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Ausgabe:

1958

Spalte:

165-176

Autor/Hrsg.:

Tschirch, Fritz

Titel/Untertitel:

Metrik und Gesangbuch 1958

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Daß die Auseinandersetzung der Joh. Offenbarung mit dem
römischen Imperium für die Stellung der Christen zum totalitären
Staat von Wichtigkeit ist, hat O. Cullmann immer wieder
hervorgehoben. Er wagt den Satz: „Der totalitären Forderung
haben wir bis aufs Blut zu widerstehen, aber das Schwert nehmen
, selbst als Gemeinschaft der Christen den Krieg gegen diesen
Staat führen, um seine Existenz zu vernichten, das steht
uns nicht zu" (a. a. O. S. 60). Man muß einen derartigen Satz
wohl von der angelsächsischen Situation der Gegenwart her verstehen
, um ihn recht zu würdigen. Exegetisch und biblisch-theologisch
ließe sich allerdings fragen, wie er aus der Beschäftigung
mit der Joh. Offenbarung hermeneutisch abzuleiten ist. Tatsache

I ist allerdings, daß Christen immer wieder in den Konflikt mit

i dem totalitären Staat gestellt werden und der Bestätigung durch
die Gemeinschaft der christlichen Kirche bedürfen. Nachdem
aber die Probleme der Hermeneutik uns in den letzten Jahren

! besonders bedrängt haben, wäre es gut, die theologische Legitimität
wichtiger Thesen noch verständlicher zu machen. Sicherlich
hat aber die historische Auslegung der Joh. Offenbarung
auch ganz bestimmte Ansprüche an nichttotalitäre Staatsformen.
So weiten sich auch die grundsätzlichen Fragestellungen weiter
aus. Die vorliegende Arbeit dürfte geeignet sein, manche Anregung
zu einer erneuten historischen Durcharbeitung des bibli-

! sehen Materials zu geben.

Metrik und Gesangbuch

Ober das letzte Stück im ersten Hatbband des Handbuchs zum Evangelischen Kirchengesangbuch

Von Fritz T s c h i r c h, Jena

Aber auch die Wahrheit ist gut Ding. ! wozu hat er seine grundlegende dreibändige „Deutsche Vers-
(Lessing: Minna von Bamhelm I, 2) , gewichte" geschrieben, die, von 1925-1929 in dem bekannten,

Klagen über die zunehmende Spezialisierung in der Wissen- £?n, Hermann Paul begründeten „Grundriß der germanischen

Philologie" als Nr. 8 erschienen, 1956 noch einmal in unveränderter
Neuauflage herausgebracht, im Lesesaal zumindest jeder
deutschen Universitätsbibliothek unmittelbar zugänglich ist? So
stark gerade heute die Heuslerschen Auffassungen und Ergebnisse

schaft und die wachsende Entfremdung selbst zwischen den
nächstverwandten sind nicht neu. In letzter Zeit, so will mir
scheinen, ist jedoch die Entwicklung in dieser Richtung derart
bedrohlich geworden, daß man ihr nicht mehr länger schweigend

zusehen darf1 I in ^as Kreuzfeuer der kritischen Auseinandersetzung geraten

sind und die metrische Forschung in Bewegung gekommen ist

Von den Philosophen abgesehen sind wohl die Theologen
diejenigen Wissenschaftler, die vom Gegenstand ihrer Arbeit her
am häufigsten und am stärksten in andere Wissenschaftsgebiete
übergreifen müssen und daher am empfindlichsten an deren Ergebnisse
gewiesen sind. Naturgemäß werden sie nur dann gültig

die entscheidende Einsicht, die Heusler zuerst in seiner wegweisenden
Studie „Deutscher und antiker Vers", Straßburg 1917,
schlechterdings überzeugend entwickelt hatte, ist seit seiner großen
Versgeschichte zur selbstverständlichen Grunderkenntnis unserer
metrischen Überzeugungen geworden, an der niemand mehr

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mitreden können, wenn sie sich zumindest um einen ungefähren j ungestraft vorübergehen kann. Seitdem ist es unmöglich, den
Ein- und Überblick über das bemüht haben, was die fachwissen- , germanisch-deutschen Vers am antiken Vers zu messen, mit ihm
schaftliche Arbeit der etzten Jahrzehnte auf dem jeweiligen Ge- 2U vergleichen und in unmittelbare Beziehung zu setzen, wenn
biet an Einsichten, Erkenntnissen und Ergebnissen erreicht, was | dafi audi deutsAe Djdlter in tem Glauben, aber völliger Verallgemeine
Anerkennung gefunden hat, und was noch problema- i kennung der Tatsachen Jahrhunderte hindurch getan haben. Denn
tisch geblieben ist. der antjke Vgrs ^ scinem Wesen nach quantitierend, mißt also

I Längen und Kürzen, während der germanisch-deutsche akzentuierend
ist, sein rhythmisches Gefüge also durch betonte und unbetonte
Taktteile, durch eine bestimmte Abfolge von (wie wir
allgemein sagen) Hebungen und Senkungen geprägt wird. Nicht
schlecht hat Heusler sich bei der einläßlichen Erörterung vor allem

Christhard Mahrenholz hat zum ersten Band des von ihm
und Oskar Söhngen unter Mitarbeit von Otto Schlißke herausgegebenen
, ebenso dringend notwendigen wie lang erwarteten

und unzweifelhaft höchst nützlichen „Handbuchs zum Evange- j Klopstockscher Beispiele über die „metrische Mythologie'

lischen Kirchengesangbuch", Göttingen/Berlin 1954, 2. Aufl. („Deutscher und antiker Vers" S. 168), über die „exotische" Be-

1956 S. 249-259 eine „Übersicht über den Strophenbau der Lie- I nennung (S. 167) der Versfüße nach griechischem Vorbild lustig

der beigesteuert. Der Germanist traut seinen Augen nicht, wenn ! gemacht; trotzdem ist sie bis heute noch nicht am Fluch der

er in der knappen Einleitung S. 249 gleich im zweiten Satz auf die j Lächerlichkeit gestorben - nicht nur bei Mahrenholz feiern solche

Worte stößt: „Die Anordnung folgt der Zahl der Zeilen in jeder | unmöglichen Versfußbezeichnungen wie „trochäisch - jambisch",

Strophe, innerhalb der Zeilengruppen der Zahl der Silben in jeder j „amphibrachisch - jambisch", „alcäisch", „sapphisch" ihre fröh-

Zeile." Wie: der Silben? Daß er sich nicht getäuscht hat, zeigt I licheürständiDenn es dauert nun einmal meist länger als eineGe-

die anschließende Erläuterung: „Die Zeilenzahl ist vorangestellt, | neration, bis sich völlig sichere Ergebnisse einer bestimmten Dis-

danach ist die Silbenzahl für jede Zeile angegeben, ,4-zeilig 8. 6. ziplin jm Allgemeinbewußtsein selbst der Gebildeten durchgesetzt

8-6.' bedeutet, daß die Strophe 4 Zeilen besitzt und die 1. und haben. An diesem Punkt wird die verhängnisvolle Nach- und

3. Zeile aus je 8, die 2. und 4. Zeile aus je 6 Silben besteht." [ Auswirkung der gepriesenen humanistischen Schulbildung einmal

Diesen Auslassungen wird die Krone durch das aufgesetzt, was | erschreckend deutlich: Was man für die griechischen und lateini-

er im 4. Absatz zu lesen bekommt: „Die rhythmische Gestalt des ' sehen Verse gelernt hat, wendet man, da der Deutschunterricht

Textes ist durch die vorangestellte Angabe der gebrauchten Vers- ' versagt hat (vor 30 Jahren freilich konnte er nach Lage der

füße: jambisch (w-), trochäisch (-w), daktylisch (—uO), am- ! Dinge kaum entscheidend von Heusler gehört haben), naiv auf

Phibrachisch (^-^) gekennzeichnet." Und um jeden Irrtum aus- ■ deutsche Verse an und verlegt sich damit den Weg zur Erfassung

zuschließen, steht expressis verbis da, daß die Textsilben der , ihrer unabhängigen Eigenart gründlich.

K.rchenlieder, von der ältesten Zeit abgesehen, „nach Quanti- fc ^ ^ das iHandbudl zum Eva„gelisdle„

taten gewogen worden seien. Und auch der Gewahrsmann für , KirchengesangbuA" mit der „Übersicht über den Strophenbau

diese Auffassung wird genannt: es ist Martin Opitz, dessen „Buch der L | * dfir Verfasser niAt notwendi

im d 5 1 l 7 f Tu frell,cnldlt g.esa^ " «ach Heuslers dreibändigem Grundwerk zu greifen - wesentlich

™ Jahre 1624, also vor mehr als 300 Jahren, erschienen ist! knappere un£, für deng metrischen Laien berechnete, leicht zu-

Der Germanist faßt sich verzweifelt an den Kopf: Wozu hat j gängliche moderne Hilfsmittel hätten ihm ebensogut ermöglicht,

eigentlich Andreas Heusler - einer der bedeutendsten Germa- j sich einen Eindruck von Wesen und Eigenart des deutschen Verses

nisten unseres ersten Jahrhundertdrittels - gelebt und gearbeitet, i zu verschaffen. Genannt seien das „ziemlich unselbständige

') Drei schlimme Fälle dieser Art habe ich unter dem Titel ! Desti»« aus Heusler"2 von Otto Paul: „Deutsche Metrik", in

•■Wohin steuern wir? Ein arger Krebsschaden an der Art unseres j " ~

wissenschaftlichen Arbeitens" in „Forschungen und Fortschritte" 31 ") Ulrich Pretzel: „Deutsche Verskunst" in (Wolfgang Stammler.)

(1957), Heft 10, S. 289—291 behandelt. ' „Deutsche Philologie im Aufriß" 3 (Berlin 1957), 2455.