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Ausgabe:

1968

Spalte:

952-954

Kategorie:

Liturgiewissenschaft, Kirchenmusik

Autor/Hrsg.:

Nußbaum, Otto

Titel/Untertitel:

Der Standort des Liturgen am christlichen Altar vor dem Jahre 1000 1968

Rezensent:

Nagel, William

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Theologische Literaturzeitung 93. Jahrgang 1968 Nr. 12

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mehr war, ist auf den Einfluß der Erweckungsbewegung in Berlin
zurückzuführen" (S. 63). Martin Geck, ein junger, auch theologisch
gebildeter Musikwissenschaftler und mit einer Studie „Die
Vokalmusik Dietrich Buxtehudes und der frühe Pietismus" bereits
bedeutsam hervorgetreten, hat diesem Vorgang jetzt eine eigene
Studie gewidmet, die zunächst einmal das einschlägige Quellenmaterial
auf einer breiten Grundlage zusammenträgt. Seine Darstellung
der Vorgeschichte, der Aufführung selbst und ihrer Resonanz
ist von einer solchen erschöpfenden Gründlichkeit, dafj sie
als verläßliches Fundament auch für künftige Deutungsversuchc
ausreichen dürfte. Zustatten kam Geck dabei, daß er die lange verschollene
Aufführungspartitur Mendelssohns mit heranziehen
konnte. Dadurch daß auch die kleinsten Details, soweit sie für das
Ganze von Bedeutung sind, berücksichtigt wurden, entsteht eine
packende Schilderung, die den Leser gleichsam an dem Geschehen
beteiligt. Das musikwissenschaftliche Fazit der Aufführung selbst:
Es handelte sich um keine „Bearbeitung", allenfalls um eine „Einrichtung
" der Matthäus-Passion, wobei es Mendelssohn vor allem
darauf ankam, das dramatische Profil des Passionsberichts zur Geltung
zu bringen; deshalb ließ er das erbaulich-kontemplative Element
der Dichtung hinter dem aktuellen biblischen Zeugnis zurücktreten
. Indizien für eine „romantische" Interpretation gibt es kaum,
viele dagegen für eine werkgetreue Aufführung (S. 41).

Aber der eigentliche Skopus des Buches ist die geistesgeschichtliche
Deutung des Ereignisses, das vom ganzen protestantischen
Deutschland mit einer beispiellosen Anteilnahme verfolgt wurde.
Geck sieht darin das glückliche Zusammentreffen einer Reihe von
Kräften und Umständen, die er aus dem vorgetragenen Material
im einzelnen belegt: 1. die Kongenialität eines schöpferischen Musikers
von einzigartiger Frühreife und reflektierender Geistigkeit,
der als erster die Größe der Matthäus-Passion lebendig erkannte
und mit der Genietat der Wiederaufführung ins Licht der Öffentlichkeit
stellte, wobei sich dem Musiker Mendelssohn in Personalunion
der Christ Mendelssohn zugesellte; 2. die Wendung zur
eigenen nationalen Vergangenheit in der Romantik, die in Bach
den unergründlichen Gotiker und in seiner Matthäus-Passion „die
vollendetste Schöpfung deutscher Kunst" (Ludwig Rellstab) verehrte
; 3. die christliche Gefühlsreligion Schleiermacherscher Prägung
, durch welche die Vernunftreligion der Aufklärung abgelöst
wurde: Geck liegt daran, neben der Affinität dieser Frömmigkeit
zur Kunst vor allem die christozentrische Gemeindetheologie
Schleiermachers herauszustellen, die es möglich macht, den objektiven
Verkündigungscharakter der Matthäus-Passion bewußt zu
erleben und die Aufführung damit als „lebendigen Gottesdienst der
Gemeinde" (Bernhard Marx) zu begehen; schließlich 4. die Übertragung
der von Beethoven entwickelten Konzeption des „Ideenkunstwerks
" auf Bach, Geck glaubt darin eine Tat des deutschen
Idealismus sehen zu müssen: eine Musik, die ihre „Mittel" zum
bloßen Ohrenkitzel verabsolutiert, statt sie in den Dienst einer
Idee zu stellen - bei Bach: der „Religions-Idee" (Bernhard Marx) -,
ist ihres Namens nicht würdig (S. 72).

Diese breite und umfassende Begründung des Kairos-Charakters
der Wiederaufführung der Matthäus-Passion überzeugt mehr
als Besch's Deutung, der dafür im wesentlichen auf die Erweckungsbewegung
rekurriert. Umgekehrt scheint mir Geck den Anteil der
Erweckungsbewegung zu gering einzuschätzen; man kann dieser
nicht allgemein, wie Geck das tut, Verengung zur ecclesiola, „getreu
ihrer pietistischen Tradition", und „geradezu wissenschafts- und
kunstfeindliche Züge" (S. 71) nachsagen. Nicht nur, daß sich
Schleiermacher als „einen Herrnhuter höherer Ordnung" bezeichnet
hat: die Erweckungsbewegung trat in Schlesien z.B. im Gewände
des streng konfessionellen Luthertums auf, und gerade die
Breslauer Wiederaufführung der Matthäus-Passion rühmt Geck
nicht zuletzt deshalb, weil hier Bachs Werk besonders intensiv als
Textexegese und erstmalig als genuin lutherische Kirchenmusik
verstanden worden sei, die eigentlich im Rahmen eines Gottesdienstes
, unter Mitwirkung der Gemeinde bei den Chorälen, aufgeführt
werden müsse (S. 95f.). Und das Ausbleiben des durchschlagenden
Erfolgs bei der Wiederaufführung der Matthäus-Passion
in Königsberg, für das Geck nicht zuletzt die dortige „rationalistische
Atmosphäre" (S. 108) verantwortlich macht, stellt doch
ein argumentum e contrario für den Anteil der Erweckungsbewegung
am Durchbruch des Bachschen Werkes dar.

Aus den letzten Bemerkungen ergibt sich, daß Geck seinen Bericht
über die Berliner Aufführung mit solchen über die anschließenden
Aufführungen bis 1833 (Frankfurt a. M., Breslau, Stettin,
Königsberg, Dresden) ergänzt hat. Das ist sehr dankenswert. Denn
dadurch entsteht eine fazettenartige Spiegelung, die eindrucksvoll
die Mannigfaltigkeit der Erscheinungs- und Wirkungsformen der
Matthäus-Passion bezeugt.

Berlin Oskar S ö h n g e n

Nußbaum, Otto. Der Standort des Liturgen am christlichen
Altar vor dem Jahre 1000. Eine archäologische und liturgie
geschichtliche Untersuchung. I: Text. 478 S., II: Abbildungen und
Tafeln. 218 S. m. Abb., 38 Taf. Bonn: Hanstein 1965. gr. 8°
= Theophaneia. Beiträge zur Religions- u. Kirchengeschichte d.
Altertums, begründet v. F. J. Dölger f u. Th. Klauser, 18,1 u. 2.
DM 74,- u. DM 40,-.

Diese Untersuchung, die im J. 1963 der Katholisch-Theologischen
Fakultät der Universität Bonn als Habilitationsschrift vorlag, ist
in der von F. J. Dölger (f) und Th. Klauser begründeten Reihe
„Theophaneia. Beiträge zur Religions- und Kirchengeschichte des
Altertums" erschienen. Sie greift eine Fragestellung auf, die durch
die Bemühungen des II. Vaticanums um die Mitbeteiligung der Gemeinde
an der Feier der Messe zwar ganz aktuell geworden ist.
aber bereits die Liturgiker im frühen 19. Jh. lebhaft beschäftigt
hat: „Soll der Priester bei der Feier der Eucharistie hinter dem Altar
stehen oder soll er seinen Platz zwischen Altar und Gemeinde
haben? Soll der Zelebrant der Messe versus populum schauen oder
nicht?" (S. 17). Da sich Freunde wie Gegner einer Meßfeier versus
populum bisher immer wieder auf die Geschichte der Liturgie
berufen haben, ist es ein Verdienst des Vf., daß er die hier anstehende
Frage auf Grund eines staunenswert umfassenden Studiums
der literarischen und archäologischen bauliturgischen Zeugnisse
aus dem ersten christlichen Jahrtausend zur Entscheidung gebracht
hat. Im Blick auf das Ergebnis wird sich soviel vorwegnehmen
lassen: man wird die heute angestrebte Meßfeier versus populum
nicht mehr einfach als Rückkehr zur Tradition des ersten Jahrtausends
verteidigen können; man wird sich deshalb auch um eine
echte theologische Begründung vom Wesen der Messe wie der Wertung
der Gemeinde her bemühen müssen.

Zunächst behandelt der Vf. in zehn Kapiteln auf etwa 350 Seiten
die literarischen Zeugnisse und archäologischen Befunde aus dem
ersten Jahrtausend in Syrien, Palästina, Ägypten, Nubien, Kleinasien
, Griechenland und den angrenzenden Gebieten, Nordafrika,
Italien, Noricum (Österreich), Dalmatien (Jugoslawien), Deutschland
, Frankreich, der Schweiz, England und Irland. Die literarischen
Quellen fließen oft nur sehr spärlich; um so zahlreicher sind die
hier zu behandelnden Monumente, selbst wenn nur solche herangezogen
werden, „die entweder eindeutige Fragmente oder zumindest
Standspuren des Altars bewahrt haben, ferner Basiliken, deren
Altarraum einen Hinweis auf den Standort des Altars gibt, und
schließlich vereinzelt auch Kirchenbauten, deren vermutliche Altarstellung
durch Vergleich mit ähnlichen Anlagen erschlossen werden
kann" (S. 20). Vollständigkeit ist auch so nicht möglich, und auf den
spanischen Raum mußte wegen des Fehlens von Vorarbeiten ganz
verzichtet werden. Die Auswertung der archäologischen Befunde ist
dadurch nicht selten erschwert, daß in älteren Ausgrabungsberich-
len die unter der Fragestellung des Verf. wichtigen Angaben oft
fehlen oder die ermittelte liturgische Einrichtung zeitlich nicht
immer sicher zu bestimmen ist.

Da die heutigen Forschungsergebnisse erst mit dem Baubeginn
der Lateranbasilika im J. 313 sicher fundierte Aussagen in Richtung
der Entstehung des frühchristlichen Kirchenbaues und über die
liturgische Ausstattung der gottesdienstlichen Räume gestatten,
kann es der Verf. nur als einen „lückenhaften Versuch" werten,
wenn er es im 11. Kap. unternimmt, aus Einzelbeobachtungen auch
zu Aussagen über die ersten drei Jahrhunderte zu kommen (S. 375
bis 421). Er geht hier zunächst auf den Platz Jesu am Tisch des
Letzten Abendmahls und den Platz des Liturgen am Altar der Ur-
gemeinde ein. Da er, abgesehen von den paulinischen Gemeinden,
nicht mit einer unmittelbaren zeitlichen Aufeinanderfolge von
Eucharistie und Wortgottesdienst in einem immer für beide Kultformen
gemeinsamen Raum rechnet - vereinzelte Zeugen für eine
räumliche Trennung beider Gottesdienstgestalten finden sich bis
ins 7. Jh. -, ergibt sich als zweiter Unterabschnitt eine Untersuchung
, wie sich die Verbindung von Lehrgottesdienst und Opfer-