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Ausgabe:

1968

Spalte:

536-537

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Choron, Jacques

Titel/Untertitel:

Der Tod im abendländischen Denken 1968

Rezensent:

Schmidt, Hans P.

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sophischen (genauer: eines bestimmten philosophischen, nämlich
des thomistischen) Denkens mit theologischen Denkmethoden, die
sich weder in der oft betonten (von uns grundsätzlich abgelehnten)
Dienstleistung der Philosophie für die Theologie erschöpft (S. 289)
noch sich zu einer „christlichen Philosophie" (S. 297 ff., eine contra-
dictio in adiecto!) erhebt, daher legitim weder als „Philosophie
des Theologen" (S. 289 ff.) noch als „Theologie des Philosophen"
(S. 293 ff.) bezeichnet werden kann. Eine zum Teil dürre Logik
und ein rationales Denkverfahren hat dabei weithin den Vorrang.
Am Anfang (S. 13) und am Ende stehen die Grundüberzeugungci
„für uns Theologen", daß Gott existiert, daß er erkannt werden
kann und daß wir ihn ebenso durch die Vernunft wie durch den
Glauben erkennen.

Ein nicht geringer Teil der Ausführungen gilt denen, die die
Existenz Gottes bzw. seine Erkennbarkeit ablehnen. N. behandelt
die Gegner jedoch allzu kurz und fertigt sie summarisch ab, ohne
in ihre Gedankengänge und ihre Motive ernstlich einzudringen.

In einer prinzipiellen Vorbesinnung bestimmt N. die Theologie
als die Wissenschaft von Gott (S. 9): Alle ihre Schlüsse beziehen
sich auf Gott, suchen auszudrücken, was Gott ist in seiner
Selbstheit (Lui-Meme) oder in seinem Sich-Mitteilen (partieipa-
tions), nach seinem Wesen (etre) oder nach seinem Handeln
(Operations); sie beschäftigt sich mit seiner Existenz, seinem Wert
(valeur) und seiner Bedeutung (portee). Diese Beschreibung der
Aufgabe der Theologie können wir um so weniger gelten lassen,
als N. das Sein und Wesen Gottes einfach neben sein Sich-Mitteilen
und Handeln stellt, statt von dem letzteren auf das erstere
zu schließen.

Der erste Teil: „L'affirmation de Dieu" ist der entscheidende.
Der zweite Teil: „La connaissance du mystere de Dieu" bringt die
im ersten Teil umschriebene Gotteserkenntnis noch einmal neu
im Gewand des Mysteriums bzw. auf einer höheren Etage und
präzisiert, veranschaulicht und erweitert das im ersten Teil Gesagte
. Der erste Teil handelt von der rationalen Erkenntnis Gottes
, die die menschliche Vernunft mit ihren eigenen Mitteln haben
könne, wobei der bezeichnende Ausdruck „reellement possible"
fällt (S. 15). Der zweite Teil untersucht die Erkenntnis, die die
Vernunft durch die Offenbarung empfange, wobei sich das rationale
Moment zwar nur auf das Aufnahmeorgan beziehen soll,
jedoch der Inhalt der Offenbarung mit dem von der Vernunft mit
eigenen Mitteln Erkannten zusammenfällt und der offenbare Gott
mit dem ohne Offenbarung erkannten Gott identisch ist. Der
eigentliche Weg von N. geht in umgekehrter Richtung: Der auf
der Offenbarung beruhende Gottesglaube der Kirche wird durch
Methoden und Schlüsse, die außerhalb von Glauben und Offenbarung
liegen, erwiesen bzw. gestützt - eine fundamentalistische
Verkehrung des evangelischen Prinzips, das den Glauben seinem
Wesen gemäß nur in sich selbst und in seiner Zuordnung zur
Offenbarung gegründet sein läßt.

Der springende und zugleich wunde Punkt des ersten Teiles ist
die Koordinierung, ja letzten Endes Identifizierung der Gewißheit
vom Sein bzw. der Vergewisserung des Seins (affirmation de
l'etre) im Sinn einer intuitiven, unmittelbaren Erkenntnis (S. 42)
mit der Gewißheit Gottes, „L'affirmation de l'etre conduit ä
l'affirmation de Dieu" (S. 55), eine Affirmation, die notwendig,
existentiell und transzendierend sei (S. 63 ff.). Um „Gott" und
„das Sein" nicht gleichzusetzen, fügt N. die antiquierte Schluß-
folgerung an: „L'etre cause appelle un Etre Cause" (S. 60) und
etabliert Gott als das das Sein verursachende Sein bzw. Wesen, so
daß also der Unterschied zwischen dem „Sein" und „Gott" lediglich
in der Klein- bzw. Großschreibung von etre besteht! (Siehe
auch unten zum zweiten Teil.) Die Vielheit der einzelnen Entwürfe,
zu einer Erkenntnis Gottes zu gelangen, weise gerade auf die
„intelligible" Einheit Gottes hin (S. 136); in diesem Sinn werden
auf einen Nenner gebracht (S. 142-152): Regle de la causalitc,
regle de la negation, regle de l'excellence, raisonnements a posteriori
.

Die theologische Sprache (S. 152-161), sagt N., bezeichne
immaterielle Wirklichkeit mit Ausdrücken, die Materielles bedeuten
(eine völlig unzutreffende Gegenüberstellung!), die einfache
Wirklichkeit mit Ausdrücken, die Zusammengesetztes bedeuten
, die ewige Wirklichkeit mit zeitlichen Ausdrücken und die
unbegrenzte Wirklichkeit mit Ausdrücken begrenzter Art; zusammenfassend
schildert N. das Wesen der „uneigentlichen (impropre)

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oder (!) metaphorischen" Bezeichnung (S. 161-169) - Ausführungen
, die wohlbemerkt noch im ersten Teil gebracht werden.

Aus dem oben kurz charakterisierten zweiten Teil: Bei der
Aktion der Offenbarung, der Selbstmitteilung Gottes, wird eine
objektive und eine subjektive Wirkung bzw. eine vollzogene (par-
faite) und eine unvollendete (imparfaite) Offenbarung unterschieden
, wobei die letztere nur in Beziehung zu der ersteren, deren
Schatten sie ist, begriffen werden könne (S. 197 ff.). Der geschaffene
Intellekt könne sich zur absoluten Vernunft (Intelligible) erheben
(S. 206 ff.), und die Offenbarung als ein Akt Gottes bedeute
eine neue Erkenntnis für den Menschen (S. 216 ff.), so daß der
Offenbarung eine Art noetische Qualität zukommt. Großen Wert
legt N. auf den Gebrauch der Analogie in der Theologie (S. 237 ff.)
und koordiniert sie mit den weltlichen Konzeptionen, Gott zu
erkennen. Dabei werden, wie im ganzen zweiten Teil, Ausführungen
des ersten Teiles variiert. Zum Beispiel: Die Philosophie, die
die letzte Erklärung der Dinge suche, entdecke das Sein, das
alles, was ist, letztlich konstituiert, unterschieden von allem Sein
(wohl: Seiendem) und allem gemeinsam, konkret und allgemein,
vielfältig und eines, also von antinomischem Charakter (S. 276).
Dabei finde sich der menschliche Geist verpflichtet, den Bereich
der Erfahrung zu verlassen und sich der Existenz eines ersten
Seins bzw. Wesens (etre premier) zu versichern, in dem sich in
Fülle alle Vollkommenheit des Seins verwirklicht - cause finale,
cxcmplaire, efficiente (S. 276).

Die Verquickung von Philosophie und Theologie bei N. gipfelt
darin, daß nicht nur, wie bemerkt, philosophisches und theologisches
Denken, das nach der Anlage des Buches auf dessen zwei
Teile aufgeteilt sein müßte, innerhalb jedes der beiden Teile ineinander
übergeht, sondern auch, daß auf dem theologischen
Sektor selbst, im zweiten Teil, zwei Theologien auftreten, eine
theologic notionnelle, die dem philosophischen Denken nähersteht,
und eine theologie mystique, welche den Vorrang haben soll
(S. 408 ff.), und daß wiederum eine klare Trennung dieser beiden
Theologien nicht erfolgt.

Die Verbindung von „Dieu connu" und „Dieu inconnu" wird in
die paradoxen Gemeinplätze zusammengefaßt, daß wir Gott erkennen
und daß er uns immer wieder entrinnt, daß er durch
unseren Geist (par notre demarche spirituelle) erreicht wird und
über ihn hinausgeht; daß er, wenn er ein Objekt für uns ist,
dies nicht ist, indem er sich in unseren Geist einschließt, sondern
indem er ihn zu sich zieht (S. 420), während das „comme" zwischen
connu und inconnu (Buchtitel!) mit der nichtssagenden
Formulierung von Thomas gedeckt wird: Deum tanquam ignolum
cognoscere.

Das Buch von Nicolas legt den heiligen Thomas neu auf, ohne
den seitdem eingetretenen radikalen Wandel im Denken zu berücksichtigen
. Von den zitierten modernen Denkern bringt N. nur
das, was in das thomistische System paßt. Wieviel hätte er z. B-
von dem mehrfach genannten Dumcry, dem eine große Offenheit
zum modernen Denken eignet, und von dessen Schule lernen
können1.

Das Französisch von N. wirkt nicht ursprünglich. Es scheint,
daß er lateinisch (oder gar deutsch) gedacht und dann ins Französische
übersetzt hat.

Berlin Wilhelm K n e v e 1 ■

1 Vgl. Kncvels in ThLZ, B0. Jahrg., 1965, Nr. 11, Sp. 854-860 (Barthcl).

C h o r o n , Jacques: Der Tod im abendländischen Denken, übers, u.
bibliographisch bcarb. v. R. u. K. Birkenhauer. Stuttgart: Klctt
(1967). 335 S. 8°. Kart. DM 28,-.

Das Verhältnis des Menschen zum Tod ist von dem Wandel
mitbestimmt, in den Mensch und Welt durch Wissenschaft und
Technik geraten sind. Einerseits werden die herkömmlichen Vorstellungen
von einem individuellen Fortleben nach dem Tode
unvorstellbar, so daß der Tod für viele als das endgültige Ende
der menschlichen Person erscheint. Andererseits bleibt jedoch der
Gedanke, daß der Tod das Letzte sei, nach wie vor unausdenkbar.

In dieser Lage geht der Verfasser von einer doppelten Feststellung
aus: von der Beobachtung, daß der religiöse Glaube
immer weiter an Boden verliere und die Tröstungen der Kirchen
immer mehr Menschen nichts mehr sagen, und von dem Erlebnis,
daß die Erfahrung des Todes schwer auf den Menschen lastet.

Theologische Literaturzeitung 93. Jahrgang 1968 Nr. 7