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Ausgabe:

1968

Spalte:

841-843

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Niederwimmer, Kurt

Titel/Untertitel:

Der Begriff der Freiheit im Neuen Testament 1968

Rezensent:

Köppen, Klaus-Peter

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Theologische Literaturzeitung 93. Jahrgang 1963 Nr. 11

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alle Stellen in der neutestamentlichen und frühchristlichen Literatur
untersucht werden, aus denen Angaben über die urchristliche
Mission gewonnen werden können. Der Verfasser der vorliegenden
Untersuchung macht mit vollem Recht darauf aufmerksam, dafj in
der Forschung die Listen von Aposteln, Missionaren und Mitarbeitern
kaum beachtet worden sind. Betrachtet man diese Listen genauer
, dann muß die herkömmliche Darstellung der urchristlichen
Mission in mancher Hinsicht nicht unerheblich revidiert werden.
Denn aus diesen Aufstellungen geht hervor, daß man offenbar an
vielen Stellen im Kreis eines Kollegiums gearbeitet hat und daß
keineswegs der rastlos von Ort zu Ort eilende Apostel das Bild
eines urchristlichen Missionars schlechthin verkörpert.

Diese Fragestellung, wie sie hier kurz skizziert wurde, kann zu
einer förderlichen Korrektur und Bereicherung unserer Kenntnisse
von den Anfängen der Mission und der Kirche beitragen. Dem Versuch
, den der Verfasser seinerseits zur Bewältigung dieser Aufgabe
unternommen hat, wird man jedoch leider an vielen Punkten widersprechen
müssen. Denn es ist methodisch unstatthaft, sämtliche
Namenslisten des Neuen Testaments als Verzeichnisse von
Mitgliedern einer Kollegialmission zu betrachten. Von Fall zu Fall
mufj viel genauer differenziert und weit sorgfältiger ans Werk gegangen
werden. Gar zu oft läßt sich der Verfasser von seiner Phantasie
leiten: Die vier Namen von Mark. 1,16-20 sollen mit dem
des Levi von Mark. 2,14 ursprünglich eine Fünferliste gebildet
haben und die älteste urchristliche Mitarbeiterliste aus Nordgaliläa
darstellen (S. 15, 26- 32). Das Zwölferapostolat soll ein „dogmatisches
Programm" gewesen sein, „das sich erst Zug um Zug auf dem
Hintergrund der Kollegialarbeit gebildet hat" (S. 34). Aus dem
Johannesevangelium werden sieben Namen kühn zu einer Liste zusammengestellt
, damit wieder die ungerade Zahl fünf bzw. sieben
entsteht (S. 37). Rom. 16 könne nicht ursprünglich nach Ephesus
gerichtet worden sein; denn „Ephesus dürfte zur Zeit der Abfassung
keine eigene christliche Gemeinde beherbergt haben" (S. 51). Die
Unstimmigkeiten, die zwischen den Grufjlisten des Philemon- und
des Kolosserbriefes bestehen, werden „geradezu das Signum der
Echtheit" genannt (S. 54). „Levi bewirtet Jesus nach Mark. 2,15 in
seinem Hause. Vielleicht haftet sein Prädikat ,der Zöllner' deshalb
so fest in der Überlieferung, weil er auch noch als Mitarbeiter der
Gemeinde seinem Beruf nachging" (S. 79) - dem des Zöllners? „Die
nordgaliläische Gruppe hat möglicherweise Levi mit der Residenz
beauftragt" (S. 93). „Simon Petrus konnte nicht mit einem Anmarsch
von Kapharnaum bis Caesarea belastet werden, wenn er in Judäa
zu wirksamer Arbeit kommen sollte" (S. 100). Paulus soll ursprünglich
einem Missionskollegium verantwortlich gewesen sein. Indem
er sich der Heidenmission zuwendet, zeigt er dann, „dafj er sich
fortan nicht mehr einem bestimmten weisungsbefugten Gremium
verantwortlich weiß, sondern direkt vom Kyrios und ihm verpflichtet
fühlt" (S. 107). Das Zurücktreten des Andreas könnte „dadurch
motiviert sein, daß er nicht mit den drei ins eigentliche Israel, nach
Judäa und Jerusalem, sondern direkt von Galiläa aus in die Heidenmission
ging und darum aus der Gruppe der Hauptzeugen ausscheiden
mußte, weil er deren Wertsteigerung nicht mitmachte bzw.
im engeren Israel weniger bekannt wurde" (S. 126).

Mit diesen Proben ist nur eine kleine Blütenlese zusammengestellt
. Man kann kaum eine Seite dieses Buches lesen, ohne zum
Widerspruch herausgefordert zu werden. Doch sollte darüber nicht
übersehen werden, daß hier in der Tat ein Problem erkannt ist, das
weiterer Untersuchung wert ist. Denn daß hinter den Namenslisten
des Neuen,Testaments jeweils bestimmte historische Traditionen
stehen, dürfte keinem Zweifel unterliegen. Ihnen behutsam nachzuspüren
, bleibt als Aufgabe gestellt.

Gottingen Eduard L o h s e

Niederwimmer, Kurt: Der Begriff der Freiheit im Neuen
Testament. Berlin: Töpelmann 1966. VIII, 240 S. 8° = Theologische
Bibliothek Töpelmann, hrsg. v. K. Aland, K. G. Kuhn,
C. H. Ratschow u. E. Schlink, 11. Lw. DM 48,-.
Die vorliegende Untersuchung, die von der evangelisch-theologischen
Fakultät in Wien als Habilitationsschrift angenommen
wurde, stellt den geistes- und religionsgeschichtlichen Zusammenhang
, in dem der neutestamentliche Freiheitsbegriff steht, und seinen
sachlichen Gehalt dar. Das geschieht unter Benutzung einer
umfänglichen Literatur aus exegetischer, systematischer und philosophischer
Arbeit.

Der Verfasser hat seine Untersuchung in folgende drei Hauptabschnitte
eingeteilt: Die Vorgeschichte des Freiheitsbegriffes
(I. Der Freiheitsbegriff in klassischer Zeit, II. Stoa, III. Gnosis); Die
Paradoxie der Freiheit (I. Herkunft und Problematik des ntl. Freiheitsbegriffes
, II. Entscheidungsfreiheit und Verantwortlichkeit,
III. Die Gebundenheit des Menschen); Die eschatologische Freiheit
(I. Die Freiheit der Gottesherrschaft - Jesus, II. Die Freiheit im
Heiligen Geist - Paulus, III. Die „wahre" Freiheit - Johannes).

„Der Freiheitsbegriff des NT ist geprägt von dem Zweifrontenkrieg
gegen (gesetzliches) Judentum und libertinistische Gnosis"
(S. 84). Die Freiheit des Glaubens, die sich aus der Sohnschaft ergibt
, steht zwischen beiden Irrwegen. Die Freiheit, von der das NT
redet, stammt nicht einfach aus der Apokalyptik und Gnosis (obwohl
starke Einflüsse unbestreitbar sind), sondern setzt neu ein in
der Offenbarung in Christus. „Es ist der autochthone Charakter der
christlichen Freiheit zu behaupten" (S. 85). Dabei fehlt im NT die
philosophische Fragestellung nach der menschlichen Willensfreiheit.
Hier liegt das Problem des ntl. Freiheitsbegriffes. Die entscheidende
These des Verfassers ist folgende: Der Mensch steht sich
selbst im Wege bei dem Versuch, sich entsprechend seiner Bestimmung
selbst zu verwirklichen. Der ntl. Freiheitsbegriff wird paradox
durch den Glauben an den Schöpfer, der absolut über die crea-
tura verfügt. Wenn also das Geschöpf über sich verfügen will, so
kann es das nur durch Loslösung von dem über das Geschöpf verfügenden
Schöpfer. Dabei ist dem Menschen eine formale Freiheit
stets zuzusprechen. Der Verfasser unterscheidet hier zwischen formaler
Freiheit und materialer Unfreiheit. Daher ist für das NT
Sünde (nicht Schicksal, wie für die Gnosis, nicht Verfehlung, wie
für die Stoa, sondern) Schuld, d. h. eine Übertretung des göttlichen
Gebotes von Seiten des verantwortlichen Menschen. Durch den unvermeidlichen
(S. 127) Schritt des Menschen, seine Freiheit in der
Loslösung von seinem Schöpfer zu ergreifen, gerät er in Unfreiheit,
in die vierfache Knechtschaft der Sünde (er handelt im Tun des
Bösen als einer, der sich selbst unverfügbar ist, gegen sich selbst),
des Gesetzes (das als Mittel, die Selbstentfremdung des Menschen
aufzuheben, versagt; es kann deshalb nicht erlösen, weil es bereits
auf den von Gott getrennten Menschen trifft; der Gesetzesgehorsam
ist nie ganzer und wirklicher Gehorsam), der Täuschung und Lüge
(die vermeintliche Freiheit ist Scheinfreiheit) und des Todes (der
Zusammenhang Gesetz - Sünde - Tod macht die Pervertiertheit der
menschlichen Existenz offenbar). Die Intention der praedestinatia-
nischen Aussagen des NT ist, daß die Eigentlichkeit des Menschen
(der unfähig ist, sein gesolltes Sein aus sich selbst zu verwirklichen
) allein von einem Bereich außerhalb der zirkelhaften Selbst-
verfallenheit und Verschlossenheit des Seins, als Geschenk, übereignet
werden kann. Jesus Christus eröffnet den Seinen das neue
Leben, das von der christlichen Freiheit bestimmt wird. Für Paulus
ist das Kreuz Christi der Ort, an dem die Freiheit in der Welt erschien
; der gehorsame Tod am Kreuz macht die Freiheit Christi
offenbar und macht den Anspruch der Mächte zunichte. Im Gehorsam
Christi hat sich der Übergang von der Unfreiheit (unter dem
Gesetz der Sünde und des Todes) zur Freiheit (zum Gesetz des Geistes
und Lebens) vollzogen, die durch die Taufe vermittelt wird. Im
Geist, in Christus verfügt Gott über den Menschen und zugleich der
Mensch über sich selbst. Damit ist der Konflikt der menschlichen
Existenz gelöst.

Wenn versucht werden soll, diese wichtige Arbeit im einzelnen
zu würdigen, so ist die Fähigkeit des Verfassers hervorzuheben,
komplizierte Sachverhalte einfach darzustellen. Weiter besticht er
durch die präzisen Exegesen, die seinen Ausführungen zugrunde
liegen, und durch die gute Verwendung der rcligions- und geistesgeschichtlichen
Forschungsergebnisse. Man mag fragen, ob nicht
einige Partien hätten knapper gefaßt werden können, da - besonders
im ersten Hauptabschnitt Teil I und II - manches für die Erhellung
der ntl. Aussagen entbehrlich ist. Andererseits sind die
geistesgeschichtlichen antiken Voraussetzungen wichtig, gerade im
Blick auf die gegenwärtige philosophische Diskussion; diese ist
vielleicht zuwenig herangezogen (S. 111-113 eineinhalb Seiten
über Hegel, Sendling, Kierkegaard und Tillich).

Was nun die zentrale These des Verfassers betrifft, so ist sehr
zu fragen, ob sie dem ntl. Befund wirklich gerecht wird. Für Paulus
ist es doch wohl so, daß der Mensch seine Freiheit dadurch verfehlt
, daß er dem Schöpfer nicht mit Dank antwortet, sondern mit
der Begierde. Der Verfasser dagegen bezeichnet diese Antwort des
Menschen (Begierde) als unvermeidlich (S. 127). Damit hängt es zu-