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Ausgabe:

1970

Spalte:

116-118

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Lohse, Bernhard

Titel/Untertitel:

Lutherdeutung heute 1970

Rezensent:

Löfgren, David

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Theologische Literaturzeitung 95. Jahrgang 1970 Nr. 2

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seitherige Forschung zurückgegriffen und in Fragen der Lutherbibliographie
von Oberbibliotheksrat Dr. J. Benzig-Mainz wertvolle
Hilfe erfahren. Nach dem Plan sollen zunächst die Bände 30,
II - 40, III mit Ausnahme von Bd. 39,1, II und von der Göttinger
Arbeitsstelle unter D. Dr. H. Volz die Bände 41-45 revidiert
werden. Für die früheren Bände gilt die Aufgabe als noch wesentlich
schwieriger. Sie werden daher zunächst zurückgestellt. Man
wird die große Mühe, die an diese Zwischenlösung zwischen der
bisherigen WA und einer künftigen als wertvolle Hilfe dankbar
begrüßen und ihr einen guten Fortgang wünschen müssen. Die
„ideale" Ausgabe wird durch die Bearbeitung jenes Stückes signalisiert
, das am kräftigsten nach völliger Neugestaltung verlangt,
nämlich der ersten Psalmenvorlesung Luthers.

Der Umfang der hier anzuzeigenden Nachträge - bei Bd. 32
für 569 S. Text 123 S. Nachträge, während es bei Bd. 33 nur 79 S.
für 688 S. Text waren - zeigt, wie viele Bände der WA doch etwas
zu eilig veröffentlicht worden sind. Natürlich hat sich in der
Zwischenzeit viel neues Material eingefunden, aber dafj die Kommentierungen
den breitesten Raum einnehmen, signalisiert doch
deutlich die früheren Unterlassungen. Daß dabei die germanistischen
Worterläuterungen im Vordergrund stehen, entspricht dem
bisherigen stark germanistischen Interesse an Luther. Der Historiker
und der Theologe würde es begrüßen, wenn den Sacherläuterungen
, dem Nachweis von Zitaten und Anspielungen auf Personen
, Fakten und Probleme ein gleiches Gewicht zuerkannt
würde. Erfreulicherweise deuten das die beiden vorliegenden
Bände bereits an. Manche Vermutungen hätten vielleicht etwas
zurückhaltender formuliert werden können. Daß z. B. zu 247, 26 ff.
in Bd. 32 eine präzise Zeitangabe Luthers als „sicher nicht wörtlich"
zu verstehen beurteilt wird, grenzt bei fehlender Begründung an
eine suggestive Behauptung. Manches wünschte man sich etwas
genauer, so z. B. zu 80,10 f. „Bruderschaften", wieder manches ist,
so interessant es für sich sein mag, hingegen zu breit ausgefallen;
aber das mag vielfach Geschmackssache sein. Dagegen ist z. B. die
Erläuterung zu 95,22, „Plerophoria", ein Muster wirklicher Erhellung
in knapper Form. Man hätte hier nur noch auf die Vulgata
z. St. verweisen sollen. In dieser Weise ließen sich Wünsche verschiedenster
Art aufzählen, aber dadurch soll der Dank für die
Gesamtleistung eher betont als gemindert werden. Die Wortregister
dienen wieder wesentlich den Germanisten bzw. der Erfassung
von Luthers Sprachschatz, das Namensregister gilt nur den
wenigen erklärten bzw. erklärungsbedürftigen Namen, z. B. Pome-
ranus.

Bd. 55 hat eine bis 1930 zurückreichende Vorgeschichte. Damals
wurde die Kommission zur Herausgabe der Werke M. Luthers
sich schlüssig, die in WA 3 und 4 von G. Kawerau 1885/86 veranstaltete
Ausgabe der ersten Psalmenvorlesung Luthers, eine was
den Text anlangt sehr anerkennenswerte Leistung, aufgrund eines
Gutachtens von E. Vogelsang (f) neu herauszugeben, wofür Vogelsang
in Clem. V. bereits einige Proben geliefert hatte. 1939 begannen
dann Vogelsang und K. Meißinger mit Vorarbeiten für Kommentierung
und Textherstellung. Glücklicherweise wurde damals
eine Photokopie der bis vor kurzem verschollenen Dresdner
Handschrift der Scholien hergestellt. Sie und die durchkorrigierten
Handexemplare von Meißinger und Vogelsang konnten benutzt
werden. Nach Meißingers Tod (1950) haben G. Pfeiffer und H. Volz
den Textapparat für den Psalterdruck, den Luther mit Psalmtituli
im Anschluß an die Titulus-Tradition versehen hatte, und den
Handschriftenapparat übernommen. Als Textvorlage Luthers wird
ein noch nicht bekannt gewordenes Lotther-Psalterium postuliert.
Am Kommentar arbeiteten A. Hamel (f) für Augustin und Cassio-
dor, G. Ebeling für die mittelalterliche Auslegung, L. Fendt (f) für
die Anklänge an die Liturgie, J. Heckel (f )für das CIC, H. Rückert
und R. Schwarz für die scholastische Tradition. Die Schlußredaktion
des Kommentars übernahm R. Schwarz, die genaue Beschreibung
der Dresdner Hs. auf Grund früherer Arbeiten H. Wendorf.
Bd. 55,1,1 bringt die nur auf der Wolfenbüttler Hs. ruhende Glosse
zu Ps. 1-15, Bd. 55, II, 1 die Scholien dazu. Die drucktechnische
Anlage des Bandes folgt dem Vorbild der Fickerschen Ausgabe
von Bd. 56 und 57. Die Abfolge des Textes hält sich genau an die
Hss., d. h. es werden gewisse Umstellungen bei Kawerau wieder
rückgängig gemacht.

Der kommentierende Apparat berücksichtigt Luthers Benutzung
der von ihm herangezogenen Psalterauslegungen, aber auch
Auslegungen, deren Benutzung durch Luther ungewiß ist. Vor
allem ist er bemüht, weithin „auf Verdacht" zur Erläuterung
heranzuziehen, was Luther als philosophischer und theologischer
Wissensstoff zugänglich gewesen sein könnte.

Der Text der Vorlesung weicht im allgemeinen nicht sonderlich
von demjenigen Kaweraus ab, abgesehen von der Wiederherstellung
der Trennung von Glosse und Scholien. Insofern ist
die Neuausgabe kaum eine Infragestellung der bisherigen Textbenutzung
durch die Forschung. Aber Apparate und Kommentierung
gehen so weit über Kawerau hinaus, daß erst durch sie die
Ausgabe zu einer wirklich wissenschaftlichen Edition geworden
ist, bei der man freilich im Vergleich mit J. Fickers mustergültigen
Bänden 56 und 57 sich gelegentlich fragt, ob hier nicht doch des
Guten zuviel getan ist. Der Kommentar überwuchert geradezu den
Text und die Heranziehung von erläuterndem Vergleichsmaterial,
das Luther mit großer Wahrscheinlichkeit nicht gekannt hat, so
z. B. ziemlich häufig von Thomas, kann eher verwirren als erhellen
. Daß die Mystik nur in geringem Maße herangezogen worden
ist, ist von den Herausgebern selbst bedauert worden. Hier lagen
zu große Schwierigkeiten vor, und man war fast nur auf „zufällige
Entdeckungen" angewiesen.

In den bisher vorliegenden Lieferungen steckt eine immense
Arbeit, der niemand seine bewundernde Anerkennung versagen
wird, die aber zugleich immer wieder vor die Frage ihrer sachdienlichen
Eingrenzung führt. Der Rausch neuer Entdeckungen
kann eben auch leicht über das sachlich erforderliche Ziel hinausführen
und so zugleich zur Verführung werden, Luther mehr von
daher als aus seinem eigenen Wort zu interpretieren, so sehr
gerade der Vergleich etwa mit früheren Auslegungen seine Selbständigkeit
in einzelnen Fällen verdeutlicht. So verbinden sich mit
Dank und Bewunderung für die hier geleistete Arbeit und mit
dem Wunsch eines guten Fortgangs zugleich auch einige Sorgen.
Sie an Einzelheiten zu verdeutlichen, scheint mir aber einer notwendig
knappen Anzeige nicht angemessen zu sein.

Göttingen Ernst Wolf

Lohse, Bernhard: Lutherdeutung heute. Göttingen: Vandenhoeck
& Ruprecht [1968]. 68 S. 8° = Kleine Vandenhoeck-Reihe 276.
Kart. DM 2.80.

1967 hielt B. Lohse eine Reihe Vorlesungen an der Universität
Kopenhagen, anläßlich des Reformationsjubiläums. Diese sind
nun als Buch erschienen und stellen eine repräsentative Auswahl
der Problemkomplexe dar, die zur Zeit vor allem in der kontinentalen
Lutherforschung aktuell sind.

Lohse greift zuerst die Frage nach der Bedeutung des Reformationsbegriffes
auf. Schon im klassischen Latein kommt das
Wort reformare vor und ist dort gleichbedeutend mit renovare,
restituere, regenerare oder resuscitare.

Auch die Reformbestrebungen des Mittelalters haben diese
religiösen Bedeutungen von „reformare" beibehalten, aber das
Wort wird auch als Bezeichnung für weltliche Reformbestrebungen
verwendet. „Reformare" und „Ordnung" werden auf diese Weise
verknüpft.

Interessant ist aber, daß der Mann, mit dem das Wort vor
allem verbunden ist, selbst nie den Anspruch erhoben hat, ein
Reformator zu sein. Die moderne Lutherforschung hat aufweisen
können, daß Luther selbst keinerlei Absichten hatte, eine Reformbewegung
zu schaffen. Reformare ist auch in Luthers Mund etwas
ganz anderes, als es während der vorhergehenden Jahrhunderte
gewesen ist: „Es geht um die Verkündigung des reinen Evangeliums
, nicht aber um bestimmte einzelne Reformmaßnahmen"
(S. 14). Luthers Leistung als Reformator besteht darin, daß er die
Forderung der Kirche nach Macht aufgibt und stattdessen den
Primat von Gottes Wort, die Reinheit der Verkündigung und die
Wahrheit der Offenbarung als das Zentrale behauptet.

Mit dieser Zielsetzung war es aber unvermeidlich, daß Luther
mit Rom in Konflikt geriet und gezwungen wurde, nach und
nach auch praktisch-kirchliche Vorkehrungen zu treffen. Seine
größte Leistung war die Umgestaltung der theologischen Ausbildung
. Die Philosophie mußte vor der Heiligen Schrift als der
primären Kenntnisquelle weichen. Damit war die „Reformation"
im Gange, wenn auch Luther selbst immer wieder behauptete,
reformatio sei nicht eine menschliche, sondern eine göttliche Tat.

Von katholischer Seite wird heute behauptet, daß Luthers
Kritik an der Scholastik dies verkenne (vor allem die via antiqua)
und daß Luther diese Verkennung mit seinen Zeitgenossen teile.
Es wäre vielleicht berechtigt gewesen, wenn Lohse in diesem Zusammenhang
eine Diskussion mit den römischen Lutherforschern
aufgenommen hätte, die zur Zeit Luther zu einem wahren Sohn der
Kirche machen wollen, dessen Protest berechtigt war, wenn man
ihn als einen Angriff auf eine entgleiste Scholastik sieht (so z. B.
Pesch). Lohse begnügt sich aber im Großen und Ganzen damit,
die wohlbekannten Arbeiten von Holl, Maurer, Mülhaupt und von
Campenhausen wiederzugeben.

Daß Luthers Theologie in hohem Grade von Paulus geprägt
ist, kann nicht verneint werden, wenn auch einige Luthermonographien
, die in den letzten Jahrzehnten erschienen sind, aufgezeigt
haben, daß auch zum Beispiel das Alte Testament und die
johanneischen Schriften so tief wirkende Eindrücke bei Luther
hinterlassen haben, daß es falsch wäre, Luther nur als Paulinist
zu bezeichnen.

Aber hat denn Luther Paulus richtig gedeutet? Diese Frage
wurde zum ersten Mal von Althaus in dessen Buch „Paulus und