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Ausgabe:

1958 Nr. 11

Spalte:

779-783

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Kantzenbach, Friedrich Wilhelm

Titel/Untertitel:

Die Erweckungsbewegung 1958

Rezensent:

Beyreuther, Erich

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Theologische Literaturzeitung 1958 Nr. 11

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Abschließend sei das im Grunde Selbstverständliche vermerkt
, daß das Buch in allen entscheidenden Partien aus den
Quellen erarbeitet ist. Wo es nicht der Fall ist, wird ein entsprechender
Hinweis gegeben, so in der Einleitung des Kapitels,
das von dem kirchlichen Einheitswillen bei den Vertretern der
alten Kirche handelt (von Eck bis Cropper), wo es heißt: „Neue
Forschungsergebnisse 6ollen nicht geboten werden, sondern es
geht nur um eine möglichst vollständige Erfassung der irenisdien
Tendenzen im 16. Jahrhundert." Die Angabe der Quellenschriften
und der verarbeiteten Literatur fehlt nie.

Das Buch greift eindrucksvoll in eine aktuelle, oft vernachlässigte
theologische Diskussion ein und dürfte in der evangelischen
wie in der katholischen Forschung die schuldige Beachtung
finden. Wird ihm ein Gegenstück folgen, das die polemischen
Tendenzen des 16. Jahrhunderts erfaßt?

Rostock Gottfried Holtz

KIRCHENGESCHICHTE: NEUZEIT

K a'n t z e n b a c h, F. W.: Die Erweckungsbewegung. Studien zur Geschichte
ihrer Entstehung und ersten Ausbreitung in Deutschland.
Neuendettelsau: Freimund-Verlag. 1957. 164 S., 8°. DM9.75.

Die kirchengeschichtliche Forschung zeigt bisher wenig Neigung
, 6ich intensiver mit der historischen und theologiegeschichtlichen
Problematik der Erweckungsbewegung (abgekürzt EB) im
19. Jahrhundert zu beschäftigen. Die Anregungen, die etwa
Emanuel Hirsch im 5. Band seiner Geschichte der neueren Theologie
(1954) dazu beigesteuert hat, sind nach meinem Wissen
noch nicht recht aufgenommen worden. Da6 ist zu bedauern. Denn
eine eingehendere Kenntnis der letzten großen Frömmigkeitsbewegung
im Gesamtprotestantismus bleibt für ein ausreichendes
Verständnis der gegenwärtigen Situation der Kirchen unentbehrlich
. Wenn auch über die großen Gestalten, welche die EB auslösten
und bestimmten, z. T. 6ehr gute Biographien vorliegen,
ersetzen sie auf die Dauer keineswegs die dringend benötigte
kritisch-wissenschaftliche Gesamtdarstellung, die eben heute noch
fehlt. Methodisch bleibt gewiß immer zu beachten, daß das vielfältig
verschlungene Erscheinungsbild der EB vorerst nur biographisch
und auf Grund weit verästelter Einzelforschung erarbeitet
werden konnte. Eine eindrückliche Darstellung wesentlicher Linien
der EB im vormärzlichen Deutschland findet sich bekanntlich
in Franz Schnabels 4. Band 6einer bekannten Darstellung des
19. Jahrhunderts1. Inzwischen sind wieder zwei Jahrzehnte verflossen
, in denen erfreulicherweise eine Reihe von Einzelunter-
suchungen herauskamen, deren Ergebnisse eingearbeitet werden
müssen.

In den „Studien zur Geschichte der Entstehung und ersten
Ausbreitung der Erweckungsbewegung in Deutschland", die jetzt
F. W. Kantzenbach vorlegt, wird ein erfreulicher Vorstoß unternommen
. Des Verfassern eigene Forschungen liegen wesentlich
im bayrischen Raum. Dieser Ansatzpunkt ist durchaus glücklich.
Auch verschiedene noch nicht zur Veröffentlichung gekommene
Einzeluntersuchungen von anderer Seite bestätigen durchaus, daß
die 6chwäbisch-fränkischen Erweckungskräfte in den Anfangszeiten
der EB geradezu führend gewesen sind. Von hier gehen
entscheidende schöpferische Impulse auf die EB in ganz Deutschland
aus.

Man wird Kantzenbach durchaus zustimmen, wenn er sehr
betont die deutsche EB in zwei große Entwicklungs- und Abiaufrichtungen
aufzugliedern 6ucht. Die eine Bewegungsbahn geht
auch im zeitlichen Ansatz vom schwäbisch-fränkischen Raum nach
Nordostdeutschland, zieht aber auch Berlin und Mitteldeutschland
mit ein. Eine zweite Entwicklungslinie läßt sich vom badisch-
württembergischen Raum zum Niederrhein ausziehen, die sich
dort nach verschiedenen Richtungen auffasert. Beide Bewegungsabläufe
zeigen ein in sich ziemlich geschlossenes Bild.

Gegen gewaltsame Schematisierungen und Vergröberungen
schützt sich der Verfasser, indem er durchgängig die Fülle der oft
verwirrenden personalen Verbindungen aufweist, die damals tat-

*) Franz Schnabel: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, 4. Bd.:
Die religiösen Kräfte, 1951 II.

sachlich kreuz und quer durch Deutschland laufen. Einer vorschnellen
Systematisierung beugt er gut vor, denn er hebt die
unterschiedliche theologische Konzeption wie Frömmigkeitsausprägung
der führenden Gestalten einer erstaunlich fruchtbaren
kirchengesdiichtlichen Periode sehr deutlich voneinander ab.

Die Darstellung setzt bei einer ausführlichen Kennzeichnung
der katholisdien Erweckungsbewegung im Allgäu ein. Hier fühlt
sich der Verfasser durch seine 195 5 vorgelegte Arbeit über Johann
Michael Sailer und den ökumenischen Gedanken daheim. Kantzenbach
geht auf die Frage, wie es überhaupt zu dieser katholischen
EB kommen konnte, kaum ein. Aber gerade hier bricht doch die
6tärk6te Problematik auf. Denn wenn der Verfasser der These
Lütgers (Seite 17) im wesentlichen zustimmt, daß die EB wohl in
mannigfachen geschichtlichen Zusammenhängen mit dem Pietismus
6tehe, aber keine Fortsetzung desselben sei, sondern ein
neuer Ansatz, eine neue religiöse Bewegung darstelle, die aus
ganz anderen Quellen gespeist worden sei, so wird das hier problematisch
. Die Frage nach dem Ursprung der katholischen EB im
Allgäu wird dann einfach brennend.

Ist es rein zufällig, daß es nur hier zu einer katholischen EB
kommen konnte? Der schwäbisch-alemannische Traditionsraum
verdient immer wieder auch in der Kirchengeschichte sorgfältiger
Aufmerksamkeit. Warum tritt, ganz allgemein gesehen, im schwäbischen
Volkstum die EB so stark hervor, so daß es förmlich mit
zu ihrem Mutterboden gehört? Bestimmt verursacht die enge
Verzahnung der katholischen Territorien im Allgäu mit den protestantischen
ein besonderes Reizklima. Man denke an die eingestreuten
evangelischen Reichsstädte Kempten, Memmingen,
Kaufbeuren, Augsburg, Lindau und die evangelischen Herrschaften
im We6tallgäu. Die alten Priestergestalten im schwäbischen
Allgäu zeigen den typisch schwäbischen Eigenwuch6 in Originalität
und Tiefsinn. Sie sind dem Volkscharakter entsprechend kritisch
, opponieren leicht und heben sich in dieser Wendigkeit
deutlich von dem benachbarten oberbayrischen Volkstyp ab, der
in einem territorial viel geschlosseneren Gebiet auch traditionsenger
lebt.

Dazu kommt die von Matthias Simon zuerst erkannte Verbindung
der katholischen EB im Allgäu mit dem Zillertaler Geheimprotestantismus
, der den Boden mit auflockert und empfänglich
macht2. Man wird sich aber doch wohl sehr davor hüten
müssen, die vom Zillertaler Geheimprotestantismus ausgehenden
Anstöße in Richtung auf die lutherische Rechtfertigungsfrömmigkeit
in Gegensatz zu den Einwirkungen von Jakob Böhme und
Johann Arndt zu stellen, die nach den Forschungen Kurt Alands
eben doch auch sehr 6tark auf die Anfänge der Allgäuer katho-
lichen EB eingewirkt haben3. Man wird freilich auch vor einer
Überschätzung der pietistisch-schwärmerischen Elemente warnen
müssen, was der Sailer-Forscher H. Schiel bereits getan hat.

Emanuel Hir6ch hat in seiner Geschichte der neueren protestantischen
Theologie sehr eindrucksam darauf hingewiesen, daß
von Jakob Böhme mächtige erlebnistheologische Anstöße in Richtung
auf eine neue Erfassung der Rechtfertigungslehre im 17. Jahrhundert
ausgegangen sind. Anderseits will Johann Arndt in seinem
Wahren Christentum den Grundansatz der lutherischen
Rechtfertigungslehre aktualisieren. Das Phänomen Johann Arndt
ist vielschichtiger, als daß man ihm allein mit dem Stichwort Mystik
beikommen kann. So schwer es uns heute in einer Zeit
theologiegeschichtlicher Methodik fallen mag, wird man doch
wohl zur Kenntnis nehmen müssen, daß jene Generationen in sich
disharmonische Elemente durchaus in fruchtbarer Spannung zu
vereinen wußten und wohl auch nie zwiespältiger waren als andere
zu anderen Zeiten. Je mehr die Ströme aufgedeckt werden,
die in der katholischen EB wie zu einem Strahlenbündel zusammengefaßt
werden, je dringlicher werden methodische wie theologische
Grundprobleme zur Erörterung stehen müssen. Hier kann
der Historiker m. E. nicht mißtrauisch genug gegenüber Vereinfachungen
bleiben, die die Fülle der Details nicht vor Augen
behalten.

2) Matthias Simon: Die Allgäuer EB und die Vertreibung der Salzburger
Protestanten, Zschr. f. bay. KG, Jg. 26, S. 193 ff.

3) Kurt Aland: Der Inquisitionsprozeß gegen Anton Bach und seine
Anhänger, Zschr. f. bay. KG, Jg. 18, S. 110—156 und Jg. 22, S. 217—248.