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Ausgabe:

1960 Nr. 6

Spalte:

419-426

Autor/Hrsg.:

Wenschkewitz, Hans

Titel/Untertitel:

Neuere Bibelauslegungen für die Gemeinde 1960

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419

Theologische Literaturzeitung 1960 Nr. 6

420

Theologie eine exilisch-nachexilische Uminterpretation der Botschaft
der vorexilischen großen Einzelpropheten darstellt, die mit
Hilfe der von diesen längst in Frage gestellten einlinigen und
unverbrüchlichen Heilserwartung für Israel erfolgt und die — vorwiegend
kultprophetische — Heilsverkündigung auf einer neuen
Ebene fortsetzt. Diese Heilserwartung und -Verkündigung für
Israel aber wird dem alttestamentlichen Gotte6bild nicht gerecht,
sondern vereinfacht und vereinseitigt es durch die Vernachlässigung
anderer Aspekte oder verfälscht es durch die Zuweisung de6
Heils an Israel und des Unheils an die Völker im nationalreligiösen
Sinn. Der Unterschied zu den großen Einzelpropheten wird
dadurch vertieft, daß die eschatologische Prophetie gewöhnlich
nicht eine wesenhafte Wandlung und neue Daseinshaltung de6
Menschen, sondern ein neues Zeitalter und eine neue Gestalt
der Umwelt erhofft. Jahwe wandelt nach ihr nicht den Menschen
und durch ihn die Welt, sondern die Welt und erst auf diesem
Umweg über sie oder in Zusammenhang mit ihr den Menschen,
sofern dieser nicht gar für fähig gehalten wird, sich die Teilhabe
am Heil zu verdienen. Dieser verhängnisvollen Umkehrung, die
Gott nur noch mittelbar über die äußeren Lebensverhältnisse auf
den Menschen einwirken und — von wenigen Ausnahmen abgesehen
— nicht mehr unmittelbar in sein Leben und Wesen eingreifen
sieht, entspricht es, daß die erhofften Heilsverhältnisse von
ewiger Dauer sein sollen. Damit entnimmt die eschatologische
Prophetie den Menschen der Notwendigkeit einer immer neuen
Entscheidung, sobald er sich im Heilszustand befindet, und versetzt
ihn in einen Ruhestand des Genießens.

Gründet sich die eschatologische Prophetie also auf die Mißdeutung
der Botschaft der großen Einzelpropheten und die heilsprophetische
Illusion des ausschließlichen göttlichen Heilswillens
für Israel, so ist sie zugleich von Anfang an eine Theologie der
scheiternden Hoffnung und der vergeblichen Erwartung. Sie hält
ja darin an einem Grundmoment des alttestamentlichen Glaubens
fest, daß sie die Zeitenwende als nahe bevorstehend betrachtet.
Diese Verkündigung des in aller Kürze hereinbrechenden neuen
Zeitalters entspricht völlig dem Nachdruck, den das Alte Testament
auf das Hier und Jetzt deö Menschen legt, und daher auch

dem Anspruch aller übrigen prophetischen Tätigkeit, sich mit
Fragen der jeweiligen Gegenwart und allernächsten Zukunft zu
befassen. Erst die Fernerwartung fällt aus dem Rahmen des alttestamentlichen
Glaubens überhaupt heraus. Die Naherwartung
aber zieht als unerwartete und unbeabsichtigte Folge die Erkenntnis
nach sich, daß das verheißene Heil sich nicht verwirklicht
, und damit die Enttäuschung über sein Ausbleiben und die
neue Vertröstung auf die demnächstige Zukunft. Schon die
eigentlich eschatologischen Erwartungen Deuterojesajas, die über
die auch politisch vorauszusehenden Erfolge des Kyros und ihre
Auswirkungen hinausgehen, haben sich nicht verwirklicht, vielmehr
zu jenem tragischen Ende des Propheten beigetragen, dem
ein Anhänger in Jes 52,13 — 53, 12 dennoch einen Sinn abzugewinnen
sucht. Genau so sind die eschatologischen Hoffnungen
Haggais und Sacharjas, die sich mit dem Tempelbau verknüpfen
, vor der Wirklichkeit verflogen und haben durch ihr
Scheitern zum zeitweiligen Sieg der konkurrierenden kultischrituellen
Frömmigkeit nichteschatologi6cher Art geführt, aus
deren Ungenügen sich dann die Krise entwickelt hat, die da«
Buch Maleachi widerspiegelt und die Esra durch eine streng gesetzliche
Frömmigkeit zu beheben bemüht gewesen ist.

So bildet die eschatologische Prophetie und Theologie gewiß
einen tiefen Einschnitt und eine große Umwandlung de6 alttestamentlichen
Glaubens — wie vorher die Infragestellung der
grundsätzlichen Heilssituation durch die großen Einzelpropheten
und später die Verpflichtung auf das Gesetz durch Esra. Wie
dieses Vorgehen Esras jedoch den alttestamentlichen Glauben
verfälscht und in bedenkliche Bahnen gelenkt hat, so ist die
eschatologische Prophetie das Ergebnis der epigonalen Entartung
der vorexilischen Prophetie03. Die Apokalyptik als jüngere und
sozusagen modernere Form der Eschatologie ist grundsätzlich
nicht anders zu beurteilen.

n3) Von dieser grundsätzlichen Beurteilung abgesehen, ist weiter
zu beachten, daß es in der Reinheit des eschatologischen Glaubens
zweifellos Abstufungen gegeben hat; darauf weist P. Volz, Der eschatologische
Glaube im Alten Testament, in: Festschrift Georg Beer,
Stuttgart 1935, S. 15 f., mit Recht hin.

Neuere Bibelauslegungen für die Gemeinde

Von Hans Wenschkewitz, Loccum

Die für da6 Gemeindeglied bestimmte Auslegung der Bibel
stellt an den Exegeten besondere Anforderungen. Einerseits kann
die historische und dogmatische Problematik nur bis zu einem gewissen
Grade oder gar nicht entfaltet werden. Andererseits enthält
die Verpflichtung zur gemeinverständlichen Darstellung die
Gefahr einer wissenschaftlich nicht verantwortbaren Vereinfachung
. Dennoch kann davon ausgegangen werden, daß die evangelische
Botschaft etwas ganz Einfaches ist. Daher muß es für
den, der sie wirklich verstanden hat, auch möglich sein, sie einfach
darzustellen. Hierbei wird der wissenschaftliche Charakter nicht
verloren gehen, sondern hinter der Aussage stehen, ohne daß dieses
entfaltet werden müßte. Da theologische Wissenschaft nicht
um ihrer selbst willen geschieht, sondern sinnvoll nur im
Dienst der Kirche betrieben werden kann, wäre eine einfache,
aber nicht simplifizierende Auslegung eigentlich das letzte Ziel
jedes Exegeten und das Zeichen dafür, daß er für seine Zeit den
ausgelegten Text verstanden hat.

Im faktischen Vollzug der exegetischen Arbeit besteht aber
zwischen der wissenschaftlichen und der für das Gemeindeglied
bestimmten Exegese ein Hiatus. Während die wissenschaftliche
Exegese eine billige Popularisierung scheut, wird die für das
Gemeindeglied bestimmte Auslegung oft unter dem Gesichtspunkt
einer falschen Erbaulichkeit und eines vom Standpunkt der
wissenschaftlichen Theologie unhaltbaren Biblizismus betrieben.
So kann fast der Eindruck entstehen, es gäbe eine doppelte Auslegung
: eine für den an historisch-kritische Arbeit gewöhnten,
wissenschaftlich arbeitenden Theologen und eine andere, die für
das sogenannte schlichte Gemeindeglied bestimmt ist. Da es aber
nur eine Wahrheit geben kann, sind solche Unterschiede nur
in begrenztem Umfange tragbar. Wohl brauchen literarkritische

und religionsgeschichtliche Hypothesen tatsächlich nicht vor den
Gemeindeglicdern entfaltet zu werden. Wenn aber das Wort vom
„mündigen Christen" einen Sinn haben soll, so kann und muß
diesem Christen auch gesagt werden, wo am konkreten Text sich
Schwierigkeiten ergeben. Der Mensch der Gegenwart merkt sie
sowieso, und sie werden nicht beseitigt, indem man sie umgeht.
Gerade dadurch wird sichtbar, welches der wirkliche Grund des
Glaubens ist. Versucht man von daher für das Gemeindeglied bestimmte
exegetische Literatur zu beurteilen, so werden hier die
Bücher zuerst zu nennen sein, in denen die theologische Arbeit
am NT aufgenommen und für das Gemeindeglied fruchtbar gemacht
wird.

Hierzu gehört die Einführung in das Markus-Evangelium von
Wolfgang T r i 11 i n g : „Christusgeheimnis — Glaubensgeheimnis
" . Das Buch bietet nicht eine Einzelauslegung, sondern behandelt
den Mittelpunkt des Evangeliums im Verständnis des
Markus. Der Verfasser geht von dem Verständnis des Evangeliums
als Botschaft aus. Zwei Themen sind für ihn der Mittelpunkt
des Markus-Evangeliums:

1. Das Chri6tusgeheimnis. Markus bietet ein spannungsreiches
Jesusbild, das eicfi nicht mit dem Begriff der Persönlichkeit
auffangen läßt. In sehr klarer Wci6e stellt der Verfasser die
Messianität als Geheimnis heraus, wobei er zeigt, wie weit Markus
die Spannung zwischen Offenbarung und Verhüllung bewußt
verstärkt. Das ,,Messiasgeheimnis" des Markus-Evangeliums ist

') Tri Hing, Wolf gang: Christusgeheimnis — Glaubensgeheim-

nis. Eine Einführung in das Markus-Evangelium. Leipzig: St. Benno-
Verlag 1957. 64 S. 8°. " Die Botschaft Gottes. Eine biblische Schriftenreihe
, hrsg. von O. Schilling und H. Schürmann. I. Ncutestamcnt-

liche Reihe, 5. H. *