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Ausgabe:

1979

Spalte:

120-121

Kategorie:

Kirchengeschichte: Territorialkirchengeschichte

Autor/Hrsg.:

Jürgensen, Kurt

Titel/Untertitel:

Die Stunde der Kirche 1979

Rezensent:

Beste, Niklot

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Reihe von Arbeiten zur amerikanischen Kirchengeschichte hervorgetreten
. So gab er 1960 ein Werk heraus unter einem Titel,
für den auch in Europa kaum geworben zu werden braucht,
weil große Teile der amerikanischen Kirchengeschichte dadurch
eingefangen erscheinen: „The Social Gospel in America
1870-1920".

Der hier anzuzeigende Band trägt neuen Erkenntnissen in
beiden Kontinenten Rechnung. Wie das ganze Werk der von
H. und 0. Chadwick geplanten .Geschichte der christlichen
Kirche' soziale Bezugshorizonte, Institutionen kirchlichen Lebens
, Manifestationen der Volksreligiosilät, Ausprägungen der
Nalionalkultur und geistige Traditionen einbeziehen will, so
findet der Leser speziell in diesem Band reichlich Auskünfte zu
den genannten Probleinkomplexen. All dieses verdient besonders
deshalb Aufmerksamkeit, weil im deutschsprachigen Raum
vergleichbare Literatur in Handbuchform fehlt. Die wenigen
Seilen von Peter Kawerau zur „Kirchengeschichte Nordamerikas"
in dem im Erscheinen begriffenen deutschsprachigen Sammelwerk
(Die Kirche in ihrer Geschichte, herausgegeben von K. D.
Schmidt und E. \ olf, Band 4, Lieferung S, Göttingen 1963)
bekommen durch Handy eine wesentliche Hintergrundinformation
.

Handy ist ordinierter baptistischer Theologe, der bereits von
seiner Ausbildung her in Frömmigkeit und Theologie der
Denominationen Nordamerikas eingeführt wurde, deren entsprechende
Organisationsformell in beiden deutschen Staaten
einen freikirchlichen Status haben. Das große zum Teil recht
unübersichtliche Feld der nordamerikanischen Denominationen,
das selbst Amerikanern oft nicht ganz transparent ist, wird vom
Vf. sorgfältig untersucht. Dabei tritt deutlich in den Vordergrund
die Beachtung der social-gospel-Situation des liberalen
Flügels in der nordamerikanischen kirchengeschichllichen Entwicklung
. Die sachgemäße Aufnahme der ökumenischen wie der
konfessionellen Ausprägung amerikanischen kirchlichen Lebens
ist besonders hervorzuheben, so daß hier zusammengefaßt beleuchtet
erscheint, was für den gelegentlichen Einzelbetrachter
der großen Szene schwer durchschaubar wäre.

Der Vf. ist sich der Schwierigkeil der Aufgabe wohl bewußt.
Die sechs großen Nationen, die seit dem 17. Jh. konkurrierend
ihre Kultur und damit ihre Kirchentümer in die Neue Welt
brachten, haben auf die Entwicklung genauso eingewirkt wie
die Auswanderer, die Europa eben gerade deshalb verlassen
haben, weil sie in Ubersee ungehindert ihres Glaubens leben
wollten. So stand Handy in der Stoffbewältigung vor einer Vielzahl
von Voraussetzungen, die untereinander sehr disparat sind.
Vermutlich wohl deshalb entschloß er sich, chronologisch vorzugehen
, ohne den traditionellen europäischen Kirchentümern
oder den neuen amerikanischen kirchlichen Organisationsformen
eigenständige Kapitel zu widmen.

In jedem der 12 Kapitel ist jeweils die ganze Breite der
kirchlichen Entwicklung verhandelt. Das macht für weniger
eingeweihte Leser die Lektüre des Buches nicht durchgängig
leicht. Immer wieder neu thematisierte Entwicklungsstränge,
die abgebrochen und irgendwann wieder aufgenommen werden
im nächsten oder einem der nächsten Kapitel, lassen die faktische
, zum Teil verwirrende, Vielfalt der Ansätze kirchlichen
Lebens zeichenhaft deutlich werden. Ein Namen und Sachen
zusammen enthallendes Stichwortregister hilft nur bedingt, die
Verlaufsgeschichlc etwa einer kirchlichen Gruppe durch die
Jahrhunderte unkompliziert vor Augen zu bekommen. Die vier
Karten sind zwar nützlich, geben aber nicht genügend her, um
eine Ubersicht auch über die Verbreitung kirchlichen Lebens in
den USA und Canada zu vermitteln. Ganz ausgezeichnet dagegen
ist eine ausführliche Bibliographie (S. 428—449), die
sachgemäß untergliedert und mit knappen, sehr instruktiven
Worten eine Beurteilung der jeweils angeführten Titel enthält.

Nachfolgend seien aus der Fülle der vorgestellten Fakten
wenigstens die Schwerpunkte herausgehoben, die kapilelmäßig
erfaßt worden sind: l. Zu Beginn der nordamerikanischen Kir-
cliengeschichte verpflanzte eine Vielzahl von christlichen Kirchen
ihr jeweiliges Kirchen tum in die Neue Welt. Chance und Last
zugleich waren seit 1650 dadurch markiert (S. 5). 2. Die Kolonialsituation
inachte die Integralion der europäischen Tradi-

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tionskirchen in der Neuen Welt außerordentlich schwierig
(S. 74). Es entstanden neue kirchliche Gruppierungen, deren
steigende Bedeutung in der Allen Welt keine Entsprechung
hatte. 3. Die großen Erweckungen im Amerika der Kolonialzeit
(1720—1775) verursachten große Wandlungen im kirchlichen
und nationalen Leben (S. 115). 4. Der Zusammenprall der beiden
führenden und konkurrierenden Nationen in der Neuen
Welt, das protestantische England und das katholische Frankreich
, halte zwischen 1720 und 1800 Auswirkungen, die weit
über die kirchenpolitische Szene hinausgingen. 5. Zwischen 1775
und 1800 wuchs in der revolutionären Phase der amerikanischen
Geschichte eine Nation unter starker Integrationstendenz der
unterschiedlichen Kirchenkörper orthodox-traditioneller, pie-
tistischcr oder auch sektiererischer Observanz zu Denominationen
, die miteinander zu leben lernten (S. 161).

6. Die nächste Entwicklungsstufe (1800—1860) brachte für die
amerikanische Gesellschaft das Ubergewicht der protestantischen
Denominationen (S. 196), wenn auch die römisch-katholische
Kirche immer die größte Einzelgruppierung blieb. 7. In der
gleichen Zeit wuchsen evangelische Denominationen zu erstaunlicher
Größe mit viel Einfluß, so daß man dem Ziel, Amerika
zu einer „Christian nation" (S. 227) zu machen, mit großen
Schritten näherzukommen gedachte. 8. Die Auseinandersetzungen
zwischen den beiden großen nordamerikanischen Nationen
in derselben Zeit wirkten sich kirchlich zwar nicht in vollem
Maße aus (S. 261), der jeweils nationbezogenc Konsolidierungsprozeß
jedoch nahm auch innerkirchlich seinen Fortgang.

9. Von 1860—1920 standen die Fragen eines amerikanisierten
Christentums, einer kirchlichen Integration der schwarzen (zum
Teil evangelikalen) Brüder und das Sozialengagement der kirchlichen
Gruppen schlcchllüii stark im Vordergrund. 10. In der
Zeit zwischen dem amerikanischen Bürgerkrieg und dem i. Weltkrieg
wuchsen durch Einwanderung und andere Umstände die
kirchlichen Gruppen, die mit den Großkirchen des europäischen
Kontinents zusammenhingen. Evangelistische und missionarische
Impulse auch anderer Denominationen nahmen zu, so daß
Amerika allgemein als christliche Nation angesehen wurde
(S. 343). 11. In Canada entstand der gleiche Eindruck. Es
wurde dort eine Vereinigte Kirche aus verschiedenen protestantischen
Denominationen gegründet. Der Streit zwischen römisch-
katholischer Kirche und evangelischen Denominationen und
zwischen evangelischen Denominationen untereinander schwächte
gleichzeitig die Kirche (S. 376).

12. Von besonderem Interesse ist das Schlußkapital, das einen
Niedergang des Christentums nach dem 1. Weltkrieg konstatiert
. Handy stellt einen großen Prozentsatz der amerikanischen
Bevölkerung in den verschiedenen Denominationen fest (S. 426),
gibt aber keine deutliche abschließende Trendanalyse. Zwar
wächst der Wunsch nach kirchlicher Union, aber die praktische
Zusammenarbeit zwischen den Kirchen, auch zwischen weißen
und schwarzen Christen, erscheint dem Vf. in den Lokalgemeinden
noch zu schwach entwickelt. Auch nach nur wenigen
Einblicken in die amerikanische kirchliche Landschaft wird man
Handy verstehen, wenn der Abschluß seines Buches nichts Abschließendes
bringt. Welche Entwicklungen möglich sind, dieses
aus der Vergangenheit zu begreifen, hat der Vf. durch Vermittlung
seines Uberblickes dankenswerterweise gelehrt.

Berlin Joachim Kogge

JUrgcnscn, Kurt: Die Stunde der Kirche. Die Ev.-Luth. Landeskirche
Schleswig-Holsteins in den ersten Jahren nach dem
Zweiten Weltkrieg. Neumünster: Wachholtz [1976]. II, 474 S.
gr. 8° == Schriften des Vereins für Schleswig-Holsteinische
Kirchengeschichte, Reihe I, Bd. 24.

Der Kieler Historiker Kurt Jürgensen hat dieses Buch dem
Andenken der Bischöfe D. Wilhelm Halfmann und D. Reinhard
Wester gewidmet. Der Vf. will nach seiner Vorbemerkung
dazu beitragen, die Frage zu beantworten: „Wie ist von unten
her — aufbauend auf Gemeinden, Kreisen und Ländern — die
Neuordnung erfolgt, und wie hat diese Neuordnung im kircli-

Theologische Literaturzeilung 104. Jahrgang 1979 Nr. 2