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Ausgabe:

1967

Spalte:

604-606

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Appel, Nikolaus

Titel/Untertitel:

Kanon und Kirche 1967

Rezensent:

Marxsen, Willi

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lutionären Ideen und Kämpfen der Arbeiterschaft im Grunde
doch verständnislos gegenüberstand. Seine wachsende Ablehnung
des Kommunismus, die in der Verteufelung gipfelte, billigt
Vfn. nicht, aber sie vermag sich nicht völlig von ihr zu
distanzieren, weil sie W.s Ansicht, daß Atheismus bzw. Ent-
christlichung die eigentlichen Ursachen für die soziale Not des
Volkes seien, ohne tiefgreifende kritische Analyse stehen läßt.

Die Gründung der Inneren Mission, die nach Meinung der
Vfn. nicht einfach als Reaktion auf die Revolution verstanden
werden darf, diente dem Ziel, dem W.s ganzes Denken und
Handeln galt, der Rettung des „heillosen" Volkes für das Reich
Gottes; dem entspricht als individuelles Erziehungsziel - so
muß man wohl formulieren: - das christliche Kind (Vfn. hätte
auch dies mit mehr Kritik herausarbeiten sollen; Büdinger hat
aus der bedenklichen Vermischung von Erziehung und Verkündigung
bei W. kein Hehl gemacht). Hier, wo es um zentrale
Anliegen in W.s Theologie geht, ist der Vfn. eine klare
und einwandfreie Darstellung nicht gelungen, obgleich sie auf
theologische Autoren zurückgreifen konnte. Einerseits kann sie
schreiben: „Heranbildung und Wiederaufbau des Reiches Gottes
ist das Ziel der Inneren Mission" (89), andererseits weiß sie,
dafj unterschieden werden muß zwischen dem „Reich in der
zukünftigen Welt, zu dem der Herr die Seinen hinführt",
und dem Reich Gottes, das „in die Vergänglichkeit hineingebaut
ist" (90). Aber als der „Bauende" erscheint bei ihr (und bei W.!)
nun doch der Mensch! Zumindest ist nach ihrer Darstellung
„die Ausbreitung des irdischen Reiches Gottes abhängig von
der Zustimmung des Menschen" (91). Es fehlen der Vfn. die
theologischen Maßstäbe, um W.s problematische Vorstellungen
vom Reiche Gottes allseitig zu erfassen. Sie hält sie u. a. für syn-
ergistisch (vgl. 95 oben), nachdem sie schon vorher einmal geäußert
hat, die von W. vertretene Entscheidungsfreiheit zum
Glauben oder Unglauben sei „Synergismus, der das sola gratia
Luthers abschwächt und die Irresistibilität der Gnade aufhebt"
(44). Das dürfte im Blick auf W. und auf Luther ein Irrtum
sein. - Die „relative Verwirklichung des Reiches Gottes" als
„ein reales Erziehungsziel" bei W. bezeichnet Vfn. nicht etwa
wegen des Zieles als „Utopie", sondern wegen der „Annahme,
es in einer Zeit des rationalen Denkens und der . . . Abwendung
vom Christentum verwirklichen zu können" (96). Auch
wenn die weitreichenden Gedanken und großartigen Leistungen
W.s, die hier und in den anderen Abschnitten des Buches mit
Recht hervorgehoben werden, höchste Würdigung verdienen,
ist der Satz am Schluß des 3. Kapitels doch eine gelinde (und
theologisch fragwürdige) Übertreibung: „Wicherns Bedeutung
für die Kirche liegt darin, daß er sie vor dem Zerfall bewahrt
hat, indem er sie wieder mit sozialem Geist erfüllte und den
Christen ihre Pflichten vorhielt" (116).

Der zweite Teil der Untersuchung (119 ff.) bringt unter dem
Titel „Wichern und der moderne Jugendschutz" den Sprung in
die Gegenwart mit ihren so ganz anderen Problemen, die unter
Hinweis auf soziologische, pädagogische und psychologische Beobachtungen
geschildert werden. Am Ende des 1. Kap. kommt
Vfn. dort zu dem Ergebnis, man müsse „Wiehern recht geben
und bei aller Anerkennung der sehr viel schwierigeren Situation
und den (sie!) verschiedensten Gründen der Verwahrlosung
doch die letzte und tiefste Wurzel im Abfall vom Christentum
sehen, der auch in unserem Jahrhundert Verantwortungslosigkeit
, Familienzerfall und sittlichen Zerfall nach sich zieht . . ."
(140). - Im nächsten und letzten Kapitel liegt es der Vfn. zuerst
daran, an konkreten Einzelheiten die Zeitgemäfdieit, ja
Vorbildlichkeit, von W.s Pädagogik für die Gegenwart darzutun
. So werden etwa angeführt: Die glückliche Verbindung von
Individual- und Gemeinschaftserziehung in seinen Anstalten, das
Vertrauensverhältnis zwischen Kind und Erzieher, die Wertschätzung
des Spiels, der manuellen Arbeit und der Familienatmosphäre
(Gruppensystem), die prinzipielle Scheidung von
pädagogischer Fürsorge und gerichtlich geforderter Zwangserziehung
, die Bemühung um die Bildung geeigneter Heimerzieher
u. a. m. In diesem Aufweis dürften das Proprium und der
entscheidende Wert des Buches zu sehen sein, den die Fachleute
der Fürsorgeerziehung würdigen und beherzigen sollten.

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Bedenklicher erscheint dann wieder, daß - dem Resultat des
vorhergehenden Kapitels entsprechend - die weiteren Ausführungen
(etwa von S .158 ab) darauf abzielen, das Christentum
bzw. eine religiöse Erneuerung als Erziehungsgrundlage für den
einzelnen und als Heilmittel für die Gesellschaft zur Bedingung
zu machen. Einmal wirkt der Versuch, auch darin immer
aufs neue W.s Aktualität ausdrücklich zu unterstreichen, allmählich
penetrant; zum anderen ist die Erkenntnis der fundamentalen
Bedeutung des Glaubens und der christlichen Ethik zwar
an und für sich nur zu bejahen, aber wenn sie - wie hier -
mit allerlei pädagogischen und psycholgischen Theorien und
Tatsachen unterbaut bzw. gar bewiesen werden soll, dann ist
das für den kritischen Leser ein zweifelhaftes Unternehmen. Der
Theologe wird manchmal gerade seine Freunde in den anderen
Fakultäten um Zurückhaltung bitten, wenn es um weltanschauliche
Folgerungen aus ihrem eigenen Fachwissen geht. Wer sich
auf der Grenze zwischen Pädagogik und Theologie bewegt,
muß sich seiner Kompetenz und des Risikos ihrer Überschreitung
voll bewußt sein.

Kleine Fehler, die dem Rez. auffielen:
S. 77, Anm. 54: Nicht WA Bd. II .sondern Bd. 11!
S. 83: Der letzte Satz des Textes („Die Kinder . . .") steht

nicht im Zitat a. a. O. S. 18.
S. 183: Anm. 63: Hinter dem Wort „Glauben" (1. Mal) fehlt ein
Partizip o. ä.

S. 193: Nicht Johann, sondern Johannes Steinweg.
S. 195, Zeile 7 von oben: Nicht Tagesbericht, sondern Tagungsbericht
.

Rostock Ernst-Rüdiger Kieiow

KIRCHEN- UND KONFESSION SKUNDE

Appel, Nikolaus, S. J.: Kanon und Kirche. Die Kanonkrise im
heutigen Protestantismus als kontroverstheologisches Problem.
Paderborn: Verlag Bonifacius-Druckerei (1964]. 415 S. gr. 8C
= Konfessionskundliche u. kontroverstheologische Studien,
hrsg. v. Johann-Adam-Möhler-Institut, IX. Lw. DM 24.80.

Diese von der Pontifica Universitas Gregoriana angenommene,
dann zum Druck überarbeitete und von P. E. Huges, S. J„ aus
dem Holländischen übersetzte Dissertation möchte einen Beitrag
zum ökumenischen Gespräch liefern. Sie orientiert sich dabei
am Problem des Kanons, „das heute die evangelische Kirche
und Theologie notvoll bewegt" (S. 22). Verf. zitiert H. Strath-
mann, der 1941 von der Kanonkrise als der schleichenden Krankheit
der evangelischen Theologie und damit der evangelischen
Kirche gesprochen hat. In einer Kirche, die sich allein der Bibel
verpflichtet wisse, dürfe hier keine Unklarheit herrschen.

Nun ist zuzugeben, daß die Äußerungen evangelischer Theologen
zum Problem des Kanons auseinandergehen. Daß aber
deswegen die evangelische Theologie „notvoll bewegt" sei, ist
wohl übertrieben. (Man wird freilich zugeben müssen, daß das
für bestimmte kirchliche Kreise zutrifft; vgl. S. 327). Schon Luther
hat ja doch bei seiner Berufung auf die Schrift diese nicht
einfach mit dem Kanon identifiziert. Eine „Kanonkrise" ist darum
noch keine Wort-Krise. Daß wir heute nun das Wort anders in
der Schrift suchen, als die Reformatoren es taten, ist selbstverständlich
. Unsere heutigen Fragestellungen müssen aber im Zusammenhang
mit der Geschichte der Forschung verstanden werden
.

Leider geht der Verfasser nun aber gerade darauf gar nicht
ein. Er geht nicht historisch vor, indem er die Geschichte des
Problems in der evangelischen Theologie darstellt, das Entstehen
der Fragen verfolgt, Lösungsversuche der einzelnen Theologen
referiert, sondern er systematisiert das Problem. Damit
stellt er aber (sicher unbewußt) Weichen, die die eigentliche Problematik
kaum (jedenfalls nicht scharf genug) in den Blick
kommen lassen. - Im 1. Teil behandelt er den „Kanon als
Sammlung von Büchern" (S. 17—265). Im Kap. 1 geht es um die
„Autopistie der heiligen Schrift", in Kap. 3 um die „Apostolische
Autorschaft", in Kap. 4 um den „Evangelischen Inhalt". Inner-

Theologische Literaturzeitung 92. Jahrgang 1967 Nr. 8