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Ausgabe:

1957

Spalte:

63-65

Kategorie:

Psychologie, Religionspsychologie

Autor/Hrsg.:

Gruehn, Werner

Titel/Untertitel:

Die Frömmigkeit der Gegenwart 1957

Rezensent:

Holtz, Gottfried

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Theologische Literaturzeitung 1957 Nr. 1

(.4

der Es-Mächte ist die höchste Gefahr des Totalitarismus gegeben,
„wenn der Mensch die existentielle Unterscheidung von Ich und
Es, Ich und wir, das Stehen in Würde und Verantwortung, die
Strenge des Sollens und die Größe der Freiheit als Mühsal und
Ratlosigkeit empfindet". Zum Schluß sei auf die Würdigung Rilkes
von einem andern christlichen Philosophen hingewiesen:
Max Picard fragt am Ende seines tiefgründigen Werkes „Der
Mensch und das Wort", ob nicht durch die Schönheit des Rilke-
schen Gedichtes die Leere, der Abgrund bagatellisiert werde.
„Vielleicht kam die Unruhe und Nervosität Rilkes daher, daß
er, der wahr leben wollte, die Diskrepanz gespürt hat zwischen
dem Schrecken des Abgrundes und der Schönheit seines Gesanges,
in welcher Schönheit er den Schrecken vor dem Abgrund selber,
den er doch vor sich haben wollte, verlor: es war nicht nur ein
Verschwinden im Gesang, es war auch ein Sich-verlieren."

Tutzlng/Obb. Friedrich Seebaß

RELIGIONSPSYCHOLOGIE
UND RELIGIONSPÄDAGOGIK

G r u e h n, Werner, Prof. D.: Die Frömmigkeit der Gegenwart. Grundtatsachen
der empirischen Psychologie. Münster: Aschendorrf [1956].
XIV, 590 S., 10 Abb. gr. 8° = Archiv für Psychologie der Arbeit und
Bildung, hrsg. von G. Clostermann. Bd. 1. Kart. DM 27.90; Lw.
DM 30.—.

Nach dem Vorwort ist das Werk 1937 in Angriff genommen
und 1945 in Berlin vernichtet worden. Daß es 10 Jahre
später neu geschrieben im Druck erscheint, hat den Vorzug, daß
Literatur der Nachkriegszeit berücksichtigt werden konnte.

Da Gruehn Psychologe ist, wird die Frömmigkeit der Gegenwart
nicht einer dogmatischen oder gar historischen, sondern
einer seelenkundlidien Analyse unterzogen, mit Hilfe eines experimentellen
Verfahrens, dem Karl Girgensohn, der Lehrer
Gruehns, die Bahn gebrochen hatte („Der seelische Aufbau des
religiösen Erlebens", 1921; 2. Aufl. 1930 von Gruehn herausgegeben
). Girgensohn war in bemerkenswerte Nähe zu den Forschungen
der Würzburger Schule gekommen (O. Külpe, K. Bühler
u. a.), auf welchem Wege Gruehn bewußt weitergegangen ist.
Was die wissenschaftliche Methodik angeht, so bringt das zu besprechende
Buch nichts Neues herzu, sondern verweist ausdrücklich
und zu wiederholten Malen auf Girgensohns grundlegendes
Werk, wobei Gruehn seiner Abneigung gegen die weitere Erörterung
der Methodenfragen kräftigen Ausdruck gibt. Er scheint
ihrer müde zu sein und nur noch an der Darlegung der Ergebnisse
interessiert, weswegen wir ihm ein Eingehen zunächst auf sie
schuldig sein dürften.

Gestützt auf das reiche experimentelle Material Girgensohns
, des Verfassers selbst und des Mitarbeiterkreises am „Archiv
für Religionspsychologie" (seit 1927 von Gruehn geleitet),
aber auch gelegentlich auf verwandte Arbeiten der Leipziger
Schule (besonders Hans Leitner, Psychologie jugendlicher Religiosität
innerhalb des deutschen Methodismus, 1930), auch auf
die frühen bahnbrechenden Arbeiten der Amerikaner James und
Starbuck, wird das Verhältnis des modernen Menschen zu Gott
zu bestimmen versucht; es erscheint als ein Vertrauensverhältnis,
in dessen Nähe verwandte Erlebnisse um Liebe, Ehrfurcht,
Glaube führen. Im Leben der Frömmigkeit, in dem immer zentrale
Persönlichkeitskräfte zusammenwirken, erscheint als Mittel-
und Höhepunkt die Wandlung, — die älteren Autoren sprachen
hier von Bekehrung. Nicht nur der alte Begriff, sondern
auch seine falsche Isolation wird überwunden durch die Erkenntnis
, daß die Wandlung auf dem großen psychologischen Vorgang
der Neuwertung beruht, die bis in die elementaren Aufbaukräfte
der Person zurückverfolgt wird. Da die Wandlung das Grundthema
bleibt, werden auch ihre nichtreligiösen Voraussetzungen
untersucht, zu denen überraschenderweise auch die Reue und das
Gewissen gezählt werden, die als Phänomene eine eingehende
Analyse erfahren. Desgleichen werden auch die Abarten des religiösen
Erlebnisses untersucht, vor allem die „Gegenreligion",
d. h. der Unglaube. Als gewichtiger Teil hebt sich das 6. Kapitel
heraus über „Höhen und Niederungen des neuen Lebens", wo

u. a. zu reichen Analysen des Gebetslebens, der Meditation, des
Sündenbewußtseins, des Aberglaubens vorgedrungen wird. Die
Schlußkapitel beschäftigen sich mit der Entwicklungspsychologie
(Kindheit, Jugend, Alter), mit den Typen der Frömmigkeit, mit
der religiösen Pathologie, den Gemeinschaftsformen (Religionssoziologie
) und der Frage der praktischen Anwendung der Ergebnisse
.

Tritt schon in dieser gedrängten Übersicht der ungewöhnliche
Reichtum des Buches hervor, so nicht minder in der Entfaltung
der Teile, auf die keine Rezension hinreichend einzugehen
vermag. Statt beliebiger Beispiele nehmen wir die Stufenfolge
im allgemeinen Verlauf des religiösen Erlebnisses (113 ff.):
1. das Stadium des rein gedanklichen Verstehens, 2. die begleitenden
Gefühle und Empfindungen, 3. die Wandlung der Gefühle
zum „Vertrauten", 4. das Moment des Ergriffenwerdens,
5. die Erfassung des Gesamtich, 6. das Weiterklingen als Erleben,
7. das Abklingen deT Ichbeteiligung. Da ähnliche ausführliche
Analysen der eben angedeuteten Art das ganze Buch erfüllen,
ist sein Reichtum groß, den auszuschöpfen nicht nur dem wissenschaftlichen
Mitarbeiter, sondern auch dem Seelsorger und Katecheten
nahegelegt werden darf.

Der Rezensent vermag allerdings nicht zu verschweigen,
daß er zu ungeteilter Freude am Buch nicht gekommen ist, —
aus folgenden Gründen:

1. Es entzieht sich zu Unrecht der methodologischen Diskussion
. Wohl ist sie in Girgensohns grundlegendem Werk geführt
und in Gruehns anschließenden Arbeiten weitergeführt
worden, so daß mit einigem Recht auf sie verwiesen werden kann.
Aber abgesehen davon, daß nur wenige sie heute zur Hand haben
werden und für die notwendige Belehrung gern eine geringfügige
Erweiterung des Buches in Kauf genommen hätten, mußte
man eine Weiterführung der Diskussion erwarten, weil der Widerspruch
gegen die experimentelle Methode nicht verstummt
ist, sondern sich wiederholt zum Worte gemeldet hat, zuletzt
bei Albert Wellek, Ganzheitspsychologie und Strukturtheorie,
1955, S. 181 ff., wo über „Das Experiment in der Psychologie"
ausführlich gehandelt wird. Während Gruehn nicht müde wird,
die Exaktheit des psychologischen Experimentes zu rühmen, ist
es nach Wellek gerade als nichtexakt zu kennzeichnen, — ein
Urteil, das nicht nur die Protokollmethode trifft (worin Gruehn
zustimmen würde), sondern auch die Reizwortmethode und den
experimentierenden Dialog. „Auch das Protokoll mit der Stoppuhr
zu begleiten" — wir bemerken, daß Gruehn die Dauer des
Experimentes nach Bruchteilen von Sekunden angibt — „bleibt
eine leere Geste, eine .Exaktheit' vorzutäuschen, von der im
Ernst keine Rede sein kann" (Wellek S. 196); die Verfahrensweisen
der experimentierenden Denk- und Religionspsychologie
seien wohl experimentell, aber nicht exakt. „Dieses nichtexakte
Experiment hat gerade in der Religionspsychologie seine Existenzberechtigung
unter Beweis gestellt." Ich halte für wahrscheinlich
, daß hier terminologisch und wissenschaftstheoretisch ein
Übereinstimmen zu finden wäre, gerade weil Gruehn nichtexperimentell
erworbenes Material auch verwendet und anerkennt.
Gruehn aber richtet keine Mühe mehr auf die Aussprache und
Verständigung.

2. Das führt auf eine peinlichere Beobachtung. Jedem Leser
wird die Gereiztheit in Gruehns Sprache auffallen, wenn er auf
die nichtexperimentell arbeitenden Forscher und ihre Arbeiten
zu reden kommt. So wird in einer Reihe hochangesehener Forschernamen
ironisch von den „Genies" geredet. Wenig später
wird gefragt, wie es möglich sei, daß „immer noch einige ganz
vernünftige Leute" den nichtexperimentellen Weg gehen könnten
, da doch die schlechte Gesellschaft warnen müßte, denn jeder
Mensch, „auch der dümmste", meine eine genaue Kenntnis seines
Innenlebens zu besitzen. Nicht genug, daß inmitten einer
Literaturliste eine Anzahl Werke, darunter K. Oesterreich, Die
Besessenheit, 1921, als „völlig überholt" bezeichnet werden, es
muß fortgefahren werden: „Es ist Unfug, wenn diese Arbeiten
noch immer in sonst hochwertigen Werken wie . . . RGG
zitiert werden." Erwähnen wir nur noch, daß die Polemik gegen
R. Otto, Beth u. a. wohl allgemein nur als verletzend empfunden
werden kann. Es paßt zum Bilde, daß das Lob der eigenen
Forschung und die Parteibildung um den Verfasser reichlich grell