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Ausgabe:

1967

Spalte:

413-417

Kategorie:

Allgemeines

Titel/Untertitel:

Ex auditu verbi 1967

Rezensent:

Augustijn, Cornelis

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413

Theologische Literaturzeitung 92. Jahrgang 1967 Nr. 6

414

diese „Ideologie des Glaubens" in gegebener Situation im Namen
der Vernunft oder auch im Namen einer Ideologie der
Vernunft bekämpft werden.

Ich lasse hier die an sich interessante Frage beiseite: ob
und inwiefern vielleicht jedwede Einsicht die unvermeidliche
Tendenz hat, im Fluß der Geschichte in Ideologiegestalt aufzutreten
. Aber aufs Wesen gesehen, ist der Glaube ebensowenig
als die Vernunft eine Ideologie, wie etwa die Lebensanschauung
der Samuraikaste. Beide, Glaube und Vernunft, haben nicht den
Partikularismus einer Ideologie an sich; beide sind universal.

So ist es denn auch im ethischen Horizont irreführend,
einen notwendigen Gegensatz von Glaube und Vernunft zu
konstruieren oder beide gegeneinander abzugrenzen. Wir müssen
aber auch hier versuchen, die phänomenale Basis für eine
sinnvolle Fragestellung zu gewinnen. Was meint die Maxime
der Vernunft konkret im ethischen Bereich?

Es geht hier um die „vernünftige" Gestaltung der Verhältnisse
menschlichen Zusammenlebens, d. h. eine Gestaltung,
die die Folgen bedenkt und ererbte Vorurteile schrittweise abbaut
. So wird man auf dieser Linie z. B. in der Auseinandersetzung
um die Todesstrafe, statt metaphysische Argumente oder
reine Emotionen obenauf schwingen zu lassen, zuerst fragen,
was man eigentlich bezweckt, und dann auf Grund aller verfügbaren
sinnvollen Methoden (soziologischer Analysen, statistischer
Erhebungen usw.) die Wahrscheinlichkeiten abschätzen,
mit der ein bestimmtes Mittel (z. B. die Todesstrafe) dieses
Ziel erreicht oder aber von ihm abführt. Rationale Politik ist
eine Politik, die die Zukunft plant. Dies dürfte überhaupt der
einzige Weg sein, wie in einem Zeitalter der technischen Revolution
und der durch sie bedingten Bevölkerungsexplosion die
Menschheit auf diesem Planeten weiterleben kann — was wiederum
ein Satz ist, der auf rationalen Prognosen beruht. Auch
der Friede der Menschheit muß geplant werden. Eine reine Gesinnungspolitik
hilft hier nicht weiter — wie kürzlich in der
Schweiz ein bekannter Zukunftsforscher vor einem pazifistischen
Gremium erklärte: reine Gesinnungsaktionen nützten
letztlich nichts; sie seien eine Art politischen Vegetariertums
und unter Umständen eher noch geeignet, den Blick von den
wirklichen Problemen verantwortlichen Handelns abzulenken.
Unsere ganze Anstrengung und Arbeit müßte vielmehr der vernünftigen
Planung des Friedens gelten.

Es ist heute möglich zu wissen, was unter bestimmten gegebenen
Umständen mit Wahrscheinlichkeit geschehen wird.
Selbst auf den Bereich der geistigen Entwicklungen hat sich die
Planung ausgedehnt: auch die Bildung der Menschen muß heute
geplant werden. — Alle derartige Planung geht bis zum Ende.
Das ist der eine Aspekt. Die Planung kennt keine Schranken;
sie überspielt gegebenenfalls auch überkommene „Lebenswerte"
emotioneller Art. Was sich als unzweckmäßig erweist, fällt dem
planenden Gestalten zum Opfer. Die Planung geht bis zum
Ende; sie hat ihre spezifische Radikalität, wie sie etwa in dem
Wort aus einer Rede Kennedys zum Ausdruck kommt: daß unsere
Probleme von Menschen gemacht seien und darum auch
von Menschen gelöst werden könnten.

Dennoch hat diese so notwendige Planung ihre Grenze,
die sie nicht übersteigen kann. Sie vermag zwar Ziele zu verwirklichen
, aber sie vermag sich ihre Ziele letztlich nicht selber

zu setzen. Und auch die planende Vernunft ist getragen und
durchstimmt von einem Glauben. In unserem Fall, der Rationalität
, wie sie sich in der gegenwärtigen Weltsituation als notwendig
erweist, ist dies der Glaube an den Menschen.

Es mag zuvor die Frage aufgetaucht sein, ob wir hier, wenn
wir von der vernünftigen Politik und der rationalen durchgreifenden
Planung reden, nicht den Vernunftbegriff vertauscht haben
, ob hier noch von derselben Vernunft die Rede war, wie
im fundamentaltheologischen Teil dieser Ausführungen. Unser
Hinweis auf die Begrenzung der planenden Rationalität durch
einen Glauben, ein tragendes und zielsetzendes Vertrauen, dürfte
diese Frage indes schon beantwortet haben. Rationalität ist
kein totes, starres, mechanisches Prinzip, sondern bleibt auf die
lebendige zwischenmenschliche Beziehung angewiesen. Wir bleiben
damit auch im Horizonte unserer ethischen Fragestellung
präzis im Rahmen des zuvor entwickelten dialogischen Vernunftbegriffs
: Vernunft ist eine Funktion der vernehmenden Menschen
. Wo Vernunft walten soll, muß der gegenseitige Respekt
der Menschen walten, der zum Dialog und zum Geschehen der
Vernunft freigibt.

Ein in meiner Heimat immer wieder zitiertes Wort sagt,
daß Politik die Kunst des Möglichen sei. Das heißt aber die
Kunst des jeweils in einer gegebenen geschichtlichen, menschlichen
Situation und Konstellation Möglichen. Wer doktrinär
über die menschlichen Imponderabilien einer Situation hinweggeht
, beherrscht diese Kunst ebensowenig wie derjenige, welcher
kein Vertrauen zu den Menschen hat und weniger für möglich
hält, als was tatsächlich möglich ist. — Dies zeigt deutlicher
als alles andere, daß die Vernunft auch unter ethischem Aspekt
kein „Prinzip" ist, sondern gebunden ist an eine geschichtliche
Situation. Auch die „rationale Politik" muß die „Kunst des
Möglichen" bleiben, sonst wird sie unvernünftig. Rationale
Planung wird irrational in dem Augenblick, wo sie den Menschen
überrollt. Ohne Rücksicht auf die Wirklichkeit des Menschen
werden auch der Friede und die Wohlfahrt einer künftigen
Menschheit nicht zu planen und zu erreichen sein.

Die „dialogische Vernunft" aber, die sich die Lösung der
großen Aufgaben zutraut, hat in einer Weise mit dem Glauben
zu tun, die noch tiefer bedacht werden muß. Sic ist — wie gezeigt
wurde — stets von einem Vertrauen durchstimmt. Dieses
ist, wo es um die große Perspektive, die sich aufdrängt, um die
Zukunft der Menschheit geht, das Vertrauen auf den Menschen.
Doch damit ist noch nicht genug gesagt—
denn was ist das, und was wird das sein : der
Mensch? Wenn wir vom Vertrauen auf den Menschen reden,
dann nimmt das Wort „Vertrauen" etwas vorweg. Was ist dieses
Vorweggenommene? In welche Richtung weist uns das Vertrauen
? Der „Glaube an den Menschen" kann nicht anders als
sich verschmelzen mit dem Glauben an Den, der die Natur des
Menschen zu Seiner Natur, der die Wirklichkeit des Menschen
zu Seiner Wirklichkeit gemacht hat.

Der christliche Glaube steht in der gegenwärtigen Weltstunde
— dies ist die epochale Erkenntnis, die sich der Christenheit
heute aufdrängt — im Bunde mit der Vernunft, die Vernunft
mit dem Glauben, welcher nach unserem Bekenntnis der
Glaube an die Vergebung und an die Zukunft des Reiches Gottes
mit den Menschen ist.

ALLGEMEINES, FESTSCHRIFTEN

[Berkouwer, G. C.:'_ Ex Anditu Verbi. Theologische opstellen
aangeboden aan Prof. Dr. G. C. Berkouwer ter gelegenheid van zijn
vijfentwintigjarig ambtsjubileum als hoogleraar in de Faculteit der
Godgeleerdheid van de Vrije Universiteit te Amsterdam. Kampen:
Kok 1965. 342 S., 1 Porträt gr. 8°. Lw. hfl. 27.50.

Diese Festgabe wurde Herrn Professor Dr. G. C. Berkouwer
zur 25-jährigen Professur an der Freien Universität zu Amsterdam
von Kollegen und Freunden dargebracht. Der Jubilar ist
heute der bekannteste Vertreter der theologischen Wissenschaft

im Kreise der Reformierten Kirchen in den Niederlanden. Diese
Kirche ist mit 800 000 Mitgliedern (etwa 7 % der Bevölkerung)
die zweitgrößte evangelische Kirche der Niederlande. Die theologische
Fakultät der Freien Universität (eins der zwei Bildungsinstitute
für künftige Pfarrer dieser Kirche) ist die größte des
Landes. Hier hat Berkouwer die Professur für Dogmatik und
Dogmengeschichtc inne. Die Bibliographie am Ende der Festschrift
(S. 327—3 32) gibt einen Eindruck seiner ausgedehnten
schriftstellerischen Tätigkeit. Seine wichtigsten Publikationen sind
Studien über die römisch-katholische Theologie (Conflict met
Rome", „Vatikaans concilie en nieuwe theologie"), Karl Barth