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Ausgabe:

1966

Spalte:

151-153

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Thiele, Friedrich

Titel/Untertitel:

Diakonissenhäuser im Umbruch der Zeit 1966

Rezensent:

Meis, Paul

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Theologische Literaturzeitung 91. Jahrgang 1966 Nr. 2

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Thiele, Friedrich: Diakonissenhäuser im Umbruch der Zeit. Strukturprobleme
im Kaiserswerther Verband deutscher Diakonissenmutterhäuser
als Beitrag zur institutionellen Diakonie. Stuttgart: Evang.
Verlagswerk [1963]. 192 S. 8°. Lw. DM 19.50.

Der Verfasser, der 6 Jahre in einem Diakonissenhaus tätig
gewesen ist, will einen Anstoß dahingehend geben, daß die
Kaiserwerther Mutterhausdiakonie, ein Kind des vorigen Jahrhunderts
, die sich angesichts der sozialen Umwälzung der Gegenwart
in einer Krise befindet, den Mut zu neuen Wegen aufbringt.
Man wird dem Verfasser zubilligen müssen, daß er die Probleme
der einzelnen Mutterhäuser sorgsam durchdacht und mit den
sozialen Erfordernissen einer sich wandelnden Welt konfrontiert
hat. Er hat sich die Mühe gemacht, mit erstaunlicher Akribie die
einschlägige Literatur sowohl der sozialen Gegebenheiten der
Gegenwart, als auch der Strukturen aller Kommunitätsformen zu
befragen, um daraus die Richtlinien zu gewinnen, die ihm zur
Behebung der Krise und des Nachwuchsmangels helfend zu sein
scheinen. Die Darstellung ist flüssig, wenn auch nicht frei von
Widersprüchen und öfteren Wiederholungen, die im Aufriß des
Ganzen und in der Schwierigkeit der Problematik begründet sein
mögen. Die Sprache bietet pointierte, wissenschaftliche Formulierungen
, die dem Laien oft schwer verständlich sind. Und nun zum
Inhalt des Buches:

Für eine nach der vox evangelii regulierten und nach den
Erfordernissen der Gegenwart gewandelten Kaiserswerther
Mutterhausdiakonie stellt er folgende Aspekte auf:

1. Da die Zahl der Diakonissen im Abnehmen und die Zahl
der Verbandsschwestern im Zunehmen ist und die Verbandsschwesternschaft
nach seiner Meinung sich heute zur mittragenden
Säule im Mutterhausgefüge entwickelt, ist die volle gleichberechtigte
Integration der Verbandsschwesternschaft in die Mutterhausgemeinschaft
unbedingtes Erfordernis. Mitverantwortung im
Arbeitsteam der Leitung und Stellenbesetzung, gleiche Aufnahmeriten
für Verbandsschwestern und Diakonissen, Gleichstellung in
leitenden Ämtern mit Diakonissen und gleiche Beteiligung an
Rüstzeiten, sind somit selbstverständliche Folgerungen. Diese Gedanken
ziehen sich wie ein roter Faden durch alle 192 Seiten.

2. Die Diakonissenschaft selbst soll in ihrer Besonderheit,
die vor allem in lebenslänglichem Dienst besteht, erhalten
werden. Aber um den Frauen der Gegenwart den Weg zu
solchem Dienst zu erleichtern, ist, wenn die Entlohnung durch
Taschengeld und lebenslängliche Versorgung bestehen bleibt,
das Taschengeld zeitgemäß zu erhöhen und die Erlaubnis zum
Ziviltragen im Urlaub und zu Hause zu gewähren. Der Diakonisse
soll auch Freiheit gegeben werden, sich eine Intimsphäre zu
schaffen. Es ist ihre Selbstverantwortung durch Beteiligung an
dem Entsendungsbeschluß und Teilnahme an den Entschließungen
der Mutterhausleitung zu wecken. Mit der Mündigkeit der Diakonisse
soll Ernst gemacht werden.

3. Die Mutterhausleitung selbst muß sich aus dem patriarchalischen
Familiendenken heraus zu einer partnerschaftlichen
Arbeitsgemeinschaft, auch mit den Schwesternvertretungen, führen
lassen.

4. Die Kaiserswerther Mutterhausdiakonie hat den Austausch
der Schwestern in den Mutterhäusern hin und her zu
pflegen und zur Ökumene hin offen zu sein, wobei die Entsendung
in die Missionsgebiete in dem Sinne selbstlos geschehen soll, daß
die entsandte Schwester nicht mehr die Zugehörigkeit zu ihrem
Mutterhaus betont, sondern bis in die Tracht hinein sich ihrer
neuen Umgebung anpaßt.

Die Gedanken werden durch Untersuchungen begründet, die
sich mit der Geschichte der Diakonie, ihrer Statistik und dem
Blick auf andere Formen von Schwesternschaftsstrukturen beschäftigen
, wobei die soziologischen Wandlungen der Gesellschaft und
des Frauenbildes und -Schicksals im letzten Jahrhundert zum Vergleich
herangezogen werden. Interessant sind dabei vor allem die
Ausführungen über den Löheschen Diakonissenspruch und die
3 evangelischen Räte (Armut, Keuschheit und Gehorsam), die in
der Entwicklung der Kaiserwerther Diakonie trotz aller Abwandlungen
bis heute eine Rolle spielen. Der Verfasser meint, daß
natürlich eine individuelle Bejahung des Löheschen Diakonissenspruchs
durchaus vertretbar sei, daß er aber der heutigen Frau

nicht als Forderung aufgegeben werden kann. Auch die evangelischen
Räte hindern nach seiner Meinung ein Offensein zur Welt
hin. Das Evanglium fordere vielmehr, Salz der Erde und Licht der
Welt zu sein. Die Zeugniskraft des Lebens in diesen Formen einschließlich
der Tracht (vor allem des Immertragens der Tracht und
ihre Unmodernitat) verfehle heute ihre Wirkung. Der Verfasser
wirft den führenden Männern der Diakonie vor, daß sie aus Angst
vor Selbstaufgabe oder Substanzverlust zugunsten der überkommenen
Lebensform argumentieren.

Es ist dem Verfasser zu danken, daß er sich die Mühe gemacht
hat, in zahlreichen Aspekten die Probleme der heute noch
größten Schwesternschaft auf deutschem Boden anzupacken. Es ist
bei der Vielschichtigkeit der Mutterhaustraditionen und der Verschiedenheiten
des Arbeitsumfanges und der Größe der einzelnen
Schwesternschaften nicht leicht, ein einheitliches Urteil zu bilden.
Darum rennt der Verfasser in manchen Behauptungen offene Türen
ein. Die partnerschaftliche Leitung oder die Einbeziehung der Verbandsschwestern
in verantwortliche Stellen in Gleichstellung mit
Diakonissen, oder selbst die wirtschaftliche Besserstellung der
Diakonissen, sind an vielen Orten praktiziert. Aber gerade diese
Erfahrungen zeigen, daß die Überwindung der Krise nicht in dieser
Richtung gesehen werden kann. Vor allem ist die These des Verfassers
, daß die Verbandsschwesternschaft als volle gleichberechtigte
Schwesternschaft neben den Diakonissen stehen soll, sehr
problematisch. Nicht deswegen, weil die Mutterhäuser etwa nicht
gewillt wären, die Verbandsschwesternschaft als volle gleichberechtigte
Partnerin zu sehen, sondern weil die Verbandsschwesternschaft
eine in sich nicht völlig homogene Größe darstellt
. Niemand behauptet, daß die Verbandsschwestern im
diakonischen Dienstwillen hinter den Diakonissen zurückstehen-
Diakonischer Dienstwille wird nicht an Gehalt- oder Taschengeldempfang
sichtbar. Aber, es gibt Häuser, in denen die Verbandsschwesternschaft
eine zahlenmäßig geringe Rolle spielt und selbst
da, wo sie durch ihre Größe ein bedeutender, nicht mehr zu entbehrender
Faktor ist, ist sie durch den ständigen Wechsel, den
der Verfasser bagatellisiert, nicht in der Lage, in demselben Sinne
Träger des Mutterhauses zu sein wie die Diakonissenschaft-
Gerade weil die Verbandsschwester die ständige Bindung an das
Mutterhaus ablehnt und den Blick nach außen bewußt offen hält
und meist unter ganz anderen Voraussetzungen eintritt als die
Diakonisse, ist eine Verschiedenheit gegeben, die auch in der
Stellung innerhalb des Mutterhauses zum Ausdruck kommt. Würde
die Diakonissenschaft sich im Sinne des Verfassers reformieren,
dann wäre nicht mehr zu begreifen, warum eine Verbandsschwester
, wenn sie wirklich in demselben Mutterhaus ihre Lebensaufgabe
erfüllt, nicht Diakonisse wird, und wenn die Verbandsschwestern
sich an das Mutterhaus binden würden, dann wäre e*
durchaus diskutabel, daß auch die Diakonissen die Lebensform der
Verbandsschwestern annehmen, wie es praktisch in den Mutterhäusern
Skandinaviens der Fall ist. Ein Nebeneinander beider
Schwesternschaften würde in dem Zukunftsbild des Verfassers
kaum mehr vertretbar sein. Die Krisis in der Mutterhausdiakonie
ist nicht an der Lebensform der Diakonissen aufgebrochen, st"1'
dem an der Entwicklung der modernen Krankenpflege, die eine
Vielzahl von Kräften erforderlich macht, der unsere Diakonissen
nicht mehr genügen können, und die auch die Seite der inneren
Entwicklung der Diakonissen, ihre eigentliche Berufung, vor ernste
Probleme stellt.

Natürlich spielen die anderen Aspekte des Verfassers auch
eine Rolle. Aber es kommt noch folgendes hinzu: Die Kaiserswerther
Diakonie ist ein Teil der Kirche, und ihre Entwicklungen
und Wandlungen spiegeln sich im Leben einer Schwesternschaft
wider. Bei der Untersuchung über das Herkunftsmilieu der Di3'
konissen ist nicht genügend gesehen worden, daß die ErwcckungS'
gebiete und die lebendigen Gemeinden die Entscheidung, Di«1'
konisse zu werden, gefördert haben. In der inneren Wandlung
unserer volkskirchlichen Gemeinden und der aus ihnen hervor'
gehenden jungen Gemeinden liegt mit ein Grund für die Ad*
neigung gegen die Ganzhingabe, die in der Kaiserswerther Lebens'
form erwartet wird.

Der Verfasser erwähnt mit keinem Wort die Gemeinschaft*'
diakonie und die freikirchliche Diakonie, die mit geringe*