola scriptum". Entsprechend
finden sich bei ihm in den frühen Jahren keine radikal
papstkritischen Aussagen; Luthers dreizehnter These zur Leipziger
Disputation beispielsweise hat er widersprochen. Die
von Barge aufgebrachte und seither öfters aufgegriffene These
von der Erfindung des reformatorischen Schriftprinzips durch
Karlstadt ist nach diesen Darlegungen also nur in differenzierter
Form zu halten; auch wenn Karl Stadt vor allem im Blick
auf das Konzil gewisse Positionen früher erreichte als Luther,
war er doch insgesamt gesehen eher „konservativ"; Luthers
Wort-Gottes-Theologie war ihm mehr oder weniger fremd,
er blieb, als „papsttreuer Schrifttheologe", im wesentlichen im
Rahmen der herkömmlichen kanonistischen Tradition.

Diese Stellung zu Papst und Kirche hat Karlstadt nach B.
erst im Herbst 1520 aufgegeben, u. zw. angesichts der päpstlichen
Bannandrohung gegen Luther, in die er selbst durch
Eck sekundär einbezogen worden war. Nun gab er alle Zurückhaltung
gegenüber dem Papsttum auf, bald wurde Leo X.
selbst als Ketzer gebrandmarkt, d. h. die kanonistische Theorie
über die Irrtumsfähigkeit des Papstes wurde im konkreten
Fall angewendet. Nun kamen laizistische Tendenzen bei dem
Wittenberger auf, mystische Elemente rückten in den Vorder-

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grund, vor allem aber entwickelte er sich seither zum bedingungslosen
und radikalen Biblizisten. Die juristischen Neigungen
blieben dabei freilich virulent. Sie traten vor allem darin
hervor, daß Karlstadt nun ein ius biblicum entwickelte und
erstmals auf Fragen wie Mönchsgelübdc und Zölibat anwendete
, ja eine Neigung, dem römischen ein „mosaisches" Recht
entgegenzusetzen, lag ihm vielleicht nicht völlig fern — allerdings
dürfte in diesen beiden Hinsichten Melanchthon bis
Ende 1521 eher weitergegangen sein als er.

Das letzte Kapitel des Buches behandelt, etwas unvermittelt,
das letzte Lebensjahrzehnt Karlstadts in der Schweiz (1530—34
in Zürich, 1534—41 in Basel). Hier wird vor allem die Thesenreihe
der „Antrittsdisputation" von Janar 1535 an der Basler
Universität genauer interpretiert, in der der Vf. bei Karlstadt
so etwas wie „humanistische" Tendenzen, die früher kaum
hervorgetreten waren, und eine „stadt-kirchliche" Position
bemerkt, mit dem eigentümlichen juristischen Aspekt, daß
Karlstadt nun offenbar mit einer Verankerung allen Rechtes
in der Schöpfung, in der Gottebenbildlichkeit des Menschen,
rechnete.

Dieser Schlußabschnitt des Buches fällt in der Intensität
und Stringenz gegenüber dem früheren etwas ab, vor allem
nachdem der Vf. zwischen 1521 und 1530 eine ausgedehnte
Lücke eintreten läßt und die Schlußwendung der Lebensgeschichte
Karlstadts damit noch unvermittelter erscheint, als
sie ohnehin war. Die Begründung für dieses Vorgehen, die
juristischen Interessen seien in jenen bewegten Jahren der
Lebensgeschichte Karlstadts in den Hintergrund getreten, wirkt
etwas pauschal. Freilich bringen die disiecta membra am
Schluß noch einmal zur Anschauung, was schon oben als ein
Merkmal der ganzen Arbeit hervorgehoben wurde: Die Umsicht
, die souveräne Zurückhaltung, mit der der Vf. sein Thema
behandelt; er erhebt nicht den Anspruch, mit dem Nachweis
juristischer Strukturen den Schlüssel zu Karlstadts Denken
gefunden zu haben, und erreicht gerade so, wie mir scheint,
daß das Gewicht dieses Nachweises sich aufdrängt. Das Buch
erscheint als eine der wichtigsten, gediegensten Untersuchungen
der frühen Wittenberger Reformation, die wir haben.

Göttingen Bernd Moeller

Kirchengeschichte: Neuzeit

Immer, Karl: Die Briefe des Coetus reformierter Prediger
1933—1937, hrsg. v. J. Beckmann. Präses lic. Karl Immer
zum 60. Geburtstag. Neukirchen—Vluyn: Neukirchener Verlag
des Erziehungsvereins [1976]. XIV, 329 S., 1 Porträt gr.
8°. Lw. DM 28,-.

Die reformierte Gemeinde Barmen-Gemarke, ihr Presby-
terium und ihre Prediger, bildeten ein Zentrum im Kirchenkampf
, dessen Bedeutung über das Rheinland hinausging.
Von Paul Humburg, seit 1934 Präses der Rheinischen Bekenntnissynode
, und von Karl Immer, beide aus dem reformierten
Pietismus stammend, ging die Initiative zur Einberufung der
ersten Freien Synoden Anfang 1934 aus. Immer war es, der
den Bericht über die Bekenntnissynode von Barmen herausgab
. Ein Wort von Johannes ä Lasco „Daß ich lebe, ist nicht
nötig; sehr nötig aber, daß ich der Kirche Christi beistehe"
war für Immer die Richtschnur seines Einsatzes im Kirchenkampf
.

Bereits im September 1933 — nur wenige Tage nach der
Gründung des Pfarrernotbundes in Berlin-Dahlem — setzte
Immers Bemühung um einen Zusammenschluß reformierter
Prediger Deutschlands, „die dem Zeitgeist nicht erlegen sind",
ein. „Ausgangspunkt für unsern Zusammenschluß ist die Not
der Kirche, insonderheit der Zustand der Pastorenschaft, deren

Theologische Literaturzeitung 105. Jahrgang 1980 Nr. 3