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Ausgabe:

1972

Spalte:

43-45

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Ozment, Steven E.

Titel/Untertitel:

Homo Spiritualis 1972

Rezensent:

Moeller, Bernd

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Theologische Literaturzeitung 97. Jahrgang 1972 Nr. 1

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man angenommen hatte. Demgegenüber sind die wissenschaftlichen
Ausgaben eben ein unentbehrliches Handwerkszeug
für die Forschung. Gerade von da her ist der großen
Mühe, die sich die beiden Bearbeiter auch dieses Bandes
mit dem Abschluß des Briefwechsels Luthers in der Weimarer
Ausgabe gegeben haben, uneingeschränkt und mit
großer Dankbarkeit anzuerkennen. Gerade auch die mühevolle
Arbeit der Nachtragsbände hat eine solche Fülle an
Material zutage gefördert, daß man ihr nur mit Erstaunen
gegenüberstehen kann.

Der Umgang mit der Abteilung Briefwechsel in der WA
wird freilich nicht ganz einfach sein, weil man sich immer
wieder in den Nachtragsbänden versichern muß, wie es
im einzelnen um die Darbietung in den Textbänden und
den entsprechenden Kommentaren zu den einzelnen Briefen
steht. Insofern ist das zu erwartende Register in ganz besonderer
Weise unentbehrlich. - Der sehr komplizierte
Satz ist sauber durchgeführt. Druckversehen lassen sich nur
sehr selten beobachten - und „natürlich" begegnen sie, wie
so häufig, im Vorwort (S. XII, Z. 12).

Ernst Wolf t

Ozment, Steven E.: Homo Spiritualis. A comparative Study
of the Anthropology of Johannes Tauler, Jean Gerson,
and Martin Luther (1509-1516) in the Context of their
Theological Thought. Leiden: Brill 1969. X, 226 S.
gr. 8° = Studies in Medieval and Reformation Thought,
ed. by H. A. Oberman, 6. Lw. hfl. 36,-.
Der amerikanische Kirchenhistoriker sucht dadurch ein
neues Bild von der frühen Entwicklung und Wandlung
der Theologie Luthers zu gewinnen, daß er sie mit dem
theologischen Denken der beiden für Luther wichtigsten
Vertreter der spätmittelalterlichen Mystik, Tauler und
Gerson, konfrontiert. Der Verfasser schließt sich methodisch
in gewissem Maß an die in den letzten Jahren
erschienenen großen Monographien von Leif Grane und
Reinhard Schwarz an, in denen Luthers Herauswachsen
aus dem Bannkreis der nominalistischen Scholastik dargestellt
worden war und durch die dieses Verfahren, Luthers
theologische Entwicklung durch die Analyse der Einflüsse
und des Selbständigwerdens aufzuhellen, als angemessen
und fruchtbar erwiesen worden ist. "The Reformation
demands interpretation within its systematic dialogue with
the late medieval period", so heißt es im Vorwort, und
der Vf. formuliert damit eine in der Reformationsforschung
der letzten Jahre allgemeine Überzeugung, die uns beachtlich
vorangebracht hat.

Allerdings folgt O. den genannten älteren Arbeiten nur
zum Teil. Das ist von der Thematik her - da die Auseinandersetzung
Luthers mit der Mystik einen anderen biographischen
Anlaß und andere Art hatte als die Auseinandersetzung
mit der Scholastik - begründet, aber auch
von der abweichenden Zielsetzung des Vf.s: Er ist
der Meinung, gerade in der Konfrontation mit dem Denken
der Mystiker komme Luthers „master-idea" - die er
mit einer Wendung aus den Randbemerkungen zu Tauler
(WA 9, 103,40 f.) umschreibt: Homo Spiritualis nititur
fide - besonders klar zur Geltung, ja es gehe Luthers
Scheidung von der Mystik seiner Scheidung von der
Scholastik zeitlich und sachlich voraus - der Vf. spitzt
seine Meinung über Luthers frühe reformatorische Theologie
bis zu dem programmatischen Satz ZU: "Luther's
Reformation theology originates in and develops as a
highly polemical answer to the anthropology of late
medieval mystical theology" (3). Der Widerspruch gegen
Aristoteles und den Nominalismus folgte erst aus den im
gedanklichen Ringen mit Tauler und Gerson gewonnenen
neuen Einsichten.

Dies ist eine in der Tat neuartige Sicht der Dinge. Denn
nuch wenn in der Forschung die einstmals gelegentlich

laut gewordene Meinung, der „junge Luther" sei überhaupt
nur ein wiedererwachter Tauler (A. V. Müller), längst
aufgegeben und die sachliche, „objektive" Verschiedenheit
von Mystik und früher reformatorischer Theologie in
mannigfaltiger Weise nachgewiesen worden ist, so bestand
doch, soweit ich sehe, eine Art von common sense darin,
daß Luther selbst diesen Sachverhalt erst verhältnismäßig
spät wahrgenommen habe, und mit einer „Polemik" des
jungen Luther gegen die Mystik, gegen Tauler oder Gerson,
hat meines Wissens bisher noch niemand gerechnet.

Der Vf. sieht den Mangel der bisherigen Diskussion im
wesentlichen darin, daß der eigentliche theologische Differenzpunkt
übersehen worden sei. Man habe die Beziehungen
und Gegensätze im Bereich von Rechtfertigungslehre und
Christologie studiert, hingegen die Anthropologie vernachlässigt
. Hier setzt der Vf. an. Er gibt zunächst ausführlich
und eindringend die Aussagen Taulers und Gersons
über den Menschen und dessen Gottesverhältnis wieder.
Die Analyse der T a u 1 e r sehen Begriffe „grünt" und
„gemuete* - der Bezeichnungen für das Organ im Menschen
, in dem die Begegnung mit Gott sich vollzieht, und
für dessen Kräfte (abditum mentis und mens) - führt den
Vf. im Gegensatz zu der Mehrzahl der neueren Tauler-
Forscher zu dem Resultat, der Mystiker rechne mit einer
substantiellen Vereinigung zwischen Gott und Mensch:
"The ultimate goal is not union with God, but oneness in
God (37). In dem G e r s o n-Kapitel untersucht O. vor
allem den Begriff der synteresis, und er hebt mit Nachdruck
, auch hier gegen einen Teil der bisherigen Forschung
, hervor, daß Gerson auf die Korrelation und innere
Einheit der affektiven und der intellcktiven Seelenkräfte
das Gewicht lege und die unio - die in diesem Fall als
gnadenhafte Begegnung, nicht als Einswerden gemeint ist -
auf devotio secundum scientiam begründe und als Cognitio
Dei experimentalis beschreibe.

In der Interpretation der Theologie des jungen Luther
konzentriert sich der Vf. zunächst auf das Problem des
„Dualismus" in der ersten Psalmenvorlesung, das heißt der
die Gedankenwelt dieses Werkes prägenden Entgegensetzung
der temporalen und spirituellen Bedingtheiten des
Menschen. O. stellt sich zwischen die neuplatonische
(A. W. Hunzinger) und die existentialistische (Ebeling,
Schwarz) Luther-Deutung: Mit der „substantia" des Christ
liehen Lebens meinte Luther hier bereits das sich Beziehen
auf ein extra nos, auf "the remembered past and promised
future works of God" (104), der spätere Begriff der fides
und das „simul iustus et peccator" seien da bereits vorgebildet
, es handele sich um "a dualism in search of a
'reconciled dualism'" (138). In der folgenden Periode,
repräsentiert vor allem durch die Römerbrief-Vorlesung
einerseits, die Randbemerkungen zu Tauler andererseits,
liege dann die entscheidende Wendung in Luthers Ent
wicklung, nun erhalte der fidcs-Bcgriff seine endgültige
Fassung, und diese werde gewonnen in der Auseinandersetzung
vor allem mit Tauler - daß fides von nun an als
Konformität mit Gott im Vertrauen auf dessen vergangene
und im Hoffen auf dessen künftige Werke bestimmt wird,
ist, so sucht der Vf. zu zeigen, unmittelbar veranlaßt durch
die Absage an die mystische Anthropologie, die von der
Verwandtschaft zwischen Gott und Mensch ausgeht.

Es ist, wie das ausführliche Referat erkennbar gemacht
haben dürfte, ein origineller und geistreicher Entwurf, den
der Vf. vorgelegt hat, er nimmt mit Recht für sich in
Anspruch, einen geschichtlichen Zusammenhang behandelt
zu haben, der in der so verbissenen und verknäuelten Diskussion
des komplexen Tatbestands „Theologie des jungen
Luther" in letzter Zeit ungebührlich in den Hintergrund
getreten ist, und mir scheint, man wird auch wesentlich'-
Bestandteile seiner Luther-Interpretation für überzeugend
und sachgemäß erklären müssen, etwa die Wiedergabe des
fides-Begriffs. Ich habe jedoch starke Bedenken gegen die