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Ausgabe:

1957 Nr. 2

Spalte:

130

Kategorie:

Liturgiewissenschaft, Kirchenmusik

Titel/Untertitel:

Quellen zur Geschichte des christlichen Gottesdienstes 1957

Rezensent:

Fendt, Leonhard

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129 Theologische Literaturzeitung 1957 Nr. 2 130

schichtlich beachtenswerter Beitrag geboten wird. Die Enträtselung
der romanischen Kapitellplastik gelingt bei aller Bemühung
nur schrittweise. Die Genfer Kapitelle enthalten mit den typolo-
gisch verwerteten Gestalten Daniel, Simson, Melchisedek, Hero-
des und Orpheus, mit den Szenen der Opferung Isaaks, der Verkündigung
, Emmaus, den Frauen am Grabe, mit Christus, Gottvater
, Ecclesia und Synagoge usw. eine bemerkenswerte Anzahl
sicherer Anhaltspunkte, um den Versuch, ein theologisches Programm
herauszulesen, mit einiger Aussicht auf Erfolg machen zu
können. Die Untersuchung ist bemüht, möglichst behutsam alle
Angaben in Betracht zu ziehen; die Gefahr einer gewaltsamen
Konstruktion wird durchaus vermieden. Als die Studie bereits
abgeschlossen vorlag, veröffentlichte W. Deonna eine Arbeit
über den gleichen Gegenstand, die dem Verf. immerhin die Möglichkeit
bot, seine Ergebnisse für den Druck einer Kontrolle zu
unterziehen, ohne daß er Grund zu wichtigeren Änderungen gefunden
hätte. Man bewegt sich für die Deutung also auf verhältnismäßig
sicherem Boden.

Während eines Zeitraumes von etwa 35 Jahren zwischen
1180 und 1215 wird mit dem fortschreitenden Bau auch die Kapitellplastik
geschaffen, die drei verschiedenen Stilstufen zugewiesen
werden kann. Das Programm vom Kampf der Kirche und
dem Sieg des Glaubens wird schon in der ersten Stilstufe wieder
aufgelöst. Der nochmalige Versuch einer Zusammenfassung in
heilsgeschichtlichen Darstellungen erlahmt schließlich, ohne einen
Abschluß zu finden. Die Beiträge zur allgemeinen typologischen
Ikonographie, die von den Genfer Kapitellen her geboten werden
, sind sehr willkommen; zu Simson, den Frauen am Grabe,
den Evangelistensymbolen u. a. finden sich viele weiterführende
Hinweise. Die gleichzeitige Behandlung der ornamental-dekorativen
Kapitelle, die zumeist freilich allzu gründlich beschrieben
werden, ist nicht nur für die Bezeichnung der Stilstufe und damit
der Bauphase von hohem Interesse. Die allmähliche dekorative
Entwertung, das alle Abschattierungen vom Symbol bis zum bloßen
Zierwerk durchlaufende Nachlassen der Verbindlichkeit der
Darstellung gibt eine anschauliche Bestätigung für die Entwicklung
, die aus der figürlichen Plastik herausgelesen werden kann.
In Theologie und Kunst vollzieht sich der Übergang von Romanik
zu Gotik. Er stellt sich in Genf, in der Distanz von den
Hauptzentren, in denen das stilgeschichtlich erfaßbare Ringen
auf beiden Gebieten zu scharfen Umbrüchen führt, als ein allmähliches
Auslaufen der alten Form und langsamerer Wandlung
der Haltung dar.

Die sorgfältig überprüfte konzentrierte Baugeschichte als
Voraussetzung für die Datierung der Kapitelle ist wertvoll. Im
Verein mit dem Nachweis vielfältiger Beziehungen der Genfer
Kapitelle zu anderen Werken ergibt sich eine sehr genaue Einordnung
in die europäische Kunst mit Hinweisen auf die engen
französischen Beziehungen.

Auf die Bemerkungen zu den verschiedenen Einzelmotiven
der Kapitelle wird die künftige Forschung Rücksicht nehmen
müssen. Zu den Themen der doppelleibigen Tiere, der Vögel mit
verschlungenen Hälsen, zur Sirene, der Chimaira, dem Zentauren
u. a. werden nützliche exkursartige Übersichten mit Belegsammlungen
geboten. Der Verf. behält bei der Auswertung überall den
Boden unter den Füßen und verzichtet mit Recht auf Spekulationen
, die manche anderen Bemühungen zu noch unerklärten
Darstellungen recht fragwürdig erscheinen lassen. Die Literatur ist
gut durchgearbeitet und übersichtlich verzeichnet. Die älteren
Forschungen von R. Bernheimer", die in anderen neueren Arbeiten
oft nicht die gebührende Beachtung gefunden haben, werden
nach Verdienst gewürdigt. Auf einige Fragen hätte sich immerhin
etwas näher eingehen lassen. Die als hockende Gestalten unbeachtet
gebliebenen Atlanten gehören zu einem in zahlreichen Variationen
zu beobachtenden Lieblingsthema der romanischen Plastik
. Die schlangcnbedrohten Köpfe, bis Quedlinburg und Groningen
unendlich oft dargestellt, sind ebenso wie die Masken mit

f-Kunstgesch. 1938—1950: 14, 1951, 124—148; 1950—1954: 18, 1955,
157-198.

3) R. Bcrnheimer, Romanische Tierplastik und die Ursprünge ihrer
Motive. Diss. München 1930. 1931, 184 S., 155 Abb. Bespr. J. Baltru-
saitis, Revue de l'art ancien et moderne 63, 1933, 177—184.

Bändern, für die sich Beispiele in ungeheurer Vielzahl bis Gernrode
, ja bis Jurjew Polsk finden, zweifellos symbolhaltig. So richtig
es ist, daß kaum ein anderes Ornamentmotiv eine so universale
Ausbreitung und Abwandlung erfahren hat, so sehr muß im
Auge behalten werden, daß die Verbreitung gerade für die hohe
Bedeutung des ursprünglichen Sinngehaltes einen nachdrücklichen
Hinweis gibt1.

Von besonderem allgemeinen Interesse ist noch die Behandlung
der sieben Freien Künste, die mit Geometria, Musica,
Astronomia und einer zu erschließenden Arithmetica in Genf nur
fragmentarisch dargestellt worden sind.

Leipzig H. Ladendorf

*) Von W. Deonna sind noch die beiden folgenden Aufsätze zu
nennen: Les lions attaches ä la colonne Revue archeol. 29/30, 1948,
1949, 289—308; Salva me de orc leonis. A propos de quelques chapi-
teaux romans de la cathedrale St. Pierre ä Geneve. Revue beige de
philol. 28, 1950, 479—511.

LITURGIEWISSENSCHAFT

Beckmann, Joachim: Quellen zur Geschichte des christlichen Gottesdienstes
. Gütersloh: Bertelsmann 1956. XI, 315 S. 8°. Lw. DM25.—.

Dieses Werk füllt nun in der Tat eine Lücke aus, eine der
Lücken nämlich, welche die Zerstörung so vieler Bibliotheken
und Buchbestände der Verleger in Deutschland aufgerissen hat,
und zwar gerade die Lücke in handlichen Quellensammlungen für
den Freund der Liturgien und der Liturgiewissenschaft. In einem
nicht allzu starken Bande reicht Beckmann uns soviel charakteristisches
Material vom 1. bis zum 19. Jhdt, als nötig ist, um den
Leser und Studenten über den sog. „Hauptgottesdienst" (B. sagt
„Gemeindegottesdienst") „ins Bild" zu setzen. Die Weisheit bei
der Auswahl werden B. auch diejenigen nicht bestreiten, welche
gegebenenfalls anders ausgewählt hätten; hingegen, wer je selbst
an eine solche Auswahl ging, wird Beifall spenden. Es kommt ja
ganz darauf an, welches Ziel die Auswahl verfolgt. Anders wird
sie ausfallen, wenn dem Liturgieforscher schwerzugängliche Quellen
leicht zugänglich gemacht werden sollen — anders, wenn den
Liturgiereformern Muster aus allen Jahrhunderten vor Augen geführt
werden sollen — anders, wenn eine Einführung der Anfänger
in die Quellen beabsichtigt ist. Beckmann will sein Quellenbuch
als Hilfsbuch für die Benutzer von „Rietschel-Graff" und
von „Leiturgia", nebenbei auch für Vorlesungen und Übungen,
in Dienst stellen (also „Muster" und „Einführung" — aber auch
-.Erleichterung", z. B. für die Liturgien in Gallien, Spanien, die
der Karolinger- und Ottonen-Zeit, leistet der Band). Gerade für
den beabsichtigten Überblick ist es auch gut, daß B. sich zunächst
auf den „Gemeindegottesdienst" beschränkt. Ein besonderes Problem
aber schneidet der „Anhang" an, wo B. eine deutsche Übersetzung
der griechischen und französischen Quellen seines Buches
beifügt, für die lateinischen und englischen Quellen hingegen
auf schon vorhandene Übersetzungen verweist. B. weiß natürlich,
daß keine Übersetzung des Originales ganz mächtig wird, und daß
der griechische und französische Sprachcharakter im Falle der
Liturgie ebenso zum Wesen gehört wie der lateinische und englische
oder lutherdeutsche — so daß nachträgliche Erlernung der
griechischen und französischen Sprache zum Studium der Liturgiewissenschaft
unabdingbar ist (diesmal freilich nicht für ein
..Sprach-Examen", sondern zum volleren Eindringen in die Liturgie
). Gäbe es da nicht buchtechnische Auswege, welche nicht
die Quellensammlung belasten, sondern den Sprachfremden
(••Schlüssel", Beihefte u. ä.)7 Es wird einem aber angesichts der
klugen und zurückhaltenden Auswahl Beckmanns klar: Die junge
Generation von Liturgiewissenschaftlern kommt um die große und
drängende Aufgabe nicht herum, ein „Corpus liturgicum ecclesiae
universae" zu schaffen — einen Abdruck der besten heute vorliegenden
Editionen aller Liturgien und Liturgie-Dokumente,
(wie einst Migne die damals besten Ausgaben der Kirchenväterschriften
sammelte). Die kritische Weifcerarbeit könnte man „Texten
und Untersuchungen zum Corpus liturgicum" zuweisen. Mit
diesem „Corpus" wäre die Not zu beheben, welche um die liturgischen
Quellen herrscht. Beckmanns Sammlung hingegen ist ein
anderes Genus.

Augsburg Leonhard Fendt f