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Ausgabe:

1974

Spalte:

706-709

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Menne, Ferdinand W.

Titel/Untertitel:

Kirchliche Sexualethik gegen gesellschaftliche Realität 1974

Rezensent:

Schulz, Hansjürgen

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Theologische Literaturzeitung 99. Jahrgang 1974 Nr. 9

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scharfen Reaktionen herausgefordert werden und „ausweglose
Situationen" herbeigeführt werden, empfiehlt
der Vf. den Einsatz staatlicher Gewalt nach dem Vorbild
des Taft-Hartley-Gesetzes, das den Präsidenten der
USA ermächtigt, in Lohnkämpfe einzugreifen. Hierin
sieht der Vf. „ein sehr wirksames Mittel zur Beeinflussung
der Situation" (123).

„Die Auflösung der Klassengesellschaft zur pluralistischen
Gesellschaft" (124) wird als erfreuliche Tatsache
ohne Alternative vorgestellt. Zum Erweis der
Richtigkeit der pluralistischen Wirtschaftstheorie werden
detaillierte Ausführungen über das „Interesse"
(127-131), über die „Organisation" (131-133) und über
die „Macht" (133-136) vorgelegt. Sie sind aber den Beweis
ihrer Richtigkeit und Brauchbarkeit in der Praxis
des westeuropäischen Wirtschafts- und Währungs-
gefüges bisher schuldig geblieben wie auch alle Thesen
Dahrendorfs.

Zur Durchsetzung dieser ökonomischen Ziele müssen
besondere Machtniethoden entwickelt werden: „Die
Autoritätsordnung des Betriebes erreicht ihren Zweck,
eine Vielzahl von Menschen zu kooperativer Leistung
zu bringen, durch die ,Disziplinierung' dieser Menschen"
(76f.). Aber leider stößt der hier ausgeübte Druck auf
Widerstand, „denn der Mensch ist nicht voll domestizierbar
" (77).

S. umreißt durch Beispiele aus der Praxis der Wirtschaft
(43f., 67 u.ö.) die Aufgabe verantwortlich handelnder
Christen in der pluralistischen Gesellschaft dahingehend
, von der Basis des kapitalistischen Systems
aus den Arbeitern und Angestellten hier und dort gewisse
,Rechte' zu verschaffen und ihnen dazu zu verhelfen
, gelegentlich kleine ,Freiheiten' zu beanspruchen,
ohne dabei den .sozialen' Frieden zu stören. Was der
Christ gegen die den sozialen Frieden bedrohenden überhöhten
Profite der Unternehmer und Aktionäre, gegen
vorenthaltenes Mitbestimmungsrecht und gegen Ausbeutung
durch multinationale Konzerne unternehmen
kann, erfährt er nicht. Der Vf. laßt die sich aus der
Struktur der Klassengesellschaft und ihrer Machtverhältnisse
sowie aus dem gegenwärtigen Stand der
Verteilung von Gewinn, Grund und Boden und Produktionsmitteln
in der BRD ergebenden Konfliktsituationen
unberücksichtigt. Der Vf. ist der Ansicht,
daß die Mensehen unaufhebbar und zwangsläufig für
die Zeit ihres Lebens in eine Vielzahl laufend wechselnder
Interessen verstrickt seien und daß sich in dem alles
beherrschenden „Gesetz der Konkurrenz" letztlich „die
Freiheit für alle" ausdrücke. Die „Dynamik und Mobilität
der modernen Gesellschaft" läßt die Ansprüche aller
Interessengruppen zu ihrem Recht kommen.

Diese Grundvoraussetzung S.s, deren theologische
Aufarbeitung und deren biblischen Problemfeldzug man
gänzlich vermißt, hat sich sachlich und historisch als
Irrtum herausgestellt. Was sollen die Arbeiter und Angestellten
in der BRD von einer christlichen Sozialethik
halten, die in ihrem Ansatz auf Thesen beruht,
deren Unrichtigkeit sie täglich erfahren müssen?

Im letzten Teil, „Der soziale Konflikt als Problem
der theologischen Ethik", werden systematische Aussagen
zu sozial-ethischen Fragen gemacht (145-234),
über „Das Interesse und die Liebe", „Interesse und
Gerechtigkeit", „Interesse und Gemeinschaft". Besonders
interessante Fragen werden im Abschnitt „Der
Konflikt und der Frieden" (165 212) behandelt. „Für
den Christen gibt es keine Gegnerschaft, die so tief
geht, daß die Verantwortung für den Gegner nicht mehr
bestünde" (185, zit. v. Rudolph).

Entsprechend seiner Position des Pluralismus mit
einer dem Leser suggerierten Standpunktlosigkeit
gegenüber Macht und Profit beendet S. seine Ausführungen
folgerichtig mit einer Skizze einer,,Ethik der
Ungewißheit" (230). Zwar müsse das Wort „Ethik der
Ungewißheit" dem Theologen ärgerlich klingen: „Es
ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von
dir fordert..." (Mi 6,8). Aber der Begriff brauche nicht
grundsätzlich der Wahrheit entgegenzustehen. „Gesellschaftlicher
Pluralismus ist für eine christliche
Sozialethik nur dann auch als Ziel akzeptabel, wenn er
nicht auf den Status quo, sondern auf Wandel bezogen
und somit ein Feld tätig gestaltender Verantwortung ist.
Und dieser Wandel - das weiß der Glaubende - hat
seinen Sinn nicht in sich selbst, sondern in seiner Offenheit
für eine Zukunft, die jede Situation noch in einem
ungleich tieferen Sinn als das erweisen wird, was sie ist:
umstrittene Situation" (234).

S. versucht, den Pluralismus erstmalig auch in die
evangelische Ethik einzuführen. Aber wem können seine
Ausführungen eine Hilfe sein? Es hat sich herumgesprochen
, daß die als „Sachzwänge" und „unabänderliche
Gegebenheiten" angeführten Beispiele aus
der Wirtschaft in vielen Staaten mit sozialistischer Wirtschaftsstruktur
längst überwunden und in ihren sozialökonomischen
Gegebenheiten verändert worden sind,
worauf S. aber mit keinem Wort hinweist.

Ob S. es wahrhaben will oder nicht: Seine Methoden
der Konfliktkontrolle und Konfliktregulierung wirken
sich vornehmlich zum Vorteil der Unternehmer aus.
Seine Ausführungen lassen keinen Zweifel darüber aufkommen
, daß sein Ausgangspunkt die Konfliktauffassung
der Arbeitgeber ist.

Dem Leser drängen sich unwillkürlich zwei grundsätzliche
Bedenken gegen diese Methode der Konfliktforschung
auf:

Der Gedankengang S.s basiert auf einer ideologischen
Fixierung, die eine wissenschaftliche Analyse, die den
liberalen Rahmen Dahrendorfscher Wirtschaftstheorien
sprengt, ausschließt.

S.s Bemühungen werden in ihrer Tendenz zum Werkzeug
der Monopole und ihres Staates, da sie Konflikte,
die durch Unterdrückung und Ausbeutung des größeren
Teils der Bevölkerung entstehen, auf ein Minimum beschränken
sollen und so zur wissenschaftlichen „Rationalisierung
" dieser Unterdrückung beitragen und damit
zur „Befriedungsforschung" werden. Ob der Vf. bedacht
hat, was etwa ein Christ in Südamerika zu einer
derartigen Arbeit sagen wird?

S. will die Haßwirkungen des sozialen Konflikts beseitigen
, aber dabei nicht an ihre Ursache gerührt wissen
: die Herrschaft des Kapitals und der Monopole. Er
selbst nimmt mit seiner Stellungnahme gegen den
Kommunismus und Vorstellungen von einem möglichen
„dritten Weg" (205 u.ö.) eine einseitige Klassenposition
ein. Kann bei dieser Ausgangsstellung heute eine sozialethische
Arbeit im protestantischen Bereich noch mit
Verständnis und Breitenwirkung in den Gemeinden
rechnen?

Orelfswnld Gflnthnr KelinBclicrppr

Menne, Ferdinand W.: Kirchliche Sexualethik gegen gesellschaftliche
Realität. Zu einer soziologischen Anthropologie
menschlicher Fruchtbarkeit. München: Kaiser; Mainz:
Matthias-Grünewald-Verlag [1971]. 279 S. 8° = Gesellschaft
und Theologie. Sozialwissenschaftliche Analysen, hrsg. v.
D. Goldschmidt, O.Schreuder, T. Strohm u. L.Vaskovics
unter Mitarb. v. J.M. Lochman, T. Luckmann, T.Rcndtorff
u. W.Zapf, 5. DM 22,-.

Nach einigen begrifflichen Vorklärungen wird die
Tntention der Arbeit beschrieben: „In ihr wird ein Versuch
gemacht, darzustellen, welche Werte die beiden