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Ausgabe:

1965

Spalte:

40-41

Kategorie:

Neues Testament

Titel/Untertitel:

Johannesevangelium 1965

Rezensent:

Kümmel, Werner Georg

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39

Theologische Literaturzeitung 90. Jahrgang 1965 Nr. 1

40

Seite 3 so gemeint wäre, würde die hypothetische Begründung mit der
„anderen Schau" nur den ohnehin naheliegenden Verdacht bestätigen,
Lukas habe die Kontrolle seiner „anderen Schau" durch die authentischen
Briefe gefürchtet, außerdem habe er an mancher anderen Stelle
der Ag, nur weniger bemerkbar, vielleicht gleichfalls recht rücksichtslos
„umgemünzt". Sollte St. sich so stark selbst widersprechen, dann
ist ein Versuch, sein Lukasbild zu würdigen, vergeblich. Im folgenden
wird darum ein anderes Verständnis des „Ummünzens" in jenem
Vergleich vorausgesetzt: was „umgemünzt" wird, ist nicht ein Text
aus Rom 1, sondern das Erinnerungsbild des Lukas an die paulinische
Predigtweise. Diese wäre ihm dann noch in so hohem Maße gegenwärtig
gewesen, daß die ohne Seitenblick in einen Paulustext geformten
Reden den späteren Leser an einen solchen Text erinnern. Dann würde
Lukas nicht nur von der Erwähnung, sondern wirklich von dem
„Gebrauch" der Paulusbriefe abgesehen und sich von einer Beeinflussung
durch sie ganz freigehalten haben. Nur in diesem Fall käme
seinem Bericht neben dem des Paulus ein selbständiger Wert zu, und
nur in diesem Fall spräche wenig gegen und manches für die Motivierung
durch die „andere Schau" des Lukas. Daß diese mit seiner un-
geheuchelten Verehrung für Paulus unvereinbar sei, könnte jedenfalls
nicht eingewandt werden. Lukas wäre nicht der einzige, der sich für
einen begnadeten Zeugen der Wahrheit entschlossen einsetzte, obwohl
überragende Persönlichkeiten erfahrungsgemäß ihren Mitkämpfern oft
mancherlei zu tragen geben und „in manchem" wohl auch eine „andere
Schau" unvermeidlich machen. Die Tatsache, daß der überlegene Paulus
nicht in jeder Hinsicht die volle Zustimmung des minder prominenten
Lukas gefunden hat, wäre nach dessen eigenem Lirteil für das Verständnis
der Paulusmission und darum auch für die Leser der Ag belanglos
, nur für ihn selbst nicht. Ungewollt trug er der eigenen Schau
freilich dadurch Rechnung, daß er sie in gewissem Grade auf alle
christlichen Persönlichkeiten in seiner Erzählung übertrug; darf man
aber annehmen, er habe ihr bewußt gerade durch das Schweigen über
die Briefe Rechnung getragen? Um das zu verstehen, müßte man sich
die Kenntnis und Bewertung der Paulusbriefe bei Lukas wohl etwa so
vorstellen: den tatsächlichen Einfluß der Briefe auf den Gang der
Mission z. B. in Korinth verstand er nicht oder er wußte davon
überhaupt ebenso wenig wie von dem Inhalt von Gal 1. Von der die
Briefsituation überdauernden Wirkung der Briefe und gar von ihrer
künftigen Einschätzung als der alles andere überragenden Krönung
des gesamten paulinischen Werks hatte er vollends noch keine Vorstellung
. Die fest zu Paulus stehenden Christen waren sich zu dessen
Lebzeiten vielmehr gewiß mit Lukas darin einig, daß der briefliche Verkehr
, auch der gehaltreichste, nur einen notbedingten Ersatz für den
weit bevorzugten persönlichen Austausch bildete. Dieser Unterschied
der Bewertung wirkte bei denen, die jene Zeit erlebt hatten, auch
dann noch nach, als keine persönliche Begegnung mehr möglich war,
nicht zum wenigsten bei Lukas, der sich einer in manchen Dingen
„anderen Schau" vielleicht mehr als manche seiner im Judentum beheimateten
Zeitgenossen bewußt war. Wo er über das persönliche
Wirken des Paulus berichten konnte, war ihm eine ungehemmte globale
Bejahung dieses Wirkens selbstverständlich; die „andere Schau" bezog
sich ja auf Bereiche, die er, verglichen mit dem großen Thema der
Entscheidung für oder gegen Christus, als sekundäre Einzelheiten beurteilen
konnte. Wenn aber in den Briefen diese Einzelheiten nun doch
schriftlich fixiert stärker hervortraten als es nach seinem Empfinden
in der mündlichen Predigt geschehen war, wenn er hier also nicht so
ungehemmt bejahen konnte und sich andererseits doch nicht coram
publico distanzieren wollte, dann müßte man es verstehen, daß er von
der Existenz der Briefe ganz absah.

Der Versuch, dem Lukasbild Stählins durch solche Überlegungen
gerecht zu werden, wird freilich durch das „vielleicht"
erschwert, mit dem er die Motivierung des Schweigens durch die
„andere Schau" S. 3 in der Schwebe läßt, ohne eine Alternative
auch nur anzudeuten. Dadurch läßt er einen leeren Raum
frei, durch den nun eine bedrohliche Flut ganz anders orientierter
MotivierungsvoTSchläge eindringen könnte: Lukas glaubte,
den wirklichen Paulus besser zu verstehen, als dieser sich in
seinen Briefen selbst verstand, oder: er wollte durch das Bild
eines idealen, den Epigonen genehmeren Paulus den unbequemen
Epistolographen Paulus aus dem Gedächtnis der Gemeinde verdrängen
bzw. ihn ,,domestizieren" usw. Implizit verneint St.
diese Vorschläge durch seine gesamte Auslegung, aber da es sich
hier nun doch um ein Schlüsselproblem der Ag-Auslegung handelt
, hätte er gut daran getan, auch explizit gegen die genannte
Flut einen höheren Deich zu errichten.

Noch ein Wort zu den gelegentlich eingestreuten freien
Vermutungen. Vielleicht wird die Phantasie durch die Vorstellung
angeregt, daß Paulus möglicherweise (in Lystra) bartlos gewesen
sei (S. 191 — oder Titus ein Bruder des Lukas(S. 201) u. a.

Von der Überlegung aber, daß Paulus über das Aposteldekret,
weil er Mitglied der antiochenischen Delegation war, persönlich
vielleicht nicht abgestimmt habe (S. 210), wird man eher mit
einem Gefühl des Unbehagens als mit dem einer glücklichen
Problemlösung Kenntnis nehmen. Noch auffälliger ist eine Vermutung
zu 16,25—34. St. lehnt ja die Meinung nicht ab, daß
dieser an älteren Erzählungsbrauch angelehnte Bericht mit seinem
wunderbaren Geschehen erst nachträglich in einen wunderlosen
Rahmen eingefügt worden sei (S. 220). Zu 16, 34 heißt es dann
aber: „Vielleicht hat Paulus im Anschluß an das Sakrament
der Taufe auch sogleich das Sakrament des Abendmahls gereicht"
(S. 222). Gemeint ist wahrscheinlich nur, daß 16,34 im Sinne
des Lukas oder seiner Vorlage an diese Möglichkeit denken
läßt; der Wortlaut klingt aber so, als setze St. eigentlich
einen ganz unversehrten Augenzeugenbericht voraus. An
solchen Stellen kann — unnötigerweise — der Eindruck entstehen,
als setze der Pulsschlag der kritischen Energie bisweilen aus. Es
kann aber auch gefragt werden, ob das kritische Urteil nicht hier
und da reichlich weit geht, wenn St. z. B. behauptet, die Intervention
der Jakobusleute und ihre Wirkung Gal 2, 12 f. sei nach
dem Apostelkonzil geradezu „nicht vorstellbar" (S. 210). Das
scharfe Urteil Gal 2, 11.13 läßt immerhin die Möglichkeit
offen, daß tatsächlich doch etwas geschehen ist, was selbst
Paulus für „nicht vorstellbar" gehalten hatte.

Tübingen Otto B a u c r n f o i n (1

Jülichcr, Adolf: Itala. Das Neue Testament in altin tei nischer
Überlieferung nach den Handschriften hrsg. Durchgesehen und zum
Druck besorgt von W. Matzkow u. K. Aland. IV: Johannes-
Evangelium. Berlin: de Gruyter 1963. X, 230 S. 4°. Br. DM 180.—.

Als A. Jülicher 1938 starb, hatte er die Vorarbeiten
für sein letztes großes Werk, eine zusammenfassende Ausgabe
der altlateinischen Übersetzung der vier Evangelien, bereits der
Kirchenväterkommission der Preußischen Akademie der Wissenschaften
übergeben, weil er nach seiner Erblindung zwar noch
die von ihm beabsichtigte Rekonstruktion eines lateinischen
Anfangstextes mit fremder Hilfe zu Ende führen, die Ausgabe
aber nicht mehr zum Druck vorbereiten konnte. Die von
W. Matzkow druckfertig gemachte Ausgabe des Matthäusevangeliums
erschien 193 8 und wurde von W. B a u e r in dieser
Zeitschrift (64, 1939, 131 f.) als ein Pfand bezeichnet, das nicht
vergraben werden dürfe. Die Ausgabe des Markusevangeliums
erschien zwei Jahre später, ohne daß in diesen beiden Bänden
dem Benutzer deutlich gemacht worden wäre, welchen Anteil
Jülicher, welchen der Herausgeber an dem Werke hatte. Dann
aber vernichtete der Krieg den begonnenen Satz für die Ausgabe
des Lukasevangeliunis fast völlig, und W. Matzkow kehrte aus
dem Kriege nicht mehr zurück. Zum Glück blieb aber das Manuskript
der Ausgabe der beiden noch nicht veröffentlichten
Evangelien erhalten, und so konnte K. Aland, als sich die
Verhältnisse wieder normalisiert hatten, die Arbeit an der
Herausgabe des Lukasevangeliums mit einer Reihe von Mitarbeitern
wieder aufnehmen, wobei zwar die Rezension des
„europäischen" Textes durch Jülicher übernommen, alle Angaben
über die Lesarten der Handschriften aber neu kollationiert
wurden (über diese Ausgabe berichtete W. Bauer in ThLZ 81,
1956, 156 f.). Nun liegt mit der Ausgabe des Johannesevangeliums
nicht nur A. Jülichers Werk vollständig vor, sondern ist
auch ein wissenschaftliches Quellenwerk zu Ende geführt, das
lange Zeit ausgezeichnete Dienste leisten wird. K. Aland, der
von seinen Mitarbeitern am Institut für neutestamentliche Textforschung
an der Universität Münster/W. das von W. Matzkow
korrigierte Manuskript Jülichers erneut mehrfach anhand der
Handschriften durchkontrollieren ließ, weist in seinem Vorwort
darauf hin, daß die weitere Arbeit am altlateinischen Text des
Neuen Testaments nun in den Händen des Vetus-Latina-Instituts
der Erzabtei Beuron liege, daß dessen Ausgabe der Vetus Latina
aber die Bearbeitung der Evangelien an das Ende gestellt habe,
so daß die Ausgabe der altlateinischen Evangelien von Jülicher-
Matzkow daher bis zu diesem noch weit entfernten Zeitpunkt
unentbehrlich bleiben wird.

Man muß sich freilich darüber klar sein, was diese Ausgabe