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Ausgabe:

1962 Nr. 1

Spalte:

7-16

Autor/Hrsg.:

Pannenberg, Wolfhart

Titel/Untertitel:

Die Krise des Ethischen und die Theologie 1962

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Theologische Literaturzeitung 1962 Nr. 1

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ner Auffassung und die Kritik des Verfs. Diese letztere nimmt
freilich nur den geringsten Umfang ein (126—133). Zunächst
charakterisiert der Verf. meine Anschauung von der „present
eschatology" (86—112) und behandelt meine Interpretation von
Joh 14 und 16 (113—125). Dieses Referat ist ebenso sachlich
wie richtig, und ich habe kaum etwas dazu zu sagen. Die Kritik
zieht dann kurz die Konsequenzen aus den kritischen Bemerkungen
in Kapp. 1—3. Der Haupteinwand gegen mich ist der,
daß ich die Idee der „Heilsgeschichte" bei Joh leugne (126), und
zwar, weil meine Interpretation nicht exegetisch, sondern dogmatisch
begründet sei (129).

Nun hat es keinen Sinn, daß ich mich auf die exegetische
Diskussion im einzelnen einlasse (z.B. auf die Frage, ob Joh 14,3
die futurische Parusie verheißen sei). Ich müßte sonst einfach
die jeweils in meinem Kommentar gegebene Exegese wiederholen.

Im Irrtum aber ist der Verf., wenn er meint, daß ich, um
meine Theorie von der präsentischen Eschatologie aufrecht zu
halten, jede „heilsgeschichtliche" Bedeutung der Jünger leugne.
Daß das nicht der Fall ist, hätte er aus meinem Kommentar ersehen
können, wo ich (S. 46) sage, daß das t.ftmoäfiEfta Joh 1,14
zwar nicht nur von den Augenzeugen gilt, daß es aber nur gesprochen
werden kann, weil es glaubende Augenzeugen gegeben

hat, also nur innerhalb der durch die Augenzeugen begründeten
Geschichte und der durch sie vermittelten Tradition. Es ist mir
daher unverständlich, wie der Verf. sagen kann, mein Verhältnis
zur Geschichte „borders on Mysticism, be it of an existential
kind" (97, A. 46). Auch verstehe ich nicht, wie mir der Verf.
einen „existentialistic individualism" vorwerfen kann (132),
wenn er meine Interpretation von Joh 17, 20—23 gelesen hat.
Er zeigt damit nur, daß er den Sinn von Existenz und existentiell
, wie er (von Kierkegaard her!) in der existentialen Interpretation
leitend ist, nicht verstanden hat. Mir scheint, daß er
existentielles Selbstverständnis und Subjektivismus verwechselt
(vgl. 88, A. 10; 97, A. 46). Deshalb hat er zwar recht mit der
Behauptung, daß die Bezogenheit der Offenbarung auf die Existenz
das „Herz" meiner Interpretation der joh Abschiedsreden
sei (113); aber er übersieht, daß existentielles Verstehen nicht
Subjektivität ist, und daß der Begegnungscharakter der Offenbarung
nicht dadurch geleugnet wird, daß sie als unzugänglich
für die objektivierende historische Forschung bezeichnet wird.
Daß damit die Offenbarung nicht von der Geschichte gelöst
wird, sieht er nicht, weil er das Paradox nicht sieht, das die ganze
Darstellung des Joh durchherrscht, nämlich, daß das historische
Wirken Jesu zugleich eschatologisches Geschehen ist.

Die Krise des Ethischen und die Theologie1

Von Wolfhart Pannenberg, Mainz

I.

Im Jahre 1879 erschien das erste große Werk Wilhelm Herrmanns
: „Die Religion im Verhältnis zum Welterkennen und zur
Sittlichkeit" mit dem Untertitel: „Eine Grundlegung der systematischen
Theologie". Dieses Buch hat die Entwicklung der
Ritschlschen Schule nachhaltig beeinflußt. Die Exklusivität der
ethischen Begründung der Theologie im Anschluß an Kant ist ja
viel mehr für Herrmann, als für die ursprünglichen Gedanken
Ritschis selbst kennzeichnend. Ritsehl hatte in der ersten Auflage
seines systematischen Hauptwerkes betont, daß die christliche
Gottesidee als wissenschaftlich notwendig auch für die
theoretische Wirklichkeitserkenntnis nachgewiesen werden müsse
und könne, nämlich im Hinblick auf die anders nicht zu gewinnende
Einheit des Wirklichkeitsverständnisses (§ 29). Unter dem
Einfluß W. Herrmanns hat Ritsehl jedoch in der 3. Auflage 1888
diese Reminiszenzen der lotze6chen, theistisdien Metaphysik
eingeschränkt zugunsten einer Hervorhebung des kantischen,
moralischen Gottesgedankens und einer ethizistischen Engführung
der dogmatischen Methode2. Diese Position hat in
Herrmann ihren klassischen Vertreter. Er versuchte in seinem
Werk von 1879 die Theologie von aller Beziehung zum Welterkennen
zu lösen. Das bedeutete in der damaligen Situation
natürlich zugleich ihre Befreiung von aller Belastung durch die
positivistischen Angriffe auf die metaphysische Überlieferung
und überhaupt von jeder möglichen Kollision mit den Resultaten
neuzeitlicher Wissenschaft. Dagegen ist für Herrmann der
christliche Glaube mit dem Gebiet des Sittlichen auf das engste
verbunden: „Wenn nicht der religiöse Glaube im Ganzen sich
als die Form des geistigen Lebens, welche der sittlichen Persönlichkeit
entspricht, legitimieren kann, so ist ein dogmatischer
Beweis desselben unmöglich" (275 f.). Einen dogmatischen Beweis
der Wahrheit des christlichen Glaubens hielt also Herrmann
— im Unterschied zu der heute in dieser Sache üblich gewordenen
Fahrlässigkeit — durchaus noch für nötig, weil ihm die Wahrheit
des Christentums* noch nicht auf eine bloße „kerygmatische"

') Vorgetragen als Antrittsvorlesung in Mainz am 20. Juli 1961.

*) A. Rittchl, Rechtfertigung und Versöhnung 'III, §29, p. 214 f.
Zum Einfluß der Schüler Ritschis auf die Abänderung dieses Paragraphen
in der dritten Auflage vgl. G. Ecke, Die theologisdie Schule Albrecht
Ritschis und die evangelische Kirche der Gegenwart I, 1897, 42 f., auch
137 ff.

3) Herrmann sieht im christlichen Glauben noch die ..absolute Religion
" (276 f.), und es ist sein bitterster Vorwurf gegen Pfleiderer, diese
Position preisgegeben zu haben (329 u. ö.).

Gerhard Gloege zum 60. Geburtstag

Versicherung zusammengeschrumpft war, sondern noch eine
ernsthafte Angelegenheit der „freien Einsicht" war. Damals hatte
die evangelische Theologie ihren Anspruch auf Allgemeingültigkeit
noch nicht preisgegeben. Herrmann unterschied sich von seinen
Gegnern Lipsius oder Luthardt nur darin, daß er jenen dogmatischen
Beweis ausschließlich auf dem Boden des sittlichen,
nicht mehr des theoretischen Bewußtseins führen wollte. Daß
diese Einengung der Anfang vom Ende des Wahrheitsanspruchs
christlicher Theologie 6ein mußte, das konnte man damals — auf
dem Höhepunkt des Neukantianismus, dem Herrmanns Denken
verpflichtet war, — noch nicht wissen. Aber wie verstand er genauer
das Sittliche als Beweisgrund der christlichen Wahrheit?
Nicht im Sinne einer Gleichsetzung von Religion und Sittlichkeit,
sondern in der Weise einer Ergänzung. Gegen Kant und den älteren
Rationalismus wollte er die Religion nicht ak Produkt des
sittlichen Bewußtseins verstehen, sondern als dessen selbständig
begründete „Bedingung", und zwar als Bedingung nicht der Geltung
des ethischen Imperativs, wohl aber des konkreten sittlichen
Leben6Vollzuges Die Quelle der religiösen Erfahrung ist
ihm, im Unterschied zu Kant, nicht die Sittlichkeit, sondern die
geschichtliche Offenbarung (365 ff.). „Diece Offenbarung Gottes,
auf welche wir uns frei verlassen, ist uns der Mensch Jesu6 in
seinem Lebenswerke" (390). Daß aber in der Person Jesu, vor
allem in seinem „inneren Leben" (387), Gott offenbar ist, das
muß sich nach Herrman an unserm sittlichen Bewußtsein bewahrheiten
; denn der persönliche Geist kann eich vor nichts anderem
beugen ak vor der sittlichen Persönlichkeit: „Folglich kann die
Offenbarung Gottes, der wir uns unterwerfen, nichts anderes
sein als die sittliche Persönlichkeit, als welche Jesus sich darstellt
" (400). Freilich kann die sittliche Autorität Jesu, seine
Verkündigung des wahren Gottes, „nur dann die Menschen zu
einer ihm vertrauenden Gemeinde vereinigen, wenn sie zugleich
das Joch de6 Gesetzes von ihnen nimmt, das 6ie dennoch in seiner
ganzen Tiefe verstehen lehrt und zur Anerkennung bringt".
Denn ohne das Wort der Vergebung würde uns gerade durch die
sittliche Größe Jesu die Heikzuversicht verwehrt, so daß „die
Kraft zu religiösem Glauben erlöschen" müßte (396). So faßt
Herrmann seinen Gedankengang zusammen: „Als den Offenbarungscharakter
Christi haben wir seine sittliche Majestät aufgewiesen
in ihrer unlösbaren Verbindung mit seiner vergebenden
Liebe gegen uns" (397). Das Verständnk dieser Offenbarungsbedeutung
Jesu ist, wie Herrmann ausdrücklich betont, „an die
bewußte Regsamkeit des sittlichen Bewußtseins gebunden" (432).

*) a. a. O. 250 u. ö.