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1967

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Systematische Theologie: Allgemeines

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Theologische Literaturzeitung 92. Jahrgang 1967 Nr. 1

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die Rechtfertigungslehre kritisiert: heute fehle die Situation des
Anspruchs vom Gesetz her, dagegen leide der Mensch an einem
allgemeinen Sinnverlust dem Dasein gegenüber. So gewiß Tillich
damit eine Not unserer Zeit aufzeigt, an der die Predigt des
Evangeliums nicht vorübergehen darf, so gewiß bleibt doch bestehen
, daß die Rechtfertigung „zugleich der alleinige Ermög-
lichungsgrund für eine neue Sinngebung unserer Existenz" ist
(S. 77). Das „All Sünd' hast du getragen, sonst müßten wir verzagen
" behält Geltung.

Verkündigung und Seelsorge dürfen sich durch das Gebaren
des heutigen gottentfremdeten, auf sich selbst bauenden Menschen
nicht täuschen lassen. In Wahrheit beherrscht das unruhige
Verlangen nach Rechtfertigung vor sich selbst und vor den anderen
unser öffentliches und privates Leben. Die Wirklichkeit, die
sich gegen uns, die wir ihr nicht dienen wollen, kehrt, läßt uns
das Nein Gottes über unser Leben, seinen Zorn und sein Gericht
spüren. Die Dichter entlarven den vermeintlich selbstmächtigen
Menschen in seiner Ohnmacht. Die Ärzte erfahren es, daß das
im allgemeinen verdrängte Schuldgefühl beim heutigen Menschen
oft in erschreckender, krankhaft gesteigerter Weise durchbricht.
Die Kirche sollte darum die Aufgabe erkennen und angreifen,
Gottes Gesetz in neuer Weise zu predigen und die Sünden der
Zeit bei Namen zu nennen. Dabei ist zu beachten, daß die Unfähigkeit
des Menschen, sich vor Gott zu behaupten, ihm nicht
Ehre und Ansehen vor der Welt abschneidet. „Ehre und Ruhm
vor den Menschen und Ehre und Ruhm vor Gott sind zweierlei
Dinge" (S. 87).

Aber wird nicht durch die Entfaltung der Rechtfertigung die
Ethik gelähmt? Bekanntlich hatte schon Paulus diesen Einwand
abzuwehren. Er und mit ihm die Confcssio Augustana betonen
mit Nachdruck das aus Gottes Freispruch erwachsende neue
Leben, den „neuen Gehorsam". Auch den Christusjüngern bleibt
das Gericht nach den Werken nicht erspart. Und ihnen ist Lohn
verheißen, um sie zu treuer Nachfolge zu ermutigen.

Das Wesen der Heiligung ist Gottzugehörigkeit als Geschenk
und Auftrag. Zum Indikativ gehört im Neuen Testament der
Imperativ. Das neue Leben ist Kampf des neuen Menschen gegen
den alten, so wie alter und neuer Äon in unvcrsöhnlidiem Gegensatz
stehen. Auf die Frage, warum uns Gott das alte Wesen nicht
auf einmal abnimmt, gibt K. eine dreifache Antwort: Gott will
uns bei der Erneuerung unseres Wesens nicht vergewaltigen; die
ständige Bedrohung durch die Sünde hält uns in heilsamer Abhängigkeit
unter Gottes Führung; der dauernde Kampf schärft
uns den Blick für die Abgründigkeit des Verderbens.

Für jedes Leben, das sidi der Herrschaft Christi unterstellt
hat, gilt das Ausziehen des alten und das Anziehen des neuen
Menschen, Abbau und Aufbau, „Widerstand und Beistand"
(S. 110). Es steht im Zeichen der Umkehr, der Wachsamkeit, des
Verzichts; es übt Beichte, Wiedergutmachung, Leben aus dem
Wort, Meditation und Gespräch mit Gott; es findet Halt an den
Brüdern, sieht auf das Beispiel der Heiligen, kennt das Gesetz
nicht nur als Riegel und Spiegel, sondern auch als Regel (S. 145),
als Gebot (S. 147). Gegen Aussagen der durch die Existenz-
philosophic beeinflußten Theologie hält K. an dem Gedanken
der Kontinuität fest. „Im Heute ist immer auch das Gestern mit
da" (S. 148); daher spricht Luther mit Recht „von einem magis
et magis crescere im Leben des Glaubens" (S. 149) und das Neue
Testament von einem Wachsen in der Gnade, das freilich nicht
frommer Selbstgefälligkeit verfallen darf (S. 153). Für die christliche
Lebensberatung gibt K. die Weisung: „die Angst vor
Werkerei und Gesetzesgerechtigkeit (darf) niemals dahin führen,
daß der evangelische Glaube nachlässig wird in der .Einübung
im Christentum'" (S. 15 5).

Ihre Lebensbereiche hat die Heiligung im wahren Menschentum
, in der Verantwortung für die Welt, der Reinheit des Herzens
, in einem erneuerten Denken, in der Hinwendung zur
Natur, der Krankenheilung, der Heiligung der Zeit und des
Raumes.

Rechtfertigung und Heiligung haben ihren gemeinsamen Ursprung
in Christi freisprechender und freimachender Gnade. Sie

dürfen nicht auseinander gerissen, müssen aber unterschieden
werden. Die Heiligung ist immer Frucht der Rechtfertigung, nicht
umgekehrt. Auf die Rechtfertigung stützt sich die Heilsgewißheit,
nicht auf die Heiligung. Es besteht ein wechselseitiger Bezug
zwischen Rechtfertigung und Heiligung. Heiligung ohne Rechtfertigung
steht auf fragwürdigem Grund, und Rechtfertigung ohne
Heiligung ist Verlust der empfangenen Gemeinschaft mit Gott,
d. h. Verlust der Rechtfertigung.

K. hat ein zentrales Thema evangelischer Theologie in einer
gegenwartsnahen Weise durchdacht und in seinen mannigfachen
Bezügen erörtert. Dafür danken wir ihm. Es bleibt uns nun noch
die Aufgabe, zu einigen Punkten kritische Anmerkungen zu
machen. Bei der Heilsgewißheit, die K. mit Recht hoch schätzt,
müßte deutlicher herausgestellt werden, daß es hierbei nicht nur
um eine persönliche Befriedung, sondern gerade auch um die
ethische Befreiung geht: weil wir des Heils gewiß sind, können
wir uns ganz dem Dienst am Nächsten hingeben, ohne auf den
Erwerb des Heils für uns bedacht sein zu müssen. Luther sagt:
Du mußt den Himmel haben und schon selig sein, willst du gute
Werke tun. — Der Satz: „Eine Kirche aber, die Vergebung predigt
und gleichzeitig Vergeltung übt, muß notwendig unglaubwürdig
werden in den Augen der Welt" (S. 60), bleibt zu theoretisch.
Worauf zielt hier K.? Auf bestimmte Formen der Kirchenzucht?
Dann wäre es gut, sie deutlich zu nennen. — K. gibt einer heute
weit verbreiteten Meinung nach, welche die Schuld vom Menschen
auf die Verhältnisse abwälzt: „In einer Ecke des Herzens
leiden wir alle am schlechten Gewissen, nicht weil wir schlechte
Menschen sein wollen, sondern weil die Nöte des Daseins allzu
grausam auf uns eindringen" (S. 61). Dagegen ist daran zu erinnern
, daß wir an die Sündlosigkeit Jesu glauben, daran also,
daß die Verhältnisse den Menschen nicht schuldig machen müssen,
sondern daß die Schuld immer unsern verkehrten Willen anklagt.
Die Rechtfertigung darf nicht nur nicht „zum vorzeitigen Beruhigungsmittel
" (S. 62), sondern überhaupt nicht zum Beruhigungsmittel
für den Resignierenden werden. — K.s Vermutung,
daß sich Luther deshalb über die Apokalypse wenig freundlich geäußert
hat, weil in ihr das Lohnmotiv reichlich verwendet wird
(S. 96), findet in den Quellen keine Stütze. Einmal hat Luther am
neutestamentlichen Lohngedanken niemals Anstoß genommen,
sondern ihn, z. B. in De servo arbitrio, positiv gewürdigt, zum
andern gibt er selbst an, was ihn an der Apokalypse stört, nämlich
die vielen Visionen, während es die Art der Apostel ist,
„mit klaren und dürren Worten" zu weissagen. — Unglücklich ist
die Unterscheidung zwischen „ontischer" Heiligung, die wir schon
besitzen, und „empirischer" Heiligung, die sich fortschreitend
vollzieht (S. 100). Soll mit ontisch eine Qualität, vielleicht ein
eingegossener Habitus, gemeint sein? Dieser Gedanke, den K.
wohl nicht hat, legt sich jedenfalls bei dem Wort „ontisch" nahe.

— Wen meint K. mit den „Theologen der Gegenwart", die zwischen
Rechtfertigung und Heiligung nicht klar unterscheiden und
so „das evangelische Kleinod der Heilsgewißheit" aufs Spiel
setzen? (S. 185). Um der Klarheit willenwünschtmansichhierNa-
men, zumal sich K. sonst durchaus nicht scheut Namen zu nennen.

— Häßlich ist das Wort „Bereuung" (S. 78) statt Reue, unrichtig
die Übersetzung von ext-sistere mitheraustreten (S. 30). Schließlich
ist es fragwürdig, sich für Luthers Einsicht vom unfreien Willen
auf Bert Brechts Drama „Der gute Mensch von Sezuan" zu berufen
. Denn Brecht will nicht sagen, daß der Mensch sich immer
und überall mit seinem Gut-sein-Wollen „in ausweglose Konflikte
verstrickt" (S. 8 3), sondern daß dies in der herrschenden
Gesellschaftsordnung der Fall ist. In einer neuen (kommunistischen
) Gesellschaftsordnung käme der gute Mensch in diese
Konflikte nicht.

Möge Verf. diese kritischen Bemerkungen als ein Zeichen
des Dankes für seine wertvolle Gabe werten.

Halle/Saale Erdmann Schott

Brunner, Peter: Adam, wer bis du? Methodische Erwägungen zur
Lehre von dem im Ursprung erschaffenen Menschen (KuD 12, 1966
S. 267—291).