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Ausgabe:

1958 Nr. 1

Spalte:

54-56

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Titel/Untertitel:

Xenophon, Xenophon's Memorabilien 1958

Rezensent:

Gigon, Olof

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Theologische Literaturzeitung 1958 Nr. 1

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den — das i£t da6 große Thema seines geistigen Lebens und
Schaffens.

Als Philosoph ist Berdjajew ohne ein bestimmtes philosophisches
System. Philosophieren ist für ihn die Sprache der Existenz
, des geistigen Geschehens des Denkers, „das sich in der
irrationalen, emotionalen und willensmäßig gestimmten Existenz
abspielt". „Der Gedanke", sagt Berdjajew, „muß notwendigerweise
ausgesprochen werden, der Mensch soll diesen Akt vollbringen
" — das ist das innere Schicksal des Denkers und Philosophen
. Die Tragik alles menschlichen geistigen Schaffens aber
bestehe darin, daß jeder ausgesprochene Gedanke eine Lüge sei,
denn der äußere Ausdruck sei niemals adäquat der inneren Intuition
. Daher glaubt Berdjajew wenig an eine Möglichkeit wirklicher
philosophischer Systeme. Auf die Unübersichtlichkeit der
Philosophie Berdjajews weist Stepun hin: „Genau gesehen sind
6ie (die Schriften Berdjajews) überhaupt nicht gebaut, sondern
hingeströmt."

Als philosophischer und religiöser Denker erscheint Berdjajew
als einer der besten und echtesten Vertreter des Russentums.
Wenn Dostojewskij den Russen als einen ruhelosen „Strannik",
d. h. „Wanderer" charakterisiert, der nach dem Reiche Gottes
und seiner Gerechtigkeit sucht und der nicht eher zur Ruhe
kommen kann, bis er sein Ziel findet, dann gleicht eben Berdjajew
einem solchen Strannik. In seinem geistigen Streben hat er
nicht nur alle Gefilde des russischen Geisteslebens, sondern auch
die des abendländischen Denkens durchwandert. Vom revolutionären
Sozialismus und Marxismus herkommend, wandte er sich
dem Idealismus — Hegel, Kant, Fichte, Schopenhauer — zu, dann
ging er zum Spiritualismus, Mystizismus und zur Theosophie
eines Jakob Böhme über. Nach seiner Emigration (1922) befaßte
er sich mit den zeitgenössischen Philosophen wie Scheler, Hartmann
, Heidegger, den deutschen und französischen Existentia-
listen. Als religiöser Denker setzte er sich mit den theologischen
und kirchlichen Denkern sowohl der Ostkirche als auch der katholischen
und protestantischen Kirche auseinander. Berdjajew
steht gewissermaßen als Vermittler zwischen dem abendländischen
und russischen Denken. Sein Geistesschaffen gleicht einem
Hohlspiegel, das die mannigfaltigsten Strahlen des abendländischen
Denkens auffängt, um sie dann in einer echt russischen
Art widerzustrahlen und auf bestimmte Brennpunkte zu konzentrieren
.

Es muß als besonders verdienstvoll bezeichnet werden, daß
Roman Rößler sich der Mühe unterzogen hat, Berdjajew auf seinen
verschlungenen Pfaden des geistigen Schaffens zu folgen und
aus seiner Gedankenwelt die Hauptpunkte herauszustellen. Er
hat den Stoff genetisch geordnet und die Entwicklung des Weltbildes
von Berdjajew aufgezeigt: vom Monismus zum Dualismus
und Pluralismus — Personalismus, vom Materialismus zum Spiritualismus
, und im Lichte des Spiritualismus die „universelle Entwicklung
" als Aufstieg von der Vielheit der geistigen Substanzen
zur höchsten Substanz, d. h. zur Gottheit. „Der universalistische
Monismus", sagt Berdjajew, „ist als endgültige Vollendung des
individualistischen Pluralismus zu verstehen, da die Vielheit
durch das Eine nicht negiert, sondern in ihrer Fülle bestätigt
"wird". Das Zentralproblem in den Werken Berdjajews ist die
Objektivationsidee. Berdjajew stellt den Primat der Freiheit über
das Sein. Den Ontologismus und Substantialismus durchbricht er
durch Dynamismus und Aktualismus: „Sein ist Leben und
Geist", Geist aber ist Freiheit, freies Schaffen der freien Persönlichkeit
. „Die objektivierte Welt ist nur der Zustand der Welt,
in dem der Schaffende zu leben hat." Und jegliche Äußerung
eines schöpferischen Aktes fällt unter die Gewalt dieser Welt.
Freiheit also inmitten einer von Notwendigkeit und Gewalt bestimmten
Welt — das ist die Antinomie, um deren Lösung Berdjajew
ringt. Das freie Schaffen der freien Persönlichkeit ist auch
Objektivation. Veräußerlichung und Sozialisierung. Die natürliche
Welt erscheint bei Berdjajew als Grundstufe der Objektivation
, Gemeinschaft, Staat und Kirche, Kultur und Religion sind
weitere Stufen des Objektivationsaktes.

Rößler hat besonders klar diese Objektivationsidee Berdjajews
im zweiten Teil seines Buches herausgearbeitet und dargestellt
und dadurch uns gewissermaßen den Schlüssel zum Verständnis
der Philosophie Berdjajews geliefert. Die Objektivation

als Veräußerlichungs- Entfremdungs- und Sozialisierungsprozeß
der freien Persönlichkeit vollzieht sich, nach Berdjajew, nicht nur
im wirtschafts-politischen Raum, sondern auch auf dem religiösen
und kirchlichen Gebiet. Die Theologie wertet er als eine Art
von Sozialisierung der religiösen Erkenntnis, die für ein soziales
Kollektiv maßgebend ist: Dogmen und Kirchenrecht. Diese
haben dann religiöse Organisationen, Institutionen und Autoritäten
der Amtsträger zur Folge, die aber so inadäquat mit dem
eigentlichen religiösen Glaubensleben selbst sind, daß sie völlig
unpersönlich und daher geradezu als unmenschliche Mächte in
Erscheinung treten. In dem Maße wie die Kirche als Sozialinstitut
den Hl. Geist objektiviert, d. h. die Amtsautoritäten als eine
Funktion des HI. Geistes deutet und praktiziert, verhindert sie
das Kommen des Reiches Gottes, des Reiches der Liebe und der
wahren Communio. Den „Sobornost' "-Begriff denkt Berdjajew
vom Personalismus her. „Sobornost' " ist ihm die existentielle
Kommunion in Christo.

Rößler weist eindrucksvoll auf das, was für Berdjajew als
das existentielle Zentrum der Kirche gilt, hin. Es ist das in der
„Sobornost' " gesammelte Bewußtsein, das sich in jeder Persönlichkeit
und in der Persönlichkeit Christi befindet und nicht in
einem äußeren Kollektiv oder Organismus. „Die Ökumenizität
als das .existentielle Wir' ist geistliche Tiefendimension, unmeßbar
und unablesbar an den Erscheinungen der objektivierten
Welt." Die höchste Form der erstrebten Kommunion ist die
Liebe. Die Liebe aber i6t eschatologisch: sie bedeutet das Ende
dieser Welt und den Anbruch des Reiches Gottes. „Die Liebe bedeutet
Ausbruch aus der objektivierten Welt und Eindringen
in die innere Existenz. Das Objekt verschwindet, und es eröffnet
sich das ,Du'. Daher bricht in jeder echten Liebe gewißlich das
Reich Gottes an, eine andere Seinsordnung" (Berdjajew). Also
..die echte Gemeinschaft, die Kommunion, ist personalistisch; sie
bedeutet die Begegnung des ,Ich' mit einem ,Du' in einem
■Wir' ". Im Namen der Freiheit der Persönlichkeit wendet sich
Berdjajew gegen alle „ungeistigen Attribute", die Gott beigelegt
werden. Berdjajew vertritt im Hinblick auf Gott die apopha •
tische Auffassung, denn was immer man über Gott aussagt, sei
letzten Endes unwahr und falsch. Durch die Attribute, die man
Gott beilegt, diene man einem bestimmten weltlichen Zweck,
also einer „sozial nützlichen Lüge", d. h. der Herrschaft der
Kirche bzw. der kirchlichen Amtsträger. So wertet er z. B. den
Begriff von der „Allmacht" Gottes als einen Soziomorphismus.
Durch diese Vorstellung werde Gott zwar auf die höchste Stufe
der sozialen Hierarchie erhoben, in Wirklichkeit aber werde er
dadurch zu einer sozialen Macht der Welt degradiert. „Gott hat
überhaupt keine Macht. Er hat weniger Macht als ein Polizist."
Christus steht dem Großinquisitor völlig machtlos gegenüber,
und der Geist des Großinquisitors erscheine unter verschiedenen
Masken im Staate, in der Gesellschaft und in den historischen
Kirchen, der den freien Geist zu versklaven suche. Der freie Geist
aber sei die schöpferische Kraft der freien Persönlichkeit, die
letzten Endes über alle Notwendigkeit, empirische Wirklichkeit,
triumphiert. Vom tiefen Pessimismus ausgehend, schreitet Berdjajew
zur Weltbejahung vorwärts, die in einem eschatologischen
Optimismus gipfelt.

Rößler bietet uns mit seinen knappen und scharfen Formulierungen
der Hauptmomente der Philosophie Berdjajews ein
eindrucksvolles Weltbild dieses russischen Denkers. Diese Arbeit
dient nicht nur zur Orientierung in der russischen Geisteswelt,
sondern sie bietet auch starke Anregungen für den Theologen.

Berlin K. Rose

Xenophon : Erinnerungen an Sokrates. Ins Deutsche übertragen von
Johannes I r m s c h e r. Berlin: Akademie-Verlag 1955. 195 S. 8° =
Philosophische Studientexte. Lw. DM 6.50.

Daß Piaton als „prineeps philosophorum" in die Weltgeschichte
eingegangen ist, wird niemanden wundern. Mit dem
Glänze seiner souveränen und dabei so diskreten Kunst, mit der
Spannweite seines Denkens hat er sich durchgesetzt. Daß von
den bedeutendsten und eigenwilligsten unter den übrigen Sokra-
tes-Schülern, Aristippos und Antisthenes, sich nicht mehr erhalten
hat als einige Buchtitel, mit denen wir nichts anfangen kön-