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Ausgabe:

1979

Spalte:

178-179

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Woude, Adam S. van der

Titel/Untertitel:

Micha 1979

Rezensent:

Reventlow, Henning

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Theologische Literaturzeitung 104. Jahrgang 1979 Nr. 3

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sehr vielschichtigen geschichtlichen Vorgang handelt, der sich
über eine lange Zeit erstreckt hat. Schwierigkeiten bereitet der
Seevölker-Forschung auch der weite Rahmen, in dem sich das
Geschehen bewegt. Es fällt in die Arbeitsgebiete verschiedener
Zweige der altvordcrasiatischen Geschichtswissenschaft und der
klassischen Altertumswissenschaft. Verständlicherweise hat der
Ägyptologe bei seiner Auffassung der Vorgänge zunächst die
Darstellungen und Befunde der altägyptischcn Quellen im Blick,
während der Alttcstamentlcr von den Ergebnissen der palästinischen
Altertumskunde ausgeht und der mit Fragen der Frühgeschichte
der griechischen Welt beschäftigte Forscher sich auf
die antiken Quellen und entsprechende regionale archäologische
Untersuchungen stützt. Eine die Grenzen der Regionalforschung
überschreitende und die differenzierten Forschungsergebnisse
und Gesichtspunkte aufnehmende und abwägende
Synthese ist erforderlich, um weiterzukommen. Die Basis für
eine solche Arbeit bietet A. Strobel in der vorliegenden Publikation
, die „mit dem urkundlichen Material möglichst umfassend
vertraut machen" will (1). Berücksichtigt werden dabei
nicht nur schriftliche Urkunden und archäologische Ausgrabungsergebnisse
, sondern auch der neueste Stand in der Auswertung
dieses Materials. Seine spezielle Aufgabe sieht der Vf.
darin, „die Fülle der heute verhandelten Probleme vor allem
für die biblisch-theologische Forschung zu erschließen." Weiterhin
beschränkt er sich nicht auf die Vermittlung von Informationen
, sondern bietet dem Leser zugleich eine kritische Beurteilung
des Materials und der bislang erzielten Forschungsergebnisse
. Es ist St. ausgezeichnet gelungen, dieses weitgespannte
Vorhaben, das eine mühevolle Kleinarbeit erfordert,
zu verwirklichen. Die Mitteilung von Texten und Fakten, die
Erörterung von Hypothesen und Problemen sowie der Aufweis
neuer Fragestellungen verdichtet sich öfters zu einer
spannenden Geschichtsdarstellung.

Seine Untersuchungen gliedert der Vf. in drei große Kapitel.
Das erste befaßt sich unter dem Titel „Seevölker-Sturm in
Historie und Mythos" mit der Rekonstruktion des geschichtlichen
Vorgangs (7—100). Dabei werden die einzelnen Hauptschauplätze
des Geschehens gesondert behandelt, entsprechend
dem Vordringen der Seevölker von Norden nach Süden. Der
besonderen Aufmerksamkeit des Alttestamentlcrs ist die Erörterung
der „Siedlungsgebiete der Seevölker unter der Oberhoheit
des ägyptischen Staats" (72-100) zu empfehlen. Die in
diesem Zusammenhang vorgelegten Beobachtungen zur Rolle
der Philister im palästinischen Siedlungsraum und zum Verhältnis
zwischen Philistern und Israeliten dürften wesentlich
zur Erhellung der Geschichte Israels im 11. und 10. Jh.
v. Chr. beitragen. Das zweite Kapitel behandelt „Die Herkunft
der Seevölker als Problem der Forschung" (101-175). Auch
hierbei erfährt die Philisterfrage eine ausführliche Erörterung.
Schließlich bietet das dritte Kapitel eine Darstellung der
..Kultur und Religion der Seevölker in der Zerstreuung" (177
bis 264). Diese Darstellung vermittelt — vornehmlich auf Grund
der sich nicht immer leicht erschließenden archäologischen Befunde
— ein zusammenfassendes anschauliches Bild vom
Leben der Seevölker in ihren neuen Siedlungsgebieten.

Den mit instruktiven Karten, mit Zeichnungen und nützlichen
Registern1 versehenen Band beschließen einige Schlußfolgerungen
zur Exodus-Thematik im Alten Testament aus der
Sicht des Sccvölkcr-Sturms (265-282). Der Vf. beobachtet eine
„weitgehende Strukturverwandtschaft der spätmykenischen-
griechischen Exodusüberlieferungen und der alttestamentlichen
Exodustradition" (272). Die mit der gebotenen Zurückhaltung
herausgearbeiteten Parallelen sind des Nachdenkens wert, zu-
'nal sie geeignet erscheinen, auch den historischen Vorgang
der Scßhaftwcrdung der nomadischen Israelgruppen im süd-
kanaanäischen Kulturland in mancher Einzelheit zu erhellen.
Allerdings weisen überhaupt Einwanderungserzählungen aus
den verschiedensten Gegenden und Zeiten eine ziemlich enge
Strukturverwandtschaft auf, die letztlich in der Ähnlichkeit
solcher Vorgänge begründet ist.

Der reiche Inhalt des Werkes kann hier selbstverständlich
nur angedeutet werden. Es erhöht seinen Wert, daß St. es
vermeidet, die Darbietung und Auswertung des Materials mit

weitreichenden Hypothesen auszuschmücken. Gleichwohl fehlt
es nicht an Orientierungen für die zukünftige Arbeit. Weiterführend
dürften vor allem zwei grundsätzliche Erkenntnisse
sein, die das trotz seiner Unterschiedlichkeit in einer Reihe
von wesentlichen Momenten erstaunlich übereinstimmende
Quellenmaterial dem Vf. nahelegt: Die eine betrifft die Ursachen
der Seevölkerbewegung am Beginn der Eisenzeit. St.
erblickt sie sicher richtig vornehmlich in tiefgreifenden sozialökonomischen
Veränderungen, ohne den Zusammenhang mit
Naturkatastrophen — wie extreme Dürreperioden — auszuschließen
. Zum anderen erfährt der Charakter des „Seevölkersturms
" eine Präzisierung als eine in den wesentlichen Vorgängen
geplante und organisierte militärische Expansion, die
zunächst von den mykenisch geprägten Kleinstaaten im Westen
Anatoliens getragen wurde.

Berlin Karl-Heinz Bernhardt

1 Das Literaturverzeichnis wird durch ein ausführliches, jeden Verweis aufnehmendes
Autorenregister (283-287) ersetzt - angesichts der großen Zahl der
herangezogenen Publikationen eine gute Lösung. Schade ist es, daß die Bücher
von G. Kehnscherper, „. . . und die Sonne verfinsterte sich" (Halle 1972), und
„Kreta, Mykene, Santorin" (Leipzig-Jena-Berlin 1973) dem Vf. entgangen sind.

Van der Woude, A. S.: Micha. Nijkerk: G. F. Callenbach, 1976,
293 S. gr. 8° = De Prediking van het Oude Testament.

Der neue Micha-Kommentar von A. S. van der Woude in der
niederländischen Reihe, die wissenschaftlichen Charakter und
praktische Anwendung („prediking") verbindet, ist ein recht
originelles Werk. Sein Vf. fordert durch betont eigenständige
Ansichten und durch auffallend sichere und genaue historische
Einzelansetzungen der im Michabuch enthaltenen Stoffe zur
Diskussion heraus.

Bereits bekannt war, daß van der Woude die beiden letzten
Kapitel des Michabuches (Kap. 6—7) für ein selbständiges
Stück hält, das mit dem eigentlichen Micha nichts zu tun hat,
sondern von einem unbekannten Propheten stammt und erst
nachträglich an das Buch angehängt wurde.1 Dieser sog. Dcu-
teromicha wirkte nach seiner Auffassung im Nordreich, u. zw.
wenige Jahre vor dessen endgültigem Untergang. Das ursprüngliche
Michabuch zerfällt in zwei Teile, u. zw. Kap. 1, das
unmittelbar vor dem Fall Samarias entstanden ist, sowie die
eine Einheit darstellenden Kapitel 2—5.

Eine methodische Grundauffassung des Vf. ist seine Ablehnung
der in der neuesten Prophetenexegese herrschenden
traditionsgeschichtlich-redaktionsgeschichtlichen Sicht-, die mit
einem verwickelten Traditionsprozeß der prophetischen Bücher
und (im Gefolge der Gattungskritik) ihrer Entstehung aus
kleinsten Einheiten rechnet, und die Rückkehr zu der älteren
Auffassung, die von größeren einheitlichen Zusammenhängen
ausging. So ist Mi 1,2—16 ein Stück, u. zw., wie Vf. ziemlich
genau zu wissen meint, eine von Micha vor dem Fall Samarias
(722 v. Chr.) gehaltene Predigt, für die er auch den Ort (das
Heiligtum von Lachis) und die Zeit (das Laubhüttenfest) angeben
zu können meint (19f). Mi 2—5 sind ebenfalls ein fortlaufender
Zusammenhang. Zu diesem Hauptteil des Buches mit
seinen zahllosen Schwierigkeiten glaubt van der Woude einen
alles lösenden Schlüssel mit der These gefunden zu haben, daß
diese Kapitel eine durchlaufende Diskussion Michas (aus den
Jahren 713—12) mit seinen Gegnern darstellen, in denen sich
der Prophet (in Kap. 2—3) mit seiner Gerichtsbotschaft gegen
die orthodoxe Heilstheologie der führenden Kreise Judas verteidigt
, die im Gefolge der die alten Verheißungen als weiterhin
gültig proklamierenden Kultusprophcten das Volk in Sicherheit
wiegen, während Micha aufgrund der herrschenden Ungerechtigkeit
und Gottlosigkeit das sichere Gericht anzukündigen hat
(61ff). Dadurch erklärt er den unregelmäßigen Wechsel zwischen
Stücken von Unheils- und solchen mit Heilsprophctic,
der sich in diesen Kapiteln findet. Später (in 4,10—5,14) tritt
allerdings auch Micha selbst als Heilsprophct auf; der Unterschied
zu seinen Gegnern liegt jetzt in der Art und Weise,
wie die Realisierung des Heils erwartet wird (152ff).