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Ausgabe:

1965

Spalte:

303-305

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Gollwitzer, Helmut

Titel/Untertitel:

Forderungen der Freiheit 1965

Rezensent:

Benckert, Heinrich

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303

Theologische Literaturzeitung 90. Jahrgang 1965 Nr. 4

304

Was bedeutet dieser „Neubau der Ethik" in geistesgeschichtlicher
Sicht? Er stellt einen ethischen Entwurf dar, der die Ethik
des Seins und die Ethik des Sollens miteinander verbindet — nicht
in beliebiger Addition und Subtraktion, nicht in der Wahl eines
goldenen Mittelweges noch in der Erfindung eines Kompromisses,
sondern in der polaren Zusammenschau von beiden, so daß das eine
das andere fordert und beinhaltet — eben im „Kraftfeld". Dieser
Entwurf zeigt Verwandschaft zu Heraklit und besondere Nähe, ja
Schülerschaft zu Goethe. Das weisen dann auch die Zitate aus.
Sein und Sollen, Sollen und Wollen: wir wollen, weil wir eben
sollen. Insofern bietet dieser Neubau der Ethik eine Anknüpfung
und Weiterführung, aber eine Weiterführung in der Sprache unseres
heutigen Weltbildes.

Eine philosophische Ethik realistischer Prägung — ebenso
weit davon entfernt atheistisch wie theologisch sein zu wollen.
Indessen während sie zu atheistischer Ethik im Gegensatz steht,
öffnet sie sich den religiösen Fragen, wobei sie dann das Christliche
dem Religiösen weithin subsumiert und auch in dieser Beziehung
die Erbschaft von Idealismus und Romantik verrät einschließlich
der hier wie dort erfolgten Umdeutung der christlichen
Gehalte. ,,Das Vertrauen in das Schöpferische ist Ethik und
Religion gemeinsam. Das Vertrauen zu Gott ist der religiöse
Ausdruck dafür, daß der Mensch im Leben Sicherheit haben will
und muß, wenn auch keine absolute.. Dasselbe gilt für die Ethik
mit ihrem Wertekontinuum, hier mit dem Vorzug, daß diese
Sicherheit auf unbestreitbaren Tatsachen der Natur, nicht bloß
der historischen Überlieferung beruht. . . Vernünftiger Rationalismus
und wahre Religiosität streben zum selben Ziel, der geistig
seelischen Vervollkommnung des Menschen . . . der Jenseitsgedanke
hat seinen Grund im Wunsche nach Erlösung; nur wer
die Mangelhaftigkeit des Diesseits zutiefst fühlt, hat das Verlangen
nach Erlösung, zugleich oder in Folge auch das Verlangen nach
Erlösung von der eigenen Mangelhaftigkeit. Der Erlösungsgedanke
ist mithin ein eigentümlich religiöser, kein ethischer.
Auch der (nur) ethische Mensch strebt zwar nach Befreiung von
seiner sittlichen Unzulänglichkeit, aber für ihn gibt es keine Erlösung
im Sinne restloser Befreiung. Für ihn ist im Gegenteil
diese Erlösung abzulehnen. An ihre Stelle tritt das sittliche Sich-
Bemühen . . . Mit Erlösung hängt Gnade eng zusammen: sie erlöst
von Schuld, tilgt sie. Auch Gnade muß die Ethik ablehnen.
Denn wer Gnade erbittet, beugt sich unter den Gnade Spendenden
. . . Wer um Vergebung bittet, verlangt vom anderen etwas.
Die ethische Forderung richtet sich aber nur gegen die eigene
Person. Darum sind Gnade und Vergebung nur vom Standpunkt
des Gewährenden aus rein ethische Begriffe, jedoch vom Standpunkt
des Verlangenden aus nur mittelbar und schließlich ins
Religiöse übergehend" (S. 231-233) Daß hier das Moment der
Vernunft wieder stark zu Wort kommt, reiht diese Ethik in die
Aussagen der Jasperschen Existenzphilosophie ein und darf auch
für die christliche Ethik nicht unbeachtet bleiben.

Münster/W. Paul Jacobs

Gollwitzer, Helmut: Forderungen der Freiheit. Aufsätze und
Reden zur politischen Ethik. München: Kaiser 1962. XXXIX,
3 89 S. 8°. Lw. DM 19.80.

Ethik zielt auf das Leben und seine Gestaltung. Ethik im
Räume des Evangeliums als Lehre von der geschenkten und bewährten
Freiheit meint in allen ihren Teilen das Leben in
dieser Freiheit. So gibt der Verf. seinen Aufsätzen und Reden
zur politischen Ethik die Gesamtüberschrift „Forderungen
der Freiheit". Er meint damit gelebte und nicht nur gedachte,
bewährte und nicht nur als Ideal vor Augen gehaltene Freiheit
im politischen Bereich.

Es sind Äußerungen aus einem Zeitraum von mehr als 10
Jahren, die meisten schon an anderen Orten veröffentlicht. Ein
erster Teil „Zur politischen Ethik" enthält die
Schrift von 1955: Die christliche Gemeinde in der politischen
Welt; drei Aufsätze: Was geht den Christen die Politik an?
(1952), Bürger und Untertan (1957), Erwägungen zur politischen
Predigt (1957); außerdem eine unveröffentlichte Predigt über
Rom. 13, 1 (1960). Im zweiten Teil finden wir unter der
Überschrift „O st-West-Probleme" folgende Arbeiten:

Der Christ zwischen Ost und West (1950), Kirche und Marxismus
in der Krise Europas (1951, bisher unveröffentlicht), Die
Kirche in der zerspaltenen Welt (1954), Zum Verständnis des
Menschen beim jungen Marx (1957), Das Sowjetsystem und die
christliche Kirche (1958), Die christliche Kirche und der kommunistische
Atheismus (1959), Die Gestalt des Lobes Gottes
in der politischen Welt der Bundesrepublik (i960). Unter dem
Thema „Antisemitismus" faßt der dritte Teil drei
Aufsätze zusammen: Israel und wir Deutsche (1959), Die
Judenfrage — eine Christenfrage (i960) und Die Weltbedeutung
des Judentums (1961). Der vierte Teil „Krieg und
Frieden im Atomzeitalter" wird durch ein bislang
nicht gedrucktes Gutachten eröffnet: Gewissen und Staat in der
Frage der Kriegsdienstverweigerung (1955); ihm folgen: Zur
Frage des Wehrdienstes (1957), Die Christen und die Atomwaffen
(1957, ein Vortrag, nicht die gleichnamige Schrift!), Der
Friedensbeitrag der Christen (1960 in Prag), Kirche und atomare
Rüstung. Votum zu den „Heidelberger Thesen" (i960),
Krieg und Christsein in unserer Generation (1961). Der
letzte Teil stellt schließlich — fast anhangsweise — verschiedene
Gelegenheitsreden zusammen.

Wir sind dankbar, daß wir diese verstreuten Arbeiten nun
in einem Bande haben. Manche extensive und vollständige politische
Ethik ist nicht so hilfreich wie dieser Band, der die
Zentralfragen intensiv angeht. Wiederholungen nimmt man
dabei gern in Kauf. Die Lebensnähe der Arbeiten erweist sich
am deutlichsten daran, daß der Verf. den Fortschritt in der Erkenntnis
nicht vertuscht, nämlich den Schritt zu der Einsicht,
daß der Krieg grundsätzlich kein mögliches Mittel der Politik
mehr ist. Kein Satz — so möchte man sagen — ohne Engagement
.

Mit der Angabe der vielfältigen Themen muß es hier nun
genug sein. Doch darf die 30 Seiten lange Einleitung nicht unerwähnt
bleiben. In ihr entwickelt der Verf. die Problematik.
In diese Einleitung münden im Grunde alle Einzelstücke des
Bandes. Dabei wird klar, daß es Gollwitzer um eine Neuformulierung
der 2-Reiche-Lehre geht, nachdem der Gang der Geschichte
manche Gefahren dieser Lehre an den Tag gebracht hat.
Unmöglich kann das Leben in zwei getrennte Bereiche zerrissen
werden. Unmöglich ist aber auch eine Ineinssetzung von Staat
und Kirche, von weltlicher und geistlicher Macht, von Politik
und Religion. Wie existiert dann die Gemeinde in der Welt?
Jedenfalls nicht in einem eigenen Innenraum. Statt dessen bewährt
sich die der Gemeinde gegebene Freiheit — die herrliche
Freiheit der Kinder Gottes — als konkrete Freiheit der Existenz
in dieser Welt, auch der politischen. Der Sachfragen, in denen
es um Bewährung geht, sind unendlich viele. Darum ist auf
diesem Gebiet eine Sammlung von Aufsätzen zu einzelnen
Fragen besonders angemessen.

Die in Christus geschenkte Freiheit ist „die Gabe eines
neuen Könnens und neuer Möglichkeiten" (S. XIII). So gewiß
es keine „christliche Politik" gibt, so gewiß muß man von den
Christen, die sich am politischen Handeln beteiligen, Betätigung
der Freiheit erwarten (XV). Bei den Überlegungen, welche einzelnen
Anforderungen die Freiheit heute an den Menschen
stellt, weiß sich der Verf. immer stärker getrieben von dem
„Jammer über eine tiefe Korruption des Christentums durch
seine neuerliche Verfilzung mit dem — sc. westlichen — Staat,
über Blindheit, Verstocktheit und Unbußfertigkeit der offiziellen
Kirche, über die daraus folgende geistliche Verödung" (S. XVI).
Wer die Liebe Gollwitzers zu seiner Kirche kennt, wird auch
diese starken Worte als Bußruf hören, ohne kirchlicher Selbstrechtfertigung
zu verfallen.

Zu konkreten politischen Problemen äußert sich die Einleitung
vorausnehmend und zugleich zusammenfassend eindeutig
: 1. Ein Atomkrieg ist unvereinbar mit Glauben und Gehorsam
gegen den lebendigen Gott (XXI). 2. Was die deutschen
Ostgrenzen betrifft, so geht es um die Erkenntnis eines nicht
mehr rückgängig zu machenden Verlustes und um eine von
dieser Erkenntnis ausgehende Politik (XXVII). 3. Ein Katalog
von außerordentlich aktuellen Fragen an „die" Kirche gipfelt
in der Gewissensfrage, ob wirklich alle, „die eines Herren Leib