Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1956

Spalte:

383-386

Autor/Hrsg.:

Jahn, Ernst

Titel/Untertitel:

Die Bedeutung der kleinen Psychologie für die seelsorgerlich-pädagogische Diagnostik 1956

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

383

Theologische Literaturzeitung 1956 Nr. 5/6

384

Verlegenheit. Wörtlich verstanden besagt er doch, daß das der
Auftrag des Amtes der Kirche sei, „am" Wort und „am" Sakrament
zu dienen, in Richtung auf das Wort und Sakrament hin tätig
zu sein. Aber ist das die Auftragsrichtung des Amtes nach
reformatorischem Verständnis? Die Bekenntnisschriften sprechen
vielmehr von dem Amt der Kirche als dem von Gott der Kirche
eingestifteten Befehl, „p e r verbum et (per) sacramenta" unter
den Menschen den Glauben zu wirken und „dadurch" oder „damit
", gleichsam „per instrumenta Spiritus sancti" die congregatio
sanctorum aufzuerbauen (CA V). Das Typische des Amtes der
Kirche ist somit vielmehr der Dienst m i t dem Wort und m i t
den Sakramenten, das Predigen des Wortes Gottes und das Verwalten
— oder noch genauer — das a d-ministrare, das Z u-die-
nen der Sakramente. Das Wort und die Sakramente sind nicht
der Gegenstand, a n denen der Dienst vollzogen werden soll,
sondern sie sind die Mitel, m i t denen der Auftrag an der Welt
und an der Kirche ausgerichtet wird. Aber der Ausdruck „Dienst
a m Wort und Sakrament" verkehrt in jeder Beziehung die Auftragsrichtung
des Amtes. Terminologisch gestattet er geradezu
eine römisch-katholische Amtslehre. In denjenigen Landeskirchen,
in welchen im Pfarrerrecht bzw. in der Kirchenverfassung der
Auftrag des Amtes so formuliert ist, wäre durchaus der Dienst
eines Ordinierten denkbar, der nicht reformatorische, sondern
römisch-katholische Amtslehre vertritt und eine solche auch z. B.
„am" Altarsakrament handelt.

Mit den beiden Beispielen sollte gezeigt werden, wie dringend
erforderlich es ist, daß im ev. Pfarrerrecht — wie im gesamten
ev. Kirchenrecht — entscheidend wichtige Begriffe terminologisch
eindeutig sein müssen7. Die Begriffe dürfen nicht mehrdeutig
sein oder gar etwas ausdrücken, was mit ihnen vermutlich gar
nicht ausgesagt werden soll. Sie müssen auch hinsichtlich ihrer
evtl. theologiegeschichtlichen Belastetheit überprüft werden. Und
schließlich ist wohl die Forderung nicht unbillig, daß bei der Neuformulierung
des ev. Pfarrerrechtes sowohl in den einzelnen Landeskirchen
als auch z. B. in der VELKD nicht einfach Formulierungen
und Begriffe, die man bisher gemeinhin verwendet hat,
ohne kritisches Durchdenken übernommen werden. Diese Forderung
gilt auch für den theologischen und kirchlichen Sprachgebrauch
. Die Begriffe müssen wirklich sachentsprechend sein.

Es gehört mit zu den Aufgaben der Praktischen Theologie,
auch hinsichtlich der kirchenrechtlichen Terminologie forschend,
lehrend und mit dem Willen zur positiven Mitarbeit auch kritisch
hinweisend tätig zu sein.

7) Weitere Begriffe, die einer gründlichen Klärung bedürfen, wären
z.B. die Begriffe: der „Geistliche", die sog. „Rechte des geistlichen
Standes", überhaupt der „Standes"- bzw. ,,ordo"-Begriff. sowie
die Ausdrücke „Zuerkennung", „Aberkennung", „Ablegung", und
„Verlust" der „geistlichen Rechte", die „geistliche Amtstracht" etc.

Die Bedeutung der kleinen Psychologie für die seelsorgerlich-pädagogische Diagnostik

Von Ernst Jahn, Berlin

Das notwendige Seitenstück zur Pastoraltheologie ist die sein ist die Uroffenbarung beschlossen. Biblisch-theologisch gePsychologie
der Seelsorge. Wenn die Praktische Theologie die sprochen: In das menschliche Bewußtsein ist die Imago Dei ein-
parakletische, die pädeutische und die didaktische Seelsorge unter- gesenkt. Es handelt sich um ein Offensein für die Mächte der
scheidet, so ist damit schon eine seelsorgerliche Therapie gemeint. 1 Offenbarung und der Gnade. Aus dem Urbewußtsein erwachsen
Der Seelsorger, von dem Seelenklärung und Lebenshilfe erwartet Prophetie und Theophanie. In der Geschichte der Religionspsy-
wird, muß zunächst eine intuitive Diagnostik entfalten. Wenn j chologie — von Ernst Troeltsch bis zu Tor Andrae — ist der Begriff

von der „kleinen" Psychologie gesprochen wird, soll damit zum
Ausdruck gebracht werden, daß es sich in diesem Bericht nicht
um eine systemgebundene Psychologie handelt. Der Seelsorger

des religiösen Apriori gebräuchlich.

d) Die Mehrheit aller seelischen Geschehnisse spielt sich
im Dämmerbewußtsein ab, eben in der seelischen Ver-

kennt das Miterleben, das Miterleiden und das Mittragen mensch- worrenheit> um mjt Kanf zu chln Es ist £jn stetes Wechse,_

licher Schicksale, und zwar oft durch Jahre und Jahrzehnte. Diese jel; dk Abdrä hellbewußter Vorstellungen in die Ver-

Beobachtungspsychologie steht m ihrem Erkenntn.sgehalt stets i dämrn und tieIerum die Umwandlung des Nichtmehrbe-

unter dem Vielleicht und dem Ungefähr. J wußten jn dje Kkrhdt des Hellbewußtseins." Es gibt eine ganze

I. Es werden vier Formen der Bewußtseinssituation erkenn- S™yon, "/''f^ ,°der d" Verdämmerung. Nur

dem Anschein nach lebt der Mensch stets im Heute. Viel starker

ist er vom Gestern und vom Vorgestern seiner Existenz umfan-

a) Im Regelfall denken wir an das Wachbewußtsein, das am } gen. Dabei handelt es sich scheinbar um ein Vergessen. Theodor

bar:

deutlichsten als Hellbewußtsein bezeichnet wird. Daß es
eine Bewußtseinsschwelle gibt, hat bereits Wilhelm Wundt in seiner
Experimentalpsychologie festgestellt. Immanuel Kant spricht

Fontane hat einmal gesagt, es gäbe Virtuosen des Vergessens.
Vergessen bedeutet nicht Aufgelöstwerden in das Nichts, sondern
vielmehr Versinken. Die existentielle Selbsterhellung ist ohne

von den illuminierten Vorstellungen im Gegensatz zur seelischen ! die Erhebung bestimmter versunkener Erlebnisse in das Hellbe

Verworrenheit. Im Hellbewußtsein stellt sich die rationale Bewußtseinsschicht
dar.

b) Rätselhaft bleibt stets das Vorbewußtsein, ohne
dessen Annahme eine Anzahl wichtiger Phänomene unerklärbar
bleibt. Bestimmte Primitivhaltungen atavistischer Art — besonders
der Grausamkeitstrieb und die elementare Sexualtriebhaftig-
keit, auch in ihrer Pervertierung — lassen sich in der Regel nicht
aus der individuellen Lebensgeschichte erklären, sondern nur aus
einer vorgeburtlichen Anlage, deren Wurzeln in einer weit zurückreichenden
Menschheitsentwicklung vorausgesetzt werden
müssen. Jung nimmt ein kollektives Unbewußtes an. Diese Hypothese
gilt ebenfalls für eine bestimmte geistige Dynamik —
Jung spricht von den Archetypen der Seele. Religionen ersterben
nur sehr langsam. Sie werden zu Paganismen. Der Glaube wandelt
sich zu Magie und Mythos. Die Götter leben als Dämonen,
als Gespenster und als Kobolde weiter. Die scholastische Theologie
lehrte den Traduzianismus.

c) Nur selten wird darauf hingewiesen, daß bestimmte seelische
Erscheinungen, zumal religiösen Charakters, ohne das Vorhandensein
eines Urbewußtseins (vielleicht läßt sich auch
sagen: Überbewußtseins) problematisch bleiben. Im Urbewußt-

wußtsein nicht vorstellbar.

e) Alfred Adler hat gelegentlich von dem Unverstandenen
gesprochen, das nach seiner Meinung bedeutsamer sei
als das LInbcwußte. Hier ergibt sich für den Seelsorger eine doppelte
Aufgabe. Ihm muß das Verständnis der anderen Seele gelingen
, die er zum Selbstverständnis führen soll. Für ihn ist aber
die Voraussetzung, daß auch er zum Selbstverständnis gelangt,
zum Selbstverständnis vor Gott.

II. In dem Lebensprozeß muß sich das Ich mit dem Du und mit
dem Es auseinandersetzen. Im Du verkörpern sich die ersten Begegnungen
des Ich mit den Menschen. Im Es stellt sich jener
Gesamtkomplex von Erfahrungen dar, die man herkömmlich das
Schicksal zu nennen pflegt.

Wir betrachten die Begegnungen des Ich mit dem Du:

a) Zuerst begegnet das kindliche Ich dem Du der Mutter.
Der Schicksalskreis der Mutter bestimmt das
menschliche Leben entscheidend. Das klassische Bild der Mütterlichkeit
stellt sich in Monika dar, der Mutter des Augustinus.
Sie behütet den Lebensgang des Sohnes mit betender Liebe. In
grauenvollem Gegensatz zu diesem Bild der Mütterlichkeit steht