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Ausgabe:

1959 Nr. 9

Spalte:

647-652

Autor/Hrsg.:

Urner, Hans

Titel/Untertitel:

Evangelische Einzelbeichte 1959

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Theologische Literaturzeitung 1959 Nr. 9

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Urchristentums. Dann wird uns die Einheit der neutestament-
lichen Verkündigung fraglich, und wir erkennen mit wachsender
Klarheit den unendlichen qualitativen Unterschied zwischen Jesus
von Nazareth und der Kirche seiner Apostel und Evangelisten.
Dann aber verliert auch der traditionelle Kanonsbegriff mehr und
mehr seinen Sinn.

Luther hat den Kanon über die Lehrtradition gestellt und
zur norma normans christlichen Glaubens gemacht, gleichzeitig
aber die Auflösung des formalistischen Kanonsbegriffs eingeleitet,
indem er das paulinische Evangelium zum xavcav xov xavovo?
erhob. Kanonisch ist, „was Christum treibet", das heißt für
Luther in praxi, was Christum treibt im paulinischen Sinne. Die
hermeneutische Voraussetzung dieses Kanonsverständnisses ist
die Interpretation der Evangelien im Geiste der Paulusbriefe. Die
kritische Konsequenz dieses Kanonsverständnisses ist die Ablehnung
des Jakobusbriefs und der Apokalypse.

Die großen Kritiker des 19. Jhdts. erkennen die Unterschiede
und Gegensätze zwischen Paulus und dem synoptischen Jesus,
verzichten auf hermeneutische Harmonistik und entscheiden sich
für Jesus gegen Paulus. Das ist zunächst eine rein historische
Option (ad fontesf), zuletzt und zuhöchst aber eine Entscheidung
von dogmatischer Tragweite: Nicht mehr der Kanon, aber auch
nicht mehr der Apostolos, sondern die Botschaft Jesu soll hinfort
die norma normans protestantischen Glaubens 6ein.

Das 20. Jhdt. ist nach dem Tode Wredes und seiner Kampfgenossen
ganz programmatisch zum Kanonsverständnis der Reformationszeit
zurückgekehrt. Wenn moderne Evangelienkritiker
vom „Gehorsam gegen die Autorität der Schrift" oder von der
„sachlichen Einheit der neutestamentlichen Offenbarung" sprechen,
dann meinen sie allermeist die Autorität und Theologie des
Apostels Paulus (vgl. K. S. 479; 514). Wenn sie überhaupt (noch
oder wieder) von Jesus sprechen, dann meinen sie allermeist den
Christus von 2 K 5, 16. Von L 1, l/4 spricht man nicht gern.

Soll Paulus darüber entscheiden, ob und in welchem Sinn in
der Kirche Jesu Chrißti von Jesus die Rede sein darf? Oder wird
man den „lukanischen" Weg fortsetzen, jenen Weg, den die
großen Evangelienforecher und Kanonskritiker des 19. Jhdts. beschritten
haben? Es ist ein harter Weg, heute wie ehedem. Es war
für die Reformation nicht leicht, 6ich um des Neuen Testaments
willen im Konflikt6falI gegen die kirchliche Lehrtradition, um des
paulimschen Evangeliums willen gegen Jak oder Ap zu entscheiden
. Es ist gewiß nicht leichter, 6ich um Jesu von Nazareth
willen im Konfliktsfall gegen Paulus, Markus, Matthäus, Lukas
oder Johannes zu entscheiden. Es ist ein gefährlicher Weg, heute
mehr denn je. Denn es war vor hundert Jahren noch relativ einfach
, den synoptischen Jesus mit dem paulinischen oder johan-
neischen Christus zu konfrontieren. Aber es ist bekanntlich
eminent 6chwer, aus der synoptischen Jesusüberlieferung die Ur-
botschaft Jesu von Nazareth herauszuschälen. Es ist ein schmaler
Weg, und wenige sind's, die darauf wandeln. Aber auch in der
Wissenschaft sind die schmalen Wege vielleicht nicht immer die
falschen.

Evangelische Einzelbeichte?1

Von Hans Urncr, Halle/Saale

Das Fragezeichen im Thema muß heute als Herausforderung Aber die Ungebrochenheit, die Sicherheit und Selbstverständlichkeit
, mit der viele heute mit der evangelischen Einzelbeichte

empfunden werden. Die Erneuerung der Einzelbeichte in der
evangelischen Kirche ist aus dem Kreise der Kirchenreformer
und Restauratoren in die ganze Breite des Kirchenvolks vorgedrungen
. Der Kirchentag 1956 in Frankfurt am Main hat das erwiesen
. Hier Bedenken anzumelden, Zweifel zu äußern und
theologische Kritik zu üben, muß ja wie Reif und kalter Schnee
zur Frühlingszeit erscheinen. Früher ließ sich vielleicht noch
warnend auf die römisch-katholische Praxis als das schlimme
Gegenbild verweisen und ein Rückfall in die Papstkirchen befürchten
. Aber wenn nun gerade der Ruf zur evangelischen
Beichte dort so überraschend schnell gehört wird, wo die „profanen
Weltchristen" von heute in Scharen zusammenströmen
wie auf den Kirchentagen, da läßt sich doch scheinbar gar nicht
mehr in Frage stellen, daß ein altes Stück christlicher, kirchlicher
Tradition zu neuem Segen erwacht ist. Von katholisierender
Nachahmung kann doch gar nicht mehr die Rede sein, wenn
die Kreise gewonnen sind, denen es, ßeit es Kirchentage gibt,
nur um das rechte evangelische Leben in der Gegenwart geht.

Die Lage ist tatsächlich so: die lange vernachlässigte, ja
vergessene Möglichkeit zur Einzelbeichte wird als entscheidende
Hilfe gerade für den heutigen Menschen erkannt. Der Vorwurf
einer romantischen Restauration wird zurückgewiesen mit dem
Hinweis auf das allerorts sichtbare Verlangen nach „Beichte".
Dabei sieht man auf die Nichtkatholikcn. Daß bei den Katholiken
keineswegs überall das Verlangen nach Beichte so groß ist,
ja vielleicht eben die Beichte wichtigster Anlaß zum Austritt
aus der römisch-katholischen Kirche werden kann, das wird auf
das jahrhundertealte Konto der Ohrenbeichte als Schuldposten
gesetzt, während die evangelisch-gereinigte Beichte in um so
hellerem Licht erstrahlt. Nur sie ist es, in der die Rufer zur Einzelbeichte
die Glaubens- und Lebenshilfe für den Menschen der
Gegenwart sehen. Was Luther von der Beichte sagt, ist für sie
von höchster Aktualität geworden: noch ein klein wenig Anleihe
bei der heutigen Psychotherapie und das Heilmittel für unsere
kranke Kirche und die kranke Welt dazu ist da.

Es liegt mir wahrhaftig nichts daran, der evangelischen Seelsorge
einen neuen Weg zu verbauen und den Mut zu lähmen.

') Vortrag auf der Theologischen Woche in Halle am 14. Oktober
1958.

rechnen, scheint mir ein Fragezeichen wert.

Nun wäre es gewiß für einen Kenner der Literatur ungerecht
zu behaupten, die eifrigen Verfechter der Einzelbeichte hatten
nicht ihrerseits schon genug Fragen aufgeworfen. Albrecht
Schönherr hat in seinem Vortrag auf dem Frankfurter Kirchentag
vier präzise Fragen gestellt, wie sie jedes Gemeindeglied auf
der Zunge hat, wenn die Rede darauf kommt, und ähnlich ist
es in anderen Veröffentlichungen. In der Praxis sind sie gewiß
nicht so leicht zu beantworten, wie es in der Literatur geschieht.
Ich möchte hier auch keine neuen Laienfragen aufwerfen. Mir ist
es um die kritische Funktion deT Praktischen Theologie zu tun-
Sie wird auch dann nicht ruhen, wenn eine kirchliche Einrichtung
gut funktioniert, — selbst dann nicht, wenn von unleugbaren
Segnungen zu berichten wäre. Die kritischen Fragen der Praktischen
Theologie können sich auf die theologischen Grundlagen
des kirchlichen Handelns, aber auch auf dieses Handeln selbst
richten. Hier soll beides miteinander verbunden werden, und
zwar in einer Fragestellung, die weit über die Beichte hinausreicht
, die das gesamte Handeln der Kirche betrifft: Tradition
und Gegenwart. Hier nun soll sich die Frage auf die Einzelbcichte
beschränken. Sie wäre ebenso im Blick auf die Gottesdienstordnung
, die Lebensordnung, die Verwaltung oder die Amtshandlungen
zu stellen.

L

Die Tradition nicht aufgeben und der Gegenwart gerecht
werden — das ist die Aufgabe, um nicht zu sagen - das Dilemma'
vor dem die Kirche immer steht. Ist aber das Problem immer
erkannt worden? Ist nicht oft um der jeweiligen Gegenwart willen
ein wertvolles Stück Tradition preisgegeben worden? Oder is{
nicht weit häufiger die Tradition auf Kosten der Gegenwart
heilig gehalten worden? Die römische Kirche scheint dieses Problem
in vielem großartig zu meistern, so starr und unbeirrt durch
die Wandlungen der Welt sie andererseits ihre große Tradition
wahrt.

Gerade im Blick auf die Beichte wird man sagen können,
daß die Zeiten vorbei sind, in denen man das Verlangen na*
evangelischer Beichte mit einem Hinweis auf das Schreckbild der