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Ausgabe:

1964

Spalte:

788-789

Kategorie:

Liturgiewissenschaft, Kirchenmusik

Autor/Hrsg.:

Nagel, William

Titel/Untertitel:

Geschichte des christlichen Gottesdienstes 1964

Rezensent:

Müller, Karl Ferdinand

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Theologische Literaturzeitung 89. Jahrgang 1964 Nr. 10

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auch beruft. Es ist das moderne, die Vorstellungen Calvins vom
Himmel und vom himmlischen Leibe Christi stillschweigend korrigierende
, Calvinverständnis, auf welches Th. seine Lehre von der Gegenwart
Christi gründet, ohne sich des historischen Problems bewußt zu
werden. Als Zeichen des Leibes und Blutes Christi werden die Elemente
Vehikel dessen, was der Glaube in der liturgischen Handlung
empfängt. Man kann diese Zeichen den Kranken ins Haus bringen.
Das ist dann als eine Ausdehnung der liturgischen Handlung zu verstehen
. Leib und Blut Christi, in der Eucharistie objektiv gegenwärtig
zum Zweck der Kommunion, kommen zu („atteignent") allen
Kommunikanten, zu denen mit der richtigen Intention zu ihrer Heiligung
, zur Verdammnis zu denen, die aus Unglauben den Leib Christi
und aus Egoismus den Leib der Kirche nicht erkennen (S. 271). Was
nach der vollendeten Feier das Verhältnis zwischen Christus und den
übrig bleibenden Elementen ist, bleibt ein Geheimnis, das zu respektieren
ist.

Das Buch erschien, wie das Schlußwort feststellt, im Jahre
der Vierhundertjahrfeier der ersten Reformierten Nationalsynode
Frankreichs und der Ankündigung des neuen Ökumenischen
Konzils durch Johann XX11I. mit dem Ausblick auf die
Einheit der Christen. Es stellt in tiefem Ernst die Frage, ob
eine Einigung der Christenheit im sacramentum unitatis möglich
ist, aber es erhebt nirgends den Anspruch, eine Lösung des
ökumenischen Problems zu bieten. Es will einfach die Frage
beantworten, ob und in welchem Sinne eine biblisch fundierte
Theologie die Eucharistie als Opfer verstehen kann. Nun kann
gar kein Zweifel darüber bestehen — und die Reformatoren sind
sich darüber klar gewesen —, daß die Eucharistie wie jedes Lob-
und Dankgebet und wie jeder wahre Gottesdienst zu den geistlichen
Opfern gehört, die das Neue wie schon das Alte Testament
neben den kultischen Opfern kennt und daß man sie in
diesem Sinne Opfer nennen könnte, wenn nicht diese Benennung
dem Mißverständnis Vorschub leisten müßte, als würde die Idee
des Meßopfers als eines propitiatorischen Opfers für die Lebendigen
und die Toten wieder eingeführt. Th. sucht zu zeigen,
daß es neben dem Opfer des Lobes und des Dankes und der
Fürbitte in der Eucharistie in der Tat noch ein anderes Opfer
gebe, das Gedächtnis, in welchem das Kreuzesopfer Gegenwart
wird, und die Präsentation dieses einmaligen Opfers Christi
durch die Kirche (228 ff.). Gewiß wird in der Eucharistie das
Opfer von Golgatha „vergegenwärtigt", und nicht nur in die
Erinnerung gerufen. Aber wodurch? Nicht nur durch den liturgischen
Nachvollzug eines Ereignisses der Heilsgeschichte, wie es
das Passa ist, sondern durch das einzigartige Faktum der Realpräsenz
des Leibes und Blutes Christi. Daß Brot und Wein nicht
nur Zeichen sind, sondern wahrhaftig Leib und Blut Christi, daß
das, was am Altar des Kreuzes ein für allemal geopfert wurde,
hier und jetzt auf dem Altar liegt und von uns mündlich empfangen
wird, wie das Passalamm mündlich empfangen wurde,
das macht das Opfer von Golgatha gegenwärtig. Sollte es den
Theologen nicht zu denken geben, daß die Liturgien aller
Kirchen mit Ausnahme der Reformierten es aussprechen oder
voraussetzen, daß Leib und Blut Christi mündlich empfangen
werden („Quod ore sumpsimus, pura mente capiamus . . ."). In
allen Liturgien und eucharistischen Hymnen gehören — wie schon
Joh. 6 — die „dingliche" („Ave verum corpus natum . . .") und
die „persönliche" („o Jesu pie") Gabe ganz unlösbar zusammen.
Es konnte wohl eine Frage sein, ob Judas das Sakrament empfangen
habe, wie Augustin und das Abendland annahmen. Aber
es war keine Frage, daß, wenn er es empfing, er den Leib des
Herrn empfing wie die anderen, nur zum Gericht. Die merkwürdige
Anschauung des Ephraem Syrus, Sermo in der hl. Woche
4, 6, daß Jesus dem Brot, bevor er es Judas gab, durch Eintauchen
in die Schüssel „die Konsekration genommen" habe, ist
eine indirekte Bestätigung. Die Eucharistie ist nicht Opfer,
sondern Opfer mahl. Weil in ihr das empfangen wird, was der
Herr am Kreuze geopfert hat, darum allein ist sein Opfer in ihr
gegenwärtig. Ganz unhaltbar, weil jedes biblichen Grundes entbehrend
, ist der Gedanke, daß das Abendmahl Opfer ist, weil
wir darin zusammen mit dem Hohenpriester Christus dem Vater
das Opfer von Golgatha „präsentieren". Wo steht das geschrieben
? Man kann es in den Liturgien finden, und d. h. in
der Tradition allein. Die geistlichen Opfer des Lobens, Dankens
und Betens können wir Christen darbringen. Wir können die

Opfer der Liebe und das Opfer unseres ganzen Lebens (Rom.
12, 1) bringen. Aber das Opfer der Versöhnung bringt der allein,
der beides ist, das Lamm, das der Welt Sünde trägt, und der
ewige Hohepriester, der allein für uns vor Gott eintritt.

Es muß dem Kirchenhistoriker zu denken geben, daß in
allen Kirchen der Reformation, zuerst bei den Anglikanern und
nun auch bei Reformierten und Lutheranern, die Auffassung der
Eucharistie als einer Opferhandlung mehr und mehr an Boden
gewinnt. Zeugnis dessen sind die eucharistischen Gebete, die in
den Revisionen des Book of Common Prayer bei den Anglikanern
der Welt, in Lutherischen Kirchen Europas und Amerikas,
und nun auch bei Reformierten und Presbyterianern erscheinen
und von diesen Kirchen auf die Missionsfelder der Welt getragen
werden. Welche innere Wandlung der evangelischen Christenheit
offenbart sich darin? Nähert sich hier ein Prozeß seiner Vollendung
, der mit dem Pietismus begann, in den Unionen des
19. Jahrhunderts seine Fortsetzung fand und in der ökumenischen
und liturgischen Bewegung unserer Zeit seine Ziele immer
deutlicher offenbart? Es ist ergreifend, wie Thurian in seinem
schönen Buch die Wahrheit der Reformation zu bewahren sucht,
das sola gratia, und auch, im allgemeinen, das sola scriptura. Er
weiß nichts von einem Priestertum, außer dem Hohepriestertum
Christi und dem geistlichen Priestertum der Kirche und ihrer
Glieder. Aber öffnet nicht die Annahme eines eucharistischen
Opfers, in welchem Christus und seine Kirche, Gott und Mensch
zusammenwirken — wie gering auch der menschliche Anteil gedacht
sein mag — jenem Synergismus die Tür, der schließlich zur
Identifikation von Christus und der Kirche und damit zur
mystischen Identifikation von Gott und Mensch führt, in der
das Evangelium vom Heiland der Sünder seine tiefe Bedeutung
verloren hat?

Adelaide-Prospect Hermann Sasse

Nagel, William, Prof. D.: Gesdiichte des christlichen Gottesdienstes.
Berlin: de Gruyter 1962. 215 S. kl. 8° = Sammlung Göschen,
Bd. 1202/1202a. DM 5.80.

Der Verfasser hat das geschrieben, was jeder Theologe,
Kirchenmusiker und Religionslehrer gern bereits vor 15 Jahren
beim Unterricht und Studium in der Hand gehabt hätte: einen
Abriß über die Geschichte des christlichen Gottesdienstes. Die
Erfahrung hat inzwischen gezeigt, daß eine umfassende, fundierte
Gesamtdarstellung erst geschrieben werden konnte, nachdem
die geschichtliche und theologische Problematik von den
Grundlagen her aufgearbeitet war. Das ist inzwischen mit einer
größeren Anzahl von Monographien und theologischen Einzelarbeiten
geschehen, wozu auch die Vorarbeiten zu den neuen Agenden
innerhalb der Lutherischen Liturgischen Konferenz und der
Liturgischen Ausschüsse der Landeskirchen wesentlich beigetragen
haben. So haben die theologische Fragestellung, die Sammlung
und Zusammenfassung des geschichtlichen Materials sowie
die theologische Auswertung der Quellen unter Einbeziehung
der dogmatischen Forschungsergebnisse den Boden für die nun
vorliegende, kurz gefaßte Gesamtdarstellung bereitet. Die Arbeit
von W. Nagel zeichnet sich dadurch aus, daß sie das Wichtigste
aus der Geschichte der Liturgie nicht nur darstellt, sondern
auch auswertet, wobei die Behutsamkeit und Prägnanz,
mit der die Darstellung erfolgt ist, sehr wohltuend ist und die
kritische Fragestellung nirgends vermissen läßt. So sind die Akzente
richtig gesetzt und die Beurteilung der Übergänge und
Nahtstellen in der geschichtlichen Entwicklung hilfreich aufgezeigt
. Das wird auch besonders deutlich bei der Beurteilung der
Reformation. Vielleicht hätte angesichts des revolutionären
Versuchs Luthers von 1526 das eschatologische Anliegen des
Reformators bei der Neuordnung des Gottesdienstes noch stärker
betont werden können. Der Orthodoxie im 17. Jahrhundert
vermag ich trotz der Kritik, die der Verfasser übt, dennoch nicht
ganz die positive Bedeutung abzugewinnen. Natürlich hat die
Orthodoxie etwas sehr Bewahrendes gehabt, aber der sie begleitende
absolutistische Zug hat auch viel dazu beigetragen,
daß der Pietismus sowie der Rationalismus sich zum Teil so abwegig
entfalten konnte, was nicht zuletzt darin seinen Grund
gehabt hat, daß das Problem von Gesetz und Evangelium im