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Ausgabe:

1977

Spalte:

121-123

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Waechtershaeuser, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Das Verbrechen des Kindesmordes im Zeitalter der Aufklärung 1977

Rezensent:

Lieberwirth, Rolf

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Theologische Literaturzeitung 102. Jahrgang 1977 Nr. 2

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Unterricht au den Schulen Preußens Hand in Hand gehen
mit einer „übergreifenden konservativ-antidemokratischen
kulturpolitischen Programmatik" (179); obrigkeitsstaat-
liches Handeln und Verwalten — so H. G. Schumann —
bedarf des rhetorischen Disputes nicht, „höchstens der
Festrede als affirmativer Dekoration" (208). Rhetorik-
Verachtung als ein Politikum — auch da, wo sie in theologischein
Gewände erschein! ? Oder Atmdruck einer Furcht,
die durch ein Studium der Rhetorik zu erwerbende Befähigung
EU rhetorischer Analyse könne bestimmte Mechanismen
der Beeinflussung, der 1 ntoressenVerschleierung,
der Machtausübung aufdecken — auch im kirchlichen
Raum ?

/.um Schluß: ein herzlicher Dank für die zwar nicht
vollständige, aber dennoch außerordentlich hilfreiche Bibliographie
„Rhetoriklehrbücher dos 16. bis 20. Jahrhunderts
" von Dieter Breuer und Günther Kopscli (217
bis 355)!

Leipzig Karl-Heinrioh Bieritz

W iii litcrsliiinscr, Wilhelm: Dal Verhrsehei des KlndesmordM im
Zeitalter ier Aufklärung. Eine rechtsgeschiehtliche Untersuchung
der dogmatischen, prozessualen und rechtssoziolo-
gischon Aspekte. Berlin: E. Schmidt [19731- 181 S. gr. 8"
— Quellen und Korschnngen zur St rafrechtsgeschiehtc, hrsg.
v. E. Kaufmann u, H. Holzhauer. 3. Kart. DM 39.—.

Die Aufklärung als Reflexion einer veränderten sozialen
Wirklichkeit beeinflußte seit der zweiten Hälfte des 18.
Jhs. die europäische Rechtsentwicklung in ganz entscheidendem
Maße. Mit ihrem Streben nach autoritätsbefreitem
Denken und nach vernunftgemäßem, vorurteilsfreiem Hantlein
erzeugte diese bürgerliche Gcistcsrichtung auch ein
neues Gerechtigkeitsgefühl, das sich kaum noch mit den
traditionellen strafrechtlichen Auffassungen und mit der
bisherigen, letztlieh auf die Peinliche Halsgerichtsordnung
Karls V. von 1532 zurückgehenden Strafpraxis vereinbaren
ließ. Dor einsetzende Prozeß des Umdonkens löste in der
Strafrechtswissenschaft eine literarische Welle aus, deren
Folgowirkiingon auf Theorie und Praxis ganz allgemein mit
Humanisierung, Rationalisierung und Säkularisierung des
8 traf rechts bezeichnet werden. Als ein hervorzuhebendes
Beispiel für die Humanisierung des Strafrechtes kann die
sich in verhältnismäßig kurzer Zeit ändernde Einstellung
zum Delikt des Kindesmordos gelten, dem Schlüsseldelikt
aller stlofrechtsreformorischen Bestrebungen des 18. .Iiis.
(Radbruch). Dabei geht es um den Kindesmord im strengen
und eigentlichen Sinne, d. Ii. um die vorsätzliche Tötung
eines neugeborenen Kindes durch seine Mutter. Innerhalb
weniger Jahrzehnte erfolgte hiereine Umbewertung des Verbrechens
vom qualifizierten Mord zur privilegierten Tötung,
und an die Stelle der bisher verwirkton Todesstrafe trat
eine Freiheitsstrafe. Nun stellen Rechts- und Gesetzesänderungen
in jedem Staat keine Seltenheit dar. Sie lagen und
liegen in der Macht der jeweiligen Gesetzgeber; aber das
'st hier von untergeordneter Bedeutung. Beachtenswert
Wt allein die Tatsache, daß der Anstoß zu der sieh wandelnden
Auffassung von nicht Jurist iseher Seite erfolgte.
Hier setzt der Verfasser mit seinen Untersuchungen an.

Zunächst gibt er einen kurzen Überblick über die Bewertung
und Behandlung des Kindes mordet in der Straf-
rechtswissenschaft seit dem ersten Reichsgesetz auf dem
Gebiet des Strafprozesses und des Strafrechtes, seit der
Peinlichen Halsgerichtsordnung Karls V. von 1532, und
kommt- zu dem Ergebnis, daß der Kindesmord (infantici-
diurn) in der ersten Hälfte des 18. Jhs. immer noch als ein
leichterer Foll des Verwandtenmordes (parricidium), aber
••och schwerer als Mord (homicidium) behandelt wurde.
Erschwerend kam hinzu, wie der Vf. richtigerweise unterstreicht
, daß die im Hintergrund stehende moralische
Bewert,inj, ,.al|er außerehelichen Sexualbetätigung" nicht

das mindeste Verständnis für die Täterin aufkommen ließ.
Gegen Ende des 18. Jhs. wird in der Strafrechtsliteratur
eine deutliche Abgrenzung des Kindesmordes im engeren
Sinne vom Verwandtenmord vorgenommen und dem Tatmotiv
ein entscheidendes Gewicht beigemessen. Das Delikt
„wurde nun unter dem Gesichtspunkt der psychischen und
physischen Not der Täterin gesehen und das Motiv der Erhaltung
der Geschleehtsehre trat in den Vordergrund",
woraus sich zusätzliche Tatbestandsmerkmale für dieses
Delikt, wie Unehelichkeit., Verheimlichung der Niederkunft
und oine engbegrenzte Begehungszeit entwickelten.
Während sich die Juristen mit diesem Problein in sehr abstrakter
Weise beschäftigten, griffen die Dichter, insbesondere
die junge Generation des Sturm und Drang, aber
auch andere das Kindesmordmotiv in vielfältiger Art auf
und geißelten in diesem Zusammenhang die heuchlerische
Moral. Selbstverständlich geht der Vf. auch auf Goethes
Stellung zu diesem Verbrechen ein. Allerdings übersieht
er bei der Beurteilung des Kindmordfalles vom Jahre 1783,
daß sich (Soethe vor seinem Votum (auch ich) im Geheimen
Consilium eine Woche Bedenkzeit ausgebeten, und
daß er seine Gedanken in einem kleinen, leider verlorengegangenen
,, Aufsatz" niedergeschrieben hatte, weil er sich
„nicht getraue", seine Gedanken hierüber in Form eines
Voti zu fasson" '. Diese Tatsache sollte nicht außer acht
gelassen werden. Sie bestätigt hinsichtlich des Zeitgeistes
im übrigen die Untersuchungsergebnisse des Vfs., der in
seinen weiteren Ausführungen noch den interessanten
Nachweis führt, daß auch das „gebildete Publikum" regen
Anteil an der Kindesmordproblematik nahm, wie aus den
Zuschriften zu Preisfragen jener Zeit zu entnehmen ist,
die, wie 1780 in Mannheim, unter dem Thema standen:
„Welches sind die besten ausführbaren Mittel, dem Kinder-
mord abzuhelfen, ohne die Unzucht zu begünstigen '.'"

Auch der junge Pestalozzi nahm in einor breit angelegten
Schrift dazu Stellung. Er legte — wie auch Kant —
besonderes Gewicht auf das Ehrenrettungsmotiv der Täterin
.

Der sieh in der Rechtswissenschaft, aber mehr und intensiver
noch im außerjuristisehen Bereich vollziehenden
Wandlung in der Bewertung des Kindesmordes standen
jedoch die alten, noch geltenden gesetzlichen Bestimmungen
entgegen. Dieser Gegensatz zwischen neuem
RechtsbewuQtsein und überkommener Rechtswirklichkeit
vergrößerte sieh wahrend der zweiten Hälfte des 18. Jhs.
immer mehr und mußte, zwangsläufig im Bereich der
Rechtsprechung besonders fühlbar werden. Anhand einer
Reihe von Cutachten und Urteilen weist der Vf. Überzeugend
nach, daß sich die Rechtsprechung „interpretaton-
scher Kunstgriffe und der Unsicherheit der Beweiserhebung
, insbesondere soweit es das corpus delicti anging",
bediente, um nicht nur einer mnßvolleren Beurteilung des
Kindesmordes, sondern überhaupt der allgemeinen Tendenz
zu milderer Bestrafung entsprechen zu können.

Anfang des 19. Jhs. zogen auch die Gesetzgeber die
notwendige Konsequenz aus dieser Entwickhing. Den entscheidenden
Durchbruch vollzog das auf einen Entwurf
Feuerbachs zurückgehende Bayerische Strafgesetzbuch von
1813, dem andere territoriale Strafgesetze folgten. Aus dem
Kindesmord Wurde die Kindestötung, die nicht mehr mit
Todesstrafe belegt war. Allerdings soll und darf nicht
verschwiegen weiden, daß die Gesetzgeber aufgrund der
steigenden Zahl der Kindesmord-Fälle auch schon im 18.
Jh. staatliche Präventivmaßnahmen zur Eindämmung
dieses Delikts vorgesehen hatten, wie z. B. die Einrichtung
von Findelhäusern. Darin muß ebenfalls der sich abzeichnende
Wandlungsprozeß gesehen werden, wie aus den
besonders aufschlußreichen Untersuchungen des Vfs. zur
Rechtssoziologie des Kindesmordes zu entnehmen ist.

Mit seiner Arbeit hat der Vf. einen wichtigen Beitrag
für die Strafreehtsgcsclüchto des 18. Jhs. geleistet. Die
interessanten Ergebnisse seiner reehtssoziologischen Unter-