Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1963

Spalte:

132-133

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Mann, Ulrich

Titel/Untertitel:

Theologische Religionsphilosophie im Grundriss 1963

Rezensent:

Gerdes, Hayo

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

131

Theologische Literaturzeitung 88. Jahrgang 1963 Nr, 2

132

zu den Stichworten Philosophie und Wissenschaft. Zeitlich betrachtet
, entstammen die Schriften den Jahren 1926 bis 1959,
und zwar 6 den Jahren vor der Emigration des Verfassers, 6 aus
der Kriegs- und Nachkriegszeit. Dennoch sind sie im Plan des
Bandes zu einer systematischen Einheit verklammert, indem sie
in drei Gruppen dargeboten werden. Die erste Gruppe „Zur
Grundlegung" enthält die beiden schon erwähnten Artikel
Philosophie und Wissenschaft, zwischen sie eingeschoben Tillichs
Frankfurter Antrittsrede von 1929 über Philosophie und Schicksal
, deren Titel, wie man sieht, dem IV. Bande der Gesamtausgabe
den Namen gegeben hat. Die zweite Gruppe „Zur
Erkenntnislehre" umfaßt die Aufsätze über Kairos und Logos,
zwei Beiträge — ursprüngliche Vorträge — über Gläubigen Realismus
, ferner über Trennung und Einigung im Erkenntnisakt
und über Dimensionen, Schichten und die Einheit des Seins.
Die dritte Gruppe bringt vier Arbeiten „Zur Existenzphilosophie
": Schelling und die Anfänge des existentialistischen Protestes
, Existenzphilosophie, Wesen und Bedeutung des existentialistischen
Denkens und schließlich über Entfremdung und
Versöhnung im modernen Denken. Diese vier letzten Schriften
stammen alle aus der letzten Schaffensperiode Tillichs.

Erneut wird der Leser beeindruckt durch die — bei aller
Vielfalt der Gegenstände - bewußte Geschlossenheit des Denkens
, durch die Entschiedenheit, mit welcher hier ein Theologe
seine philosophische Verantwortung wach erhält, und durch die
positive Grundeinstellung zu den verschiedenen Formen philosophischen
Denkens, welche Tillich in den Stand setzen, überzeugend
und fruchtbar zu interpretieren. Natürlich kann ich mich
in dieser Anzeige nicht mit jedem Beitrag einzeln befassen.
So mag es erlaubt sein, auf den Titelaufsatz besonders hinzuweisen
, Philosophie und Schicksal, der in der Tat eine gewisse
Schlüsselstellung einnimmt, weil er das spezifische Interesse
Tillichs verdeutlicht, in dessen Dienste alle seine Interpretationen
stehen, sei es die immer wiederkehrende Deutung Schel-
lings, sei es Hegels und seiner Nachfahren, sei es dann vor
allem hier der Existenzphilosophie. Denn die Frage gilt nicht
einer Philosophie, welche sich über ihr Schicksal erhebt, welche
dem Schicksal „trotzt", sondern welche sich aus dem Schicksal
erklärt und sich selbst geradezu einem Schicksalswandel verdankt
. „Schicksal ist die transzendente Notwendigkeit, in die
die Freiheit verflochten ist." Schicksal ist also in diesem Sinne
verstanden auf Freiheit bezogen; eins ist nicht ohne das andere,
so daß der Verlust der Freiheit auch der Verlust des Schicksals
ist. So hat immer auch die Philosophie ihr spezifisches Schicksal
. Es handelt sich um eine Dialektik, welche auch bei Tillich
ihren Ursprung in der Freiheitslehre des Idealismus nicht verleugnen
kann. Alle Freiheit ist in ein Notwendiges einbezogen,
sie durchdringen sich gegenseitig. Kraft dieser Beziehung zur
Notwendigkeit erhebt sich ebenso der menschliche Charakter
wie das Denken über die Zufälligkeit. „Hat Philosophie ein
Schicksal, so ist sie auch getragen von solch universaler Notwendigkeit
." Die Aufgabe, die sich hieraus ergibt, besteht darin
, daß sich die Philosophie aus dieser Notwendigkeit heraus,
in die sie eingeschlossen ist, versteht. Sie muß ihr „Schicksal"
verstehen, um sich selbst verstehen zu können. Ich brauche, indem
ich diese Zusammenhänge kurz sichtbar mache, nicht besonders
darauf zu verweisen, daß sich hier der Begriff des Kairos
durchsetzt, d. h. daß hier der Gedanke lebendig ist, daß alle
Wahrheit nuT wahr sein kann relativ — oder soll man lieber
sagen: korrekt — zu ihrem Schicksal, zu ihrem Kairos, unter
dessen Notwendigkeit sie sich ausspricht. Der Gedanke ist überaus
fruchtbar, und zwar mindestens in doppelter Hinsicht. Einmal
ist er ein Interpretationsmotiv, dessen Bedeutung Tillich
selbst in der dritten Gruppe von Beiträgen zu diesem Bande an
der Existenzialphilosophie bewährt. Man könnte natürlich
fragen, ob die Interpretation, die darauf abhebt, die Existenzphilosophie
— etwas banal ausgedrückt - aus unserer Zeitsituation
heraus zu verstehen und verständlich zu machen, sie nicht
gleichzeitig schon relativiert und nicht mehr ganz ernst nimmt,
wie denn Tillich das Anheben des existenzphilosophischen
„Protestes" auch aufreizend weit zurückdatiert. Aber dieser
mögliche fragende Einwand hängt mit dem anderen zusammen,
daß nämlich hier in einer eigenartigen Weise das Problem des

Historismus und zugleich ein Zugang zu seiner „Aufhebung"
erkennbar ist. Es gibt kein Denken, es gibt keine Philosophie,
es gibt keine Wahrheit außerhalb ihrer Notwendigkeit, außerhalb
ihrer „Stunde", oder wie es hier heißt, ohne „Schicksal".

Auch dieser Band kann einen Eindruck davon vermitteln,
daß das theologische und damit zusammenhängende philosophische
Gespräch unserer Tage keineswegs, wie man mancherorts
zu meinen scheint, von ein oder zwei Schulen monopolisiert
ist. Man kann nur hoffen, daß die Wirkung dieses durch die
Gesamtausgabe im Zeitbewußtsein erneuerten Tillichschen
Werkes sich nicht auch wieder voreilig in die Esoterik einer
Schülerschaft verschließt.

Göttingen Wolfgang T r i 11 haa »

Mann, Ulrich, Doz. Dr. theol.: Theologische Religionsphilosophie im
Grundriß. Hamburg: Furdie-Verlag [1961]. 300 S. 8°. Lw. DM24.—.

Das Ziel dieses Buches ist die Rücklenkung zu einer Religionsphilosophie
, welche die religionsphilosophischen Fragen
neu löst, ohne die Einsichten der „Dialektischen Theologie"
dabei aufzugeben. Verf. versteht diese Aufgabe so, daß die
Religionsphilosophie weder den „Glauben an Christus in eine
allgemeine Religiosität", noch „die Theologie in metaphysische
Spekulationen auflöst"; sie gibt vielmehr Rechenschaft über da6
Verhältnis der Theologie zum weltlichen Denken, d. h. „konfrontiert
philosophisches Denken mit dem Wort vom Kreuz".

Verf. versucht diese Aufgabe so zu lösen, daß er „Berührung
mit der ganzen Breite weltlichen Denkens sucht". Dementsprechend
bietet das Buch keinen streng geschlossenen
Gedankengang, sondern ist im wesentlichen im Essay-Stil gehalten
. Es verrät große allgemeine Bildung, läßt aber vielfach
die „Anstrengung des Begriffs" vermissen und bringt nichts
im eigentlichen Sinne Eigentümliches.

Das Buch ist in zwei Hauptabschnitte eingeteilt: 1) „Eristik
oder die Lehre von der Wahrheit" und 2) „Ontologie oder die
Lehre von der Wirklichkeit". Verf. 6ieht in der Ontologie den
eigentlichen Inhalt der Religionsphilosophie. Die „Eristik"
(unterteilt in „Apologetik" und „Polemik") hat lediglich die
Aufgabe, den „wirklichen MetaphysikeT" vor den Gefahren zu
behüten, „welchen die Schulmetaphysik vor Kant erlegen war".
Wer aber „nur Eristik treibt, gelangt nicht dazu, den Boden der
Wirklichkeit zu betreten, er sieht das gelobte Land immer nur
von fern". Dabei fällt diese vorbereitende Aufgabe nach Meinung
des Verfs. im wesentlichen dem Protestantismus zu:
„Der entschiedene Protestant ist einseitig an der Wahrheit
interessiert, und zwar auf Kosten des Seins". Das „hinter aller
Wahrheit liegende Geheimnis des Seins" hingegen wird vom
Katholizismus gehütet: „Man kann nicht leugnen, daß dieses
Hüteramt heutzutage vorwiegend, stellvertretend und wohl unbewußt
, vom östlichen und westlichen Katholizismus wahrgenommen
wird".

Die eigentliche Grundfrage deT Religionsphilosophie ist
also nach Meinung Ulrich Manns das Verhältnis Sein - Seiendes.
Er übernimmt demnach mindestens die Fragestellung vom
katholischen Neuthomismus. Die Wiederaufnahme der Lehre
von der analogia entis lehnt er freilich ab. Er wirft dem Neuthomismus
vor, daß er sich mit der „analogia entis" am Seienden
orientiere und nicht am „Sein selbst". Mann selber will
diesen Fehler des Neuthomismus vermeiden, indem er sich für
die religionsphilosophischen Aussagen über das „Sein selbst"
der personalen Kategorien bedient. Das „Sein selbst" sei eben
personal strukturiert und sei nicht quantitativ meßbar. Immerhin
kommt Mann auf diesem Wege zu sehr massiven religionsphilosophischen
Seinsaussagen, die in folgenden, geradezu lyrischen
Schlußsätzen gipfeln: „Gottes Liebe ist keine blasse
freundliche Gesinnung, die irgendwo in höheren Sphären
herrscht... Als die Liebe selbst verschafft er Gegenwart, Ewigkeit
, Sein, Wirklichkeit. Im Opfer ist eT das „Sein selbst".
Unser Sein selbst. Am Kreuz von Golgatha opfert sich Gott,
um unser Sein zu sein. Denn das Sein ist Liebe".

Es wäre dem Verf. die Frage zu stellen, ob es berechtigt
ist, auf diese Weise zu einer, wenn auch „personalen", vor-
kantischen Metaphysik zurückzulenkcn. Eine Metaphysik kann
immer nur eine streng philosophische Metaphysik sein; eine