Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1971

Spalte:

611-613

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Latreille, André

Titel/Untertitel:

L 'église catholique et la revolution française 1971

Rezensent:

Wendelborn, Gert

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

611

Theologische Literaturzeitung 96. Jahrgang 1971 Nr. 8

612

Das Zentrum der Untersuchung behandelt die christliche
Freiheit und die Auferbauung der Gemeinde (1 Kor 12,44 f.).
Bei den Puritanern waren der Ausgangspunkt dieser Frage
gewisse Ceremonien und Gebräuche (z. B. liturgische Gewänder
) katholischen Ursprungs in der englischen Kirche.
Nach ihrer Meinung machten diese den Christen unfrei, weil
sie diese zu den Bindungen rechneten, von denen Christus
freigemacht hatte. Christliche Freiheit aber gebe die Möglichkeit
, dafj der Christ sich in diesen Dingen frei entscheide.
Hinter dieser Haltung steht der puritanische Grundsatz,
was nicht durch das göttliche Wort gesagt ist, ist Sünde. Die
Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, dafj der Puritaner
christliche Freiheit weniger als eine Erlaubnis, vielmehr
als einen göttlichen Befehl auffaßt Das Ergebnis einer Untersuchung
des Begriffes Oikodome ist, dafj die Konformisten
ein inneres Verständnis dieses Wortes im Sinn der Integrität
des Gewissens haben, während die Puritaner die
Auferbauung in der gemeinsamen Lehre sehen. Sie macht
den speziellen Charakter der puritanischen Diskussion und
ihr Bild von der Kirche aus. Der Vf. sieht hier ein spezifisches
Element paulinischen Denkens repräsentiert. Von dieser
Sicht aus muß auch der Separatismus und Kongregationalismus
in der englischen Kirche verstanden werden. Der
Kirchenbund wie der puritanische Protest gegen katholische
Überreste in der Staatskirche bedeuten das neue Leben des
Geistes. Wenn die Puritaner die Bibel vom Schriftverständnis
des Paulus her verstehen, wie der Vf. feststellt, dann
handelt es sich lediglich um einen Teilbereich paulinischer
Lehre, der den Titel des Buches: Die Paulinische Renaissance
in England nicht rechtfertigt. Es fehlen entscheidende Wesenszüge
paulinischer Theologie wie Kreuz und Auferstehung
, Rechtfertigung, Christologie.

Berlin Walter Delius

Latreille, Andre, Prof.: L'Eglise catholique et la Revolution
francaise. I: Le pontificat de Pie VI et la crise francaise
(1775—1799). II: L'ere napoleonienne etla crise europeenne
(1800-1815). Paris: Les Editions du Cerf [1970]. 297 S. u.
290 S. 8° = Foi Vivante 131 u. 132.

In einer angesehenen französischen Taschenbuchreihe
kam das bereits 1946—50 in 1. Aufl. erschienene große Werk
des Lyoner Historikers A. Latreille, vermindert um den Anmerkungsteil
, aufs neue heraus, wofür dem Verlag unser
aufrichtiger Dank gebührt. Behandelt Latreille doch einen
ein Vierteljahrhundert umfassenden, besonders dramatischen
und auch angesichts der revolutionären Prozesse des 20. Jh.s
höchst interessanten Abschnitt der modernen Kirchengeschichte
. Dem Leser, dem die Einordnung dieser Vorgänge
in den Gesamtzusammenhang des neuzeitlichen kirchlichen
und kirchenpolitischen Geschehens nicht ohne weiteres möglich
ist, wird durch die Anfangs- und Schlußkapitel mit ihren
weitgespannten Rück- und Ausblicken eine wesentliche Verständnishilfe
geboten. Latreille schrieb sein Werk von einer
durchaus prokatholischen und konservativen Grundposition
aus. Insofern ist es bei andersgearteter weltanschaulicher
Voraussetzung sehr wohl möglich, die Vorgänge im einzelnen
anders zu akzentuieren und zu werten. Indes sind seine
Ausführungen so sehr an der Sache orientiert und breiten
vor dem Leser aus intimer Kenntnis des behandelten Gegenstandes
eine so erstaunliche Materialfülle aus, dafj jedem
Leser ein vorzüglich orientierender Einblick in das Geschehen
vermittelt wird.

Die Voraussetzungen der Französischen Revolution und
ihrer Kirchenpolitik werden in ihrer Vielgestaltigkeit und
dem Ineinandergreifen der unterschiedlichen Momente deutlich
erkennbar. Es ist nicht der geringste Vorzug dieses
Werkes, daß es sich bewußt von allen Simplifizierungen freihält
und der Kompliziertheit der Vorgänge und ihrer Hintergründe
gerecht zu werden sucht, ein fruchtbares Sachgespräch
mit Vertretern anderer Auffassungen führt, ohne
dadurch den Strom der Gedankenführung zu stören, und
auch auf noch der Klärung harrende Tatbestände hinweist.
Der Vf. erweist sich insofern als ein typischer Vertreter der
„westlichen" Welt, als er die Ursachen der Französischen
Revolution weniger in sozialen und gesellschaftlichen Umschichtungsprozessen
, als vielmehr in einer „Krise des europäischen
Bewußtseins" sieht. Der gesellschaftliche Hintergrund
der Vorgänge könnte noch schärfer hervortreten.
Doch verschweigt Latreille keineswegs die Verflochtenheit
der französischen Kirche in die Herrschaftsstrukturen des
Ancien Regime mit den sich aus ihr für ihr äußeres und
inneres Leben ergebenden Folgen. Und es ist ihm auch darin
beizustimmen, daß erst die aufklärerisch-antiklerikale Aktivität
vieler von der Philosophie ihrer Zeit geprägter Intellektueller
diesen Tatbestand klar erkennen und nach seiner
Veränderung streben ließ. Besonders zu begrüßen ist,
daß Latreille umsichtig bemüht ist, ein wahrheitsgetreues
Bild der Zielsetzung und faktischen Bedeutung der französischen
Freimaurerlogen zu entwerfen.

Weit über Frankreich hinausgreifend, beschäftigt sich
Latreille aber auch mit der kirchlichen Situation in Österreich
, Deutschland, Italien und auf der Iberischen Halbinsel
am Vorabend der Revolution, so erkennen lassend, daß die
folgenden Ereignisse in Frankreich nur die äußerste Zuspitzung
eines ganz West- und Mitteleuropa umgreifenden
Krisenzustandes bedeuteten. Dabei tritt der nach Veränderungen
förmlich schreiende Charakter der innerkirchlichen
Zustände gerade im Kirchenstaat, aber auch in den geistlichen
Fürstentümern West- und Süddeutschlands und in
Spanien — im einzelnen beträchtlich differierend — plastisch
hervor. Die Politik des aufgeklärten Despotismus in
Österreich und den von ihm abhängigen italienischen Gebieten
sowie auf der Iberischen Halbinsel und die durch sie
ausgelösten Spannungen werden dem Leser vor Augen gestellt
. Gallikanismus, Josephinismus und Febronianismus
werden sowohl in ihren gemeinsamen Zügen als auch in
ihren Eigenarten erläutert.

Latreille entwirft ein in seiner Farbigkeit bis zur letzten
Seite packendes Bild der kirchlichen Situation in Frankreich
während des Verlaufs der Französischen Revolution. Er arbeitet
die Unterschiedlichkeit der einzelnen Phasen heraus,
weist aber zugleich darauf hin, daß die Übergänge zwischen
ihnen durchaus fließend waren. Er zeigt, daß am Anfang
noch ein freundliches Verhältnis zwischen den nach vorn
drängenden Kräften des Dritten Standes und der Kirche bestand
und daß die ersten revolutionären Maßnahmen auf
kirchenpolitischem Gebiet wie die Enteignung des Kirchenbesitzes
noch ohne nennenswerten kirchlichen Widerstand
erfolgten. Besonders die Eidfrage und daneben das Schicksal
der Ordensgemeinschaften führten aber dann zu immer
stärkeren Spannungen zwischen der Kirche und dem neuen,
sich schnell revolutionär entwickelnden Staat, die sich auf
dem Höhepunkt der Französischen Revolution zu einer ausgesprochenen
Verfolgungssituation für die Gesamtkirchc
ausweiteten.

Die Frage nach den Ursachen dieser schmerzlichen Entwicklung
wird von Latreille mit Recht dialektisch beantwortet
. Er weist darauf hin, daß von Anfang an im Raum
der Kirche ein scharfer Gegensatz zwischen den reichen
Prälaten und der Masse der armen Landgeistlichen bestand,
der seine natürlichen Auswirkungen in einer unterschiedlichen
und letztlich entgegengesetzten Reaktion auf das Zeitgeschehen
fand und zu einer immer stärkeren Polarisierung
der Kräfte im Raum der Kirche führte, ohne daß diese in
ungebührlicher Vereinfachung auf soziologische Ursachen
reduziert werden könnte, stellte doch die Revolution in zunehmendem
Maße die Grundvoraussetzungen der Kirche
in ihrem bisherigem Verständnis in Frage. Der auch in
dieser selbst lebendige revolutionäre Impuls zusammen mit