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Ausgabe:

1960 Nr. 11

Spalte:

857-860

Autor/Hrsg.:

Moeller, Bernd

Titel/Untertitel:

Reichsstadt und Reformation 1960

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Theologische Literaturzeitung 1960 Nr. 11

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Klagenfurt. In einer harten Zeit, da die Menschen angesichts des
Bündnisses Frankreich-Rußland ihre Hilfe wieder auf militärische
und moralisch-weltliche Waffen setzen, tut ein anderer Helfer
not, unser Erlöser und Heiland, der uns darauf hinweist, uns der
jungen Schüler in Klagenfurt anzunehmen, die ohne Aufsicht,
ohne Pflege verwildern und verkommen. Um diesen Knaben ein
Heim zu schaffen, bittet er um Hilfe; sie ist ihm reichlich zuteil
geworden.

Im Jahre 1894 wurde das „Evangelische Erholungs- und
Krankenheim zu Waiern bei Feldkirchen" eingeweiht, 1901 kam
es zur Gründung des „Evangelischen christlichen Hilfsvereines in
Kärnten", der die Betreuung der Anstalten übernahm, zu denen
eich 1912 ein Kleinkinderheim, 1957 ein Altersheim, 1958 die
Haushaltungsschule gesellten. In dem Vorstand des Hilfsvereines
wirkte eine Frau mit, deren Name aus dem Werk der Inneren
Mission in Kärnten nicht gestrichen werden darf: Gräfin Elvine
de L a T o u r.

Sie war als Tochter des Industriellen Julius Hektor Ritter
von Zähony 1841 in Görz geboren, war dort durch den Religionsunterricht
bei Ludwig Schwarz oder die Konfirmations-
vorbercitung durch Pfarrer Heinrich Medicus erweckt worden.
Auf ihrer Herrschaft Russitz im Küstenlande, die der Vater der

27jährigen anläßlich ihrer Vermählung mit dem Grafen Theodor
K. L. A. de La Tour schenkte, richtete sie eine Mädchenerziehungsanstalt
und eine evangelische Volksschule ein. Diese Schöpfungen
sind durch den Verlust des Landes während des ersten Weltkrieges
zugrunde gegangen. Bis zum heutigen Tage bestehen
aber die gemeinnützigen Anstalten, die 6ie auf der Herrschaft
Treffen nördlich von Villach in Kärnten, die ihr Gatte 188 5
kaufte, gegründet hat. Es waren Kinder- und Altersheime, wozu
sich ein Hospiz in Triest gesellte. Die von ihr gegründete evangelische
Schule ist zur öffentlichen Schule des Ortes geworden.
Die Gräfin ist 1916 gestorben, aber ungebrochen lebt der Geist
der im Dienste Christi tätigen Nächstenliebe, der Geist der
Evangelisation, der die frohe Botschaft verkündet, in ihren Anstalten
, die bedeutend vergrößert und durch ein Schülerheim in
Villach und eine Sonderschule in Treffen vermehrt worden sind*.

So sehen wir, wie zwischen Oberösterreich und Kärnten der
Kreis sich schließt, wie die alte Frömmigkeit der Reformationszeit
, bewahrt im Erbe des Pietismus, auch heute noch ungebrochen
lebt.

*) A. Katterfeld, Um Gottes Reich, 1938; H. Jaquemar, Innere
Mission, 1951; L. Hoffmann, Frauen auf Gottes Straßen (1951); H.Norden
, Eine tapfere Frau und ihr Werk (1958).

Reichsstadt und Reformation1

Von Bernd M o e 11 e r, Heidelberg

(Kurzfassung)

Die ersten Gemeinwesen im Reich, die offiziell evangelisch
geworden sind, waren freie Städte, und die große Mehrzahl aller
deutschen Reichsstädte des 16. Jahrhunderts sind ganz oder teilweise
der Reformation zugefallen. Wie erklärt sich diese Sympathie
zwischen den Reichsstädten und der reformatorischen Bewegung
, und wie hat sie sich ausgewirkt?

Es scheint, daß die Kenntnis der inneren Struktur der spät-
mittelaltcrlichcn Reichsstadt wichtige Aufschlüsse gibt. Die neuere
Forschung hat die Bedeutung des genossenschaftlichen Elements
schon für die Entstehung der freien Stadtgemeinden und dann insbesondere
für deren Leben und Denken seit den Zunftkämpfen des
14. und beginnenden 15. Jahrhunderts deutlich herausgestellt: Die
Stadt ist ein einziger großer Organismus, in den der einzelne Bürger
mit Rechten und Pflichten unauflöslich eingefügt ist. Mit
seinem Tun, seinem Beruf, seiner Sittlichkeit glaubt er sich für das
Gedeihen des Ganzen verantwortlich; dieses Ganze aber, die Stadt,
bildet den Raum seines Lebens, garantiert ihm nicht nur 6ein
irdisches Wohlergehen, sondern sogar auch sein ewiges Heil. Die
spätmittclaltcrliche Stadt versteht sich als ein „Kollektivindividuum
" (Bofinger). Mehr als das: Sie ist eine sakrale Gemeinschaft.
Bürgergemeinde und Kirchcngcmcinde sind in ihr untrennbar verbunden
, ja identisch; und so sind nicht bloß um politischer Zwecke
willen die Städte bemüht, die kirchlichen Personen und Institutio-

manchmal geradezu dramatische Aufeinanderfolge von Szenen
kräftigster mittelalterlich - katholischer Kultusfrömmigkeit und
schärfsten protestantischen Radikalismus' binnen weniger Jahre
erkennen, auch der Nachdruck, mit dem allenthalben von der
Bürgerschaft selbst evangelische Predigt gefordert und durchgesetzt
wird. Der Übergang zur Reformation ist immer wieder als eine
Angelegenheit der ganzen Stadtgemeinde erlebt worden, man
glaubt, nur durch die Absage an die alte Kirche und durch die
Predigt des reinen Evangeliums den Stadtfrieden erhalten, dem
Zorn Gottes entrinnen, Gottes Ehre verherrlichen zu können. So
macht die Reformation vielfach die alten Gedanken der Stadtgenossenschaft
wieder lebendig, und es ist auffallend, daß die
offizielle Einführung der evangelischen Predigt vom Rat fast
überall in engster Fühlung mit der Gemeinde vollzogen wird;
vielerorts geht eine förmliche Volksabstimmung voraus und der
gemeinsame Schwur von Rat und Bürgerschaft, daß man mit Leib
und Gut zusammenstehen wolle, falls die Stadt aufgrund des
Evangeliums in Not kommen sollte.

Es ist demnach deutlich, daß die Reformation in den freien
Städten besonders eigenartige Verhältnisse vorfand: Daß sie hier
einerseits in einem Maß begünstigt wurde wie nirgends sonst,
weil sie sich hier ihre Gemeinde weitgehend selbst suchen konnte
und aus der Gemeinde kommende Impulse hier weitgehend ver-

nen in den Stadtkörper einzugliedern. Dem Gemeinschaftsgedan- wirklicht wurden; daß sie hier aber andererseits auch in beson-

ken der spätmittclaltcrlichen Stadt wohnt also ein sektiererischer
Zug innc, die Stadt hat die Tendenz, sich als ein corpus christia-
num im Kleinen zu verstehen.

Dieses Bild ist freilich am Vorabend der Reformation kaum
noch rein erhalten. Aus mancherlei Gründen beginnt im späteren
15. Jahrhundert die Spannung im genossenschaftlichen Denken

derem Maß eingeengt wurde, weil sie in eine festgefügte soziale
Ordnung mit einer alten Tradition und einer tiefgeprägten gedanklichen
Begründung eintrat und zur Auseinandersetzung mit
ihr gezwungen wurde.

Von da aus legt sich die Frage nahe, ob sich für den Erfolg
der reformatorischen Predigt in den Reichsstädten von dem Selbst-

allenthalbcn nachzulassen, das herrschaftliche Element in der Stadt- Verständnis der Stadt her eine Erklärung finden, ob sich eine

Regierung tritt deutlicher hervor, und die sakrale Prägung des tiefere Gemeinsamkeit von reformatorischer Theologie und

Gemeinschaftsgedankens löst sich da und dort allmählich auf. | städtischem Denken feststellen lasse. Schon A. Schultzc hat Lu-

Dcr große und fast allgemeine Erfolg Luthers in den freien thers Gedanken der Gleichheit und Gleichberechtigung aller

Städten ist durch humanistischen Bildungseifer und soziale Un- | Gläubigen vor Gott, seine Überwindung der mittelalterlichen

Zufriedenheit begünstigt worden, erklärt sich von da aus aber nur Zweiständelehre als im tiefsten Sinn stadtgemäß angesprochen;

unvollkommen; denn es ist kaum das Werk von Humanisten denn hier schien Luther in dem alten Kampf der Stadt mit der

oder Sozialrevolutionären, daß der Sieg der Reformation in den Kirche jener gegen diese zu Hilfe zu kommen und auf ganz neue

Städten von Dauer war. Daß der Umbruch ticfeT ging, läßt die un(j tjefe yyejse die alte städtische Vorstellung zu begründen, daß

~"-- das weltliche Leben selbst, die Treue zur innermenschlichen Ge-

) Dieses Referat ist die skizzenhafte Zusammenfassung einer gro- meinschaft, die verantwortliche Ausübung des Berufs sittlichen

ßeren Abhandlung, die demnächst unter demselben Titel an anderem
Ort veröffentlicht werden soll. Sie mußte schon für den Vortrag in
Berlin und dann nochmals für den Abdruck in der ThLZ stark gekürzt
Werden.

Wert habe. Doch muß man festhalten, daß diese Verwandtschaft
des städtischen Denkens mit Luther nicht bis in die Tiefe
reicht, daß Luther vielmehr die alte städtische Welt letzten Endes