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Ausgabe:

1975

Spalte:

653-656

Kategorie:

Allgemeines

Titel/Untertitel:

Probleme biblischer Theologie 1975

Rezensent:

Wagner, Siegfried

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Theologische Literaturzeitung 100. Jahrgang 1975 Nr. 9

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kirchliche Züge, den Obrigkeiten wurden ausgedehnte
Befugnisse in dor Gestaltung des Kirehenwosens eingeräumt
. Das stand damit im Zusammenhang, daß es
sich jedenfalls in der ursprünglichen Konzeption, die
Zwingli 1523 noch vertrat, um einen nicht von der
Obrigkeit, sondern von dem Staatsvolk her gedachten
Staat handelte.

:(. Diese politischen Disputationen dürften demnach
die früher ausgesprochene These stützen, daß es zum
„Sitz im Leben" der Ursprünge der „reformierten
Kirche" gehört, daß sie in freien Städten beheimatet
waren. Diese Veranstaltungen fanden zum größten Teil
in solchen Städten statt, sie hatten etwas „Städtisches"
an sich — sie bildeten Foren öffentlicher Meinungsbildung
und trugen damit in ihrer Weis* dem Sachverhalt
- Rechnung, daß in den aus dem Spätmittelalter
kommenden Städten „der moderne Begriff der Staatsgewalt
" fehlte und die Herrschaftsstruktur „auf einem
wechselseitigen Treueverhältnis" beruhte14.

Dio meisten dieser Disputationen sind in dem als
Ursprungsland des reformierten Protestantismus heute
genau umschreibbaren Bezirk im Südwesten des deutschen
Sprachgebiets zu lokalisieren, mit den Grenzen
Straßburg, Eßlingen, Ulm, Augsburg, Kaufbeuren,
Appenzell und Ilanz/Graubünden nach Norden und
Osten. Zwei Disputationen fanden in der welschen
Schweiz statt, in Genfund Lausanne. In diesem ganzen
Gebiet gibt es nur drei wichtigere, politisch selbstständige
Städte, die in der frühen Zeit evangelisch
wurden, ohne daß dort eine politische Disputation stattfand
oder erkonnbar geplant wurde, nämlich St. Gallen
und Schaffhausen in der Eidgenossenschaft und die
Reichsstadt Lindau am Bodensoe 14; doch berief man
sich auch in St. Gallen und Lindau, als man im Frühjahr
1528 die Messe abschaffte, auf das Resultat der Disputation
von Bern, an der die maßgebenden Männer
dieser Städte teilgenommen hatten. Man kann demnach
behaupten, es gehöre in dieser frühen Zeit bei den
Zwingli nahestehenden Kirchgründungen die Veranstaltung
einer politischen Disputation regelmäßig und
sozusagen wesensmäßig dazu.

4. Es wäre jedoch anachronistisch, wollte man den
Gescheheiis/usainmoiihang, der uns beschäftigt hat, zu
genau und zu rasch mit Hilfe konfessioneller Kategorien
interpretieren. In dem Zeitraum, in dem diese Disputationen
stattfanden, gab es die reformierte Konfession
noch nicht, man kann ja von einer regelrechten Scheidung
von lutherischem und reformiertem Protestantismus
in Deutschland frühestens seit der Mitte des 16.
Jahrhunderts reden. Zwar ließ bereits der erste Abendmahlsstreit
zwischen Luther und Zwingli in dor zweiton
Hälfte der 1520er Jahre die Denkverschiedonheiteii bei
den beiden Spielarten des Protestantismus zum eisten
Mal in Erscheinung t reten und erzeugte ein Eigenbe-
wußlseiu und ZuMiiiuneugehörigkeitsbewußtsein in
beiden. Doch sah diese Zeit zugleich die intensivsten
und vitalsten Bemühungen um eine Verständigung. So
ist es wahrscheinlich sachgemäßer, die auffallende Vorliebe
für die politischen Disputationen im deutschen
Südwesten nicht auf die Absicht dor betreffenden Orte
und Verantwortlichen, sich der zwingliauischcn Konfession
anzuschließen, zurückzuführen, sondern vielmehr
darauf, daß in diesen Städten mit ihren besonders
ausgeprägten genossenschaftlichen Traditionen die von
ims studierte „Erfindung" Zwingiis besonders einleuchtend
erschien. Erst der Historiker nimmt in den Disputationen
„die Ursprünge dor reformierten Kircho"
wahr.

Daß es sieh so vorhält, ergibt sich nicht zuletzt aus
der Beobachtung, daß es solche politischen Disputationen
nicht bloß im Bereich des Zwinglianismus gegeben
hat. Nur eine beiläufige Erwähnung verdient im

Rahmen unserer Überlegungen jetzt die an sich be-
rühmte und bedeutsame Disputation von Baden im
Aargau 1526 — da wurde für einmal Zwinglis Konzeption
mit katholischem Vorzeichen versehen und gewissermaßen
umgedreht; unter Führung von Johann
Eck machten die katholisch gebliebenen Orte der Eidgenossenschaft
den Versuch, mit Hilfe einer Disputationsentscheidung
Zwingli und Zürich zu isolieren und
den gesamten eidgenössischen Bund erneut auf das Festhalten
an der bisherigen Kirche festzulegen. Wichtiger
als dieses in sich widersprüchliche, sozusagen verzweifelte
und letzten Endes gescheiterte Unternehmen sind
für uns jetzt einige politische Disputationen, die außerhalb
des deutschen Südwestens, also im Bereich des
Luthertums, stattgefunden haben. In Frage kommen,
soweit ich sehe, Disputationen oder Disputationsprojekte
an sioben Orten, nämlich in der Stadt Breslau
1524, in der Reichsstadt Nürnberg 1525, in der Stadt
Hamburg 1527 und 1528, in der Reichsstadt Lübeck ein
Disputationsplan 1530, in dor Stadt Göttingen ein ähnlicher
Plan 1531, in der Stadt Lüneburg eine ausgeführte
Disputation 1532, und schließlich, besonders
merkwürdig, die sogenannte Hornberger Synode in der
Landgrafschaft Hessen 1526, der noch eine Disputation
in Marburg 1527 folgte. An allen diesen Orten finden
sich die wesentlichen Elemente di r zwinglianischen Disputation
wieder, ohne daß jedoch die betreffenden Kirchen
dadurch zu reformierten Kirchen wurden, ja ohne
daß der Zusammenhang mit Zwingli den Verantwortlichen
in jedem Fall bewußt gewesen sein wird — das
Verfahren erschien also auch in Städten als zweckmäßig
und erlaubt, wo im übrigon mehr lutherische
theologische Uberzeugungen herrschten. In Homberg
wurde es 1526 für einmal auch auf ein von einem
Fürsten regiertes weitläufiges Territorium angewandt:
Die Obrigkeit, der Landgraf mit den Ständen, uls Vor
anstalter, alle Pfarrer des Landes versammelt, die Ausweisung
des katholischen Wortführers und eine Kirchen-
ordnung auf der Basis der siegreich gebliebenen Dis-
putationsthesen als Resultat.

Ich schließe, indem ich das Ergebnis unserer Untersuchungen
noch einmal zusammenzufassen suche: Wir
haben, so denke ich, erwiesen, daß es nicht bloß wie
Iiisher angenommen wurde, einen, sondern zwei Wege
gegeben hat, auf denen die Reformation, das heißt, die
Separation von der römischen Kirche und der Aufbau
einer erneuerten Kirche, in Deutschland rochtlich begründet
worden ist. Schon bekannt war uns das Rechtsmittel
der Visitationen, jenes vor allem für Territorien
geeignete Verfahren, die Reformbcdürftigkeit der Kirche
festzustellen, für das Luther und Melanehthon in
eindrucksvoller Weis«' theoretisch und praktisch den
Grund gelegt haben. Das Mittel der politischen Disputationen
, das sieh in den Städten besonders nahelegte,
und in dem in eigenartiger und bedeutender Weise eine
Vereinigung städtischer und roformatorischer Prinzipien
gelang, wird als das zweite Verfahren zu gelten
haben, mit dessen Hilfe eine Rochtsbegründung der
Reformation unternommen worden ist.

1 Dor folgende Aufsatz basiert auf meiner Abhandlung*
Zwinglis Disputationen. Studien zu den Anfängen dor Kir-
chenbildung und des SynodalwctienR im Protestantismus-
L Teil (Zs. der Savigny-Stiftung f. Rochtsgosch., Kun. Abt-
56, 1970, 276—324); EL Teil (ebd. 60, 1974, 213 -304), und
sucht sie in Richtung auf den im Titel genannten Mach vorhält
weiterzuführen. Die Abhandlung bietet weitläufige Quellennachweise
, so daU ich mich hier darauf beschranken ■•"*»
die direkten Zitate zu belegen.

» A. O. Dickens, The Oorman Nation and Martin Luthe*»
London 1974, 182.