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1958 Nr. 9

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Kirchen- und Konfessionskunde

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Theologische Literaturzeitung 1958 Nr. 9

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der Joachiten und nach dem Bekanntwerden des Jeremiaskommentars
des Ps-Joachim hat der Verfasser von 1249 an nochmals zur
Feder gegriffen" und dabei sein Werk noch weiter ausgestaltet.
1) durch verschiedene Zusätze von geringem Umfang, 2) durch
mehrere Zitate aus dem Liber divinorum operum der Hildegard
von Bingen, und 3) durch eine neue zweite Auslegung von
Kap. 13, die dieses auf Kaiser Friedrich II. deutet. Diese letzte
von der Hand des Verfassers selbst stammende Gestalt des
Kommentars liegt in den Hss B, D und C vor. In dieser Gestalt
hat Albert von Stade das Werk kennen gelernt und darauf in
seiner 1256 abgeschlossenen Weltchronik Bezug genommen, womit
ein terminus ad quem für die Entstehung dieser Fassung gewonnen
wird. Die Hs C ist mit B sowohl in der Textfassung als
auch in der Ikonographie der Miniaturen nahe verwandt. Daneben
ist aber in ihr der Kommentar nochmals durch einen Mann, der
im Unterschied von Alex, über ein hohes Maß an klassischer Bildung
verfügte und der einen ganz anderen Stil schreibt als jener,
durch zahlreiche Zitate aus der Bibel, aus klassischen Autoren und
mittelalterlichen Dichtern erweitert worden. In gründlichen und
einleuchtenden Darlegungen beweist W., daß niemand anderer
als Albert von Stade diese letzte Bearbeitung des Werkes geschaffen
hat.

Jetzt erst, nachdem die verschiedenen Auflagen des Kommentars
beschrieben sind, kommt der Herausgeber zu der Frage nach
dem Verhältnis der Hss zueinander. Eine Gruppe, nicht nur im
Umfang des Kommentars, sondern auch in der Textgestalt, bilden
P Ch R, eine andere W1 W2, die eine Hs des Typs P Ch R
voraussetzen, aber viele Fehler von P Ch R nicht haben. Eng verwandt
auch in der Textgestalt sind ferner B und C, während D,
die eine eigene Familie repräsentiert, dem Umfang des Kommentars
nach zu B C, im Text aber zu P Ch R W1 W2 gehört. Die von
mir gemachten Stichproben scheinen zu bestätigen, daß W. im
ganzen recht behält, wenn er die Sonderlesarten von P Ch R verwirft
. Es wäre aber auch hier geboten gewesen, den Tatbestand
durch eine Liste von Varianten dem Leser vorzuführen. Für seine
Edition meint er B als Grundlage wählen zu dürfen, weil diese
Hs den Kommentar in seiner endgültigen von Alex, selbst geschaffenen
Gestalt vollständig enthält und „weil die Gruppe P
Ch R sehr verderbt ist". Er kann diesem Prinzip aber doch nicht
konsequent treu bleiben, weil er alle die Lesarten verwerfen
muß, in denen B die ganze übrige Überlieferung gegen sich hat.
Es gibt offenbar, was die Textfassung betrifft, keine beste Hs.
Der Herausgeber bemerkt, zur Feststellung des Textes seien alle
Hss herangezogen worden, R jedoch nur von Kap. 20 an. Warum
letzteres, ist nicht ersichtlich. Auch begegnen Lesarten von R dann
und wann auch schon an früheren Stellen. Eine gewaltige Leistung
, die höchste Anerkennung verdient, hat W. mit der Feststellung
der im Kommentar verwendeten Quellen vollbracht.
Zu diesen Quellen gehörte an erster Stelle die Vulgata. Den von
Alex, verwendeten Vulgatatext genauer festzustellen lag aber
offenbar nicht in der Absicht des Herausgebers. Im Apparat der
Ausgabe werden häufig vom Kommentartext abweichende Lesarten
der „Vulgata" notiert. Damit wird wohl die Clementina
gemeint sein. Heute wäre es leicht gewesen, statt dessen den Text
und den Apparat der Oxforder Ausgabe von Wordsworth und
White, deren Apk-Text seit 1954 vorliegt, zu verwerten.

Die Gestaltung des Textes der Ausgabe muß der komplizierten
Textgeschichte Rechnung tragen und den Leser in die Lage
versetzen, ohne zu große Mühe die vier „Auflagen" des Werkes
zu unterscheiden, 1) den von Fehlern gereinigten Text von P
Ch R, 2) die verkürzte Ausgabe von Wl W2, 3) die letzte von
Alex, selbst stammende Bearbeitung (B C D), 4) die Bearbeitung
von A. v. Stade in C. Diese Aufgabe wurde hier nicht in idealei
Weise gelöst, wobei man wohl auch dies wird berücksichtigen
müssen, daß W. in der Einrichtung des Druckes an die von der
Leitung der MGH festgelegten Normen gebunden war. Wenn es
schon nicht anging, die verschiedenen Textformen durch verschiedene
Typen deutlich sichtbar zu machen, so hätte es doch
nahe gelegen, das Plus der beiden letzten Ausgaben durch verschiedene
Klammern vom Text der ersten Ausgabe und
voneinander zu unterscheiden und ihre handschriftliche Bezeugung
sowie die Kürzungen von W1 W2 in einem eigenen

Apparat zu notieren, wo sie nicht im Schutt der übrigen Varianten
verschwinden.

Nicht verantwortlich wird der Herausgeber auch für die Anlage
des Apparats sein. Weil die Seiten Zeilenzählung haben,
sind die das Satzbild verunzierenden Buchstaben und Ziffern,
die auf die zwei Apparate verweisen, doch überflüssig. K. Krum-
bacher hat einmal eine solche Seite mit einer mit Ungeziefer überdeckten
Blattfläche verglichen.

Aber nicht mit Kritik soll diese Besprechung schließen, sondern
mit dem Dank an den Verfasser für seine in vieljähriger
Anstrengung geschaffene Leistung. Auch wenn man dies und jenes
an seinem Buch sich anders wünschen möchte, so muß doch anerkannt
werden, daß er das Ziel, das er sich gesteckt hatte, im
ganzen erreicht hat. Er hat damit ein Werk zugänglich gemacht,
daß zwar der Apk-Auslegung von heute keinen wesentlichen
Gewinn mehr bieten kann, wohl aber in der Geschichte der Apk-
Auslegung einen Markstein bedeutet. Diese Geschichte in der
Zeit seit Joachim von Fiore muß im großen Stil erst noch geschrieben
werden.

München Josef Schmid

KIRCHEN- UND KONFESSIONSKUISDE

*y>ttcn, Kurt, D. Dr.: Die Glaubenswelt des Sektierers. Das Sekten-
tum als antireformatorisdie Konfession — sein Anspruch und seine
Tragödie. Hamburg: Furche Verlag [1957]. 148 S. 8° = Furche-Studien
Bd. 24. Lw. DM 10.80.

H., der sich als Kenner des modernen Sektenwesens bereits
einen Namen gemacht hat, geht in dem vorliegenden Buch der
Frage nach, ob „das Sektentum, so disparat seine Erscheinungen
sein mögen, nicht im Grund als eine Einheit begriffen werden
könne" (g). Er beschränkt sich dabei auf die protestantischen
Sekten der Gegenwart. Den Unterschied zwischen Freikirchen und
Sekten sieht er darin, daß die Freikirchen „bei aller Kritik...
mit der Mutterkirche im Glauben und in der ökumenischen
Arbeitsgemeinschaft verbunden" bleiben, die Sekten dagegen
„die von der Kirche verkündigte Wahrheit nicht mehr als gültig
anerkennen, sondern ihr eine andere Wahrheit entgegensetzen"
(26). Diese andere Wahrheit ist dadurch charakterisiert, daß sie
den Menschen zum „Mitakteur" des Heils macht; daher Verwerfung
der Kindertaufe und die Forderung eines „Leistungshintergrundes
" für die Teilnahme am Abendmahl: nur „bekehrte"
Gläubige werden zugelassen (38). Der Imperativ übertönt und
verschlingt den biblischen Indikativ. Die Lehre vom Heiligen
Geist wird zum „dogmatischen Lieblingskind" der Sekte (42),
aber es ist ein vom Menschen gezähmter und ihm untertaner,
ein entgotteter Heiliger Geist, der hier umgeht. Theophore Menschen
, von denen einige sogar göttliche Verehrung fordern und
von ihren Gläubigen erhalten, drängen sich in den Vordergrund.
Die Sekte setzt sich selber mit der Heilsgemeinde in einem exklusiven
oder zumindest privilegierten Sinne gleich (48). Apostasie
von der Sekte gilt als todeswürdiges Verbrechen. Das demütige
Hören auf Gott in seinem Wort erstirbt, die Sekte in ihrer Gesamtexistenz
läßt sich von Gott nicht beunruhigen. Das Schriftzeugnis
von der Sünde und das Wort vom Kreuz werden verkürzt
und entleert. „Die fromme superbia triumphiert" (70). Die
Selbstausbreitung der Sekte ist oberstes Gebot, und zwar in der
Hauptsache nicht als Heidenmission, sondern als Propaganda
unter den Kirchenchristen. Die Sekten „stehen als Widersacher
im Raum und Bann der Kirche und leben von ihr. Sie brauchen
das kirchliche Christentum als Vorfrucht' ". Die Werbung für
die Sekte „saugt den Großteil der Kräfte und Mittel an sich, so
daß für andere Dienste, etwa die karitative Arbeit, kaum etwas
mehr übrig bleibt" (86). Die Selbstverabsolutierung der Sekte
führt zu einer strengen Isolierung, zu scharfen Macht- und Rivalitätskämpfen
in ihrer Mitte und zu einer geistigen Enge, die sich
in der Monotonie ihrer Verlautbarungen zeigt. Die Pflege der
Eschatologie dient einer apokalyptischen Apotheose der Sekte.
Die Haltung zur Schrift ist „durch ein Ineinander von Bindung
und Selbstherrlichkeit bestimmt" (105). Vielfach haben die Sekten
Nebenbibeln. Und wie viel Fragwürdiges tut sidi da auf!