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Ausgabe:

1962

Spalte:

99-101

Kategorie:

Allgemeines

Titel/Untertitel:

Die Religion in Geschichte und Gegenwart 1962

Rezensent:

Wingren, Gustaf

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Das paulinisdhe Evangelium von der freien Gnadenwahl Gottes
und der Rechtfertigung durch den Glauben allein sollte ihre alte
aus der Bergpredigt und der römischen Dogmatik gewonnene
Lehre und Frömmigkeit ersetzen. Die Barben Daniel de Valencc,
Jean de Molines und alle Altgläubigen, die den schweizerischen
Reformatoren widerstanden, hatten die Tragweite des Evangeliums
von der Rechtfertigung aus dem Glauben allein nicht verstanden,
wie auch Calvin zehn Jahre später bemerkte**3. Der Anschluß an
die Reformation sollte diesem letzten Überrest der waldensischen
Diaspora neue Lebenskraft vermitteln, damit er nicht, wie alle
anderen waldensischen Gemeinden nördlich der Alpen, unterginge
. Wie wir gesagt haben, kam es nicht zu einem echten Gespräch
zwischen Reformation und Waldensertum, wie auch nicht
zwischen Reformation und Wiedertäuferrum. Das Wiedertäufer-
tum wurde bekämpft und das Waldensertum aufgesogen. Aber
das echte Gespräch fand nicht statt, um ein gegenseitiges Ver-

*«) Molnär, Boll. St. Vald., 103, S. 50.

ständnis und womöglich eine Integration zwischen dem auf der
Bergpredigt begründeten waldensischen Protest und der paulini-
schen Botschaft der Reformation zu erreichen. Es fand eine Ersetzung
, aber keine Integration statt.

Die Entscheidungen des Consilium Generale von Chanforan,
besonders der Verzicht auf den Nikodemismus und der Bau einiger
Kirchen, konnten bis etwa 1560 mit einer relativen Freiheit
verwirklicht werden, weil fast ganz Piemont zwischen 1536 und
1559 von Frankreich besetzt war. Als aber Piemont — nach dem
Frieden von Cateau-Cambresis 1559 — dem Herzog von Savoyen
Emanuel Philibcrt zurückgegeben wurde, konnte die Gegenreformation
sich auch in diesem Gebiet mit ihrer ganzen Wucht
entfalten und jeden reformierten Glauben auf der piemontesi-
6chen Ebene ausrotten. Nur in den Alpentälern erhielt sich bis
zum heutigen Tag ein Überrest der Waldenser.

ALLGEMEINES, FESTSCHRIFTEN

Die Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG).
3., völlig neu bearb. Aufl. in Gemeinschaft mit Hans Frhr. v.
Campenhausen, Erich D i n k 1 e r, Gerhard G 1 o e g e und
Knud E. Lagstrup, hrsg. v. Kurt Galling. Band 3—4: H—O.
Tübingen: Mohr 1959/60. 1806 Sp., XXXII S. u. 1756 Sp., XXXV S.,
36Taf., 2Ktn. 4U. Lw. DM 99.- u. DM 103.-; Hldr. DM 104.- u.
DM 108.-.

Die RGG behält, ruhig und sicher, ihr Tempo und ihre Proportionen
. Der dritte Band ist vor dem Ende des Jahres 1959 erschienen
und besteht aus 21 Lieferungen. Der vierte Band kam
ebenso pünktlich mit 22 Lieferungen vor dem Ende von 1960 zu
den Lesern. Die Illustrationen sind ausgezeichnet und werden
sogar besser und wertvoller mit jedem Band. Man studiere z. B.
die Tafeln zum Artikel „Kirchenbau" oder „Kunst". Auch di*
Karten behalten ihr hohes Niveau. Wir finden Karten über die
mittelalterlichen Kreuzzüge und über die Ausbreitung der Hugenotten
in Deutschland im 16. und 17. Jahrhundert — dazu eine
Menge von anderen Karten. Und der Preis bleibt. Jede Lieferung
kostet wie zuvor DM 4.20.

In dem Stab der Fachberater befindet sich jetzt Dr. J. Marguli
statt des zu früh verstorbenen Hamburger Missionswissenschaftlers
Walter Freytag. Sein Tod war ein schmerzlicher Verlust nicht
nur für die RGG, sondern für uns alle.

Marguli hat übrigens m dem Artikel „Mission" (mit Zusammensetzungen
) schon wichtige Beiträge gegeben. Er hat die
grundsätzlichen Ausführungen über Begründung und Ziel der
Mission und über die Methode der Mission geschrieben. Andere
Unterabteilungen sind Gerhard Rosenkranz (Mission der außer-
christlichen Religionen, Missionswissenschaft), N. Goodall (Gegegenwärtige
Lage), H. W. Gensichen (Mission und Evangclisa-
tion, Missionsgeschichte, Missionsschulwcsen) und anderen wie
J. Hermelink f, W. Holsten usw. anvertraut. Man muß sagen, daß
die Missionswissenschaft hier eine Breite aufzuzeigen vermag, die
überraschend ist. Die Ökumene und die Weltmission gehörten
von Anfang an zu den theologischen Gebieten, denen die neue,
dritte Auflage der RGG sich besonders verpflichtet wußte, und
sie ist dieser Verpflichtung treu geblieben. Der Artikel „Mission"
ist umfangreicher als je zuvor.

Von der Ökumene gilt das noch stärker als von der Mission
. Der Artikel „Ökumenisch" bestand in der ersten Auflage
1913 aus neun Zeilen, in der zweiten Auflage 1930 aus drei
Spalten und in der dritten Auflage 1960 aus siebzehn Spalten
(mit Unterabteilungen). Schon diese äußeren Proportionen haben
etwas zu sagen. Aber dazu kommt der Inhalt der verschiedenen
Unterabteilungen: ein solides Wissen wird hier gegeben. Dr.
Visser 't Hooft berichtet von den Bedeutungen des Wortes „ökumenisch
" und von der internationalen ökumenischen Bewegung
(zusammen mit H. H. Harms, G. Noske und S. Grundmann), die
deutschen Arbeitsorgane und Verbände stellt H. Krüger dar,
und am Ende berichtet H. Bolewski von den Beziehungen zur

römisch-katholischen Kirche. Was hier gesagt wird, wird leider
bald veraltet 6ein. Es kommt ja wahrscheinlich eine neue
Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung im Sommer
1963. Aber gerade weil alles auf diesem Gebiet so schnell geht,
ist der Leser dankbar darüber, daß die RGG offenbar bestrebt ist,
in ständigem Kontakt mit der ökumenischen Arbeit zu stehen.

Auch das Gebiet der Kunst hat in dieser dritten Auflage der
RGG eine sehr zentrale Stellung. Der Artikel „Kirchenbau"
(64 Spalten mit 16 Tafeln, wobei jede Tafel oft eine ganze Reihe
von einzelnen Abbildungen hat) gehört zu den größten Artikeln
des ganzen Werkes. Die Druckkosten für diesen Artikel allein
sind zweifelsohne erheblich, fast wie für ein normales Buch,
nehme ich an. In den zwei früheren Auflagen war dieser Artikel
viel kleiner. Man findet die ältesten Bauwerke zusammen mit
den modernsten, z. B. die Wallfahrtskirche in Ronchamp, erbaut
von Le Corbusier, alles in klaren und deutlichen Abbildungen
auf bestem Papier. Dazu kommt der ausführliche und lehrreiche
Text, geschrieben von sachkundigen Kennern des Kirchenbauge-
bietes (Hampe, Deichmann, Bandmann, Hager u. a.).

„Kirche" dagegen ist ein ausgesprochen theologischer
Artikel — und solche gibt es viele in diesen 43 Lieferungen. Der
Schwede Stendahl präsentiert den neuen exegetischen Konsensus
über den neutestamentlichen Kirchenbegriff, der den alten, im
Jahre 1932 von Linton beschriebenen Konsensus abgelöst hat.
Hier ist wirklich eine Umwälzung geschehen. Mit Recht sagt
Stendahl, daß die ökumenische Bewegung dabei der rein exegetischen
Arbeit Anregungen gegeben hat. Diese Bewegung hat
sicherlich auch von den bibelwissenschaftlichcn Ergebnissen profitiert
. Der Däne Prenter hat den dogmatischen Teil desselben Artikels
geschrieben. Prenter betrachtet das Meßopfer als die Versuchung
des Katholizismus, die säkularisierte Berufsethik als die
Versuchung des Protestantismus. Er will den richtigen Weg
zwischen diesen beiden Extremen finden. Beide Verfasser — aber
besonders Stendahl — geben dem Leser einen Reichtum von
Literaturhinweisen.

Der Artikel „Jesus Christus" von H. Conzelmann ist schon
berühmt geworden. Er geht von der Bultmannschen Auffassung
aus und betont sehr stark das Wort, das verkündigte Wort. Zugleich
meint Conzelmann doch, daß die konkret historische Rückfrage
wissenschaftlich berechtigt ist. Eine ganze Bibliothek von
Literatur (2 Spalten von Buchtiteln) ist dem Artikel angehängt.
Man bekommt von diesem Artikel wie überhaupt von der Exegese
der Gegenwart den Eindruck, daß die alte Frage nach dem
historischen Jesus 6ich wieder langsam emporarbeitet. Das bedeutet
wahrscheinlich auch, daß eine neue Würdigung der liberalen
Theologie, ebenso langsam, herbeigeführt wird.

Überraschend unsystematisch und bunt ist der Artikel
„Offenbarung". Das ist vielleicht auch ein Symptom. Hier findet
man keine straffe Disposition, keine durchgehende These, im
Gegenteil: die einzelnen Autoren heben oft einander auf, und
sie hüten sich alle, auf eine bestimmte systematische Schule zu
schwören. Edsman schreibt von „Offenbarung" in der Religionsgeschichte
, Eichrodt behandelt das Alte Testament, E. L. Dietrich