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Ausgabe:

1954 Nr. 2

Spalte:

81-94

Autor/Hrsg.:

Kahle, Paul

Titel/Untertitel:

Der gegenwärtige Stand der Erforschung der in Palästina neu gefunden hebräischen Handschriften 1954

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Theologische Literaturzeitung 1954 Nr. 2

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der er ihnen in anderer Weise der Vermittlung Gott geworden
ist. Darum können und dürfen Juden und Christen von der Absolutheit
ihrer voneinander unterschiedenen Wahrheitszeugnisse
nicht lassen. Sie gehen darum audi nach dem Willen der Vorsehung
getrennte Wege durch die Weltgeschichte — nebeneinander
her, bis zu jenem Punkt der Zukunft, an dem sich
die Parallelen schneiden werden.

Das Ende beider Bundesschlüsse ist das Ende dieser Weltzeit
, in den Tagen des Messias, in denen „alter" und „neuer"
Bund e i n Bund werden, ja die ganze Menschheit in einem Bund
zusammentritt, um anzubeten Gott allein. So zielt der Mes-
sianismus Israels auf das Kommende, die Eschatologie der Welt-

| völkerkirche, auf die Wiederkehr des Gekommenen. Beide Er-
I wählungsbünde stehen gegenüber dem in sich kreisenden End-
j lidikeitsverständnis dieser Welt geeint in der gemeinsamen Er-
j Wartung, daß das entscheidende Ereignis erst noch kommen
i wird — als das Ziel der Wege Gottes, die ER in Israel und in
der Kirche mit der Menschheit geht. — Die Kirche Jesu Christi
hat von ihrem Herrn und Heiland kein Bildnis aufbewahrt. Wenn
morgen Jesus wiederkäme, würde ihn von Angesicht kein Christ
erkennen können. Aber es könnte wohl sein, daß der, der am
Ende der Tage kommt, der die Erwartung der Synagoge wie der
Kirche ist, dasselbe Antlitz trägt.

Der gegenwärtige Stand der Erforschung der in Palästina neu gefundenen hebräischen Handschriften

27. Die im August 1952 entdeckte Lederrolle mit dem griechischen Text der kleinen Propheten und das Problem der Septuaginta

Von Paul Kahle, Oxford

Unter dem Titel „Wiederentdeckung eines fehlenden Gliedes
in der Geschichte der Septuaginta"1 hat der Dominikaner-
Pater Barthelemy von der licole Biblique in Jerusalem über einen
griechischen Text der Kleinen Propheten berichtet, der, auf
einer Lederrolle geschrieben, von Ta'ämire-Beduinen im August
1952 entdeckt worden ist in einer der Höhlen von Wädi
Murabba'a, etwa 18 km südlich von Khirbet Qumrän, der kleinen
Ruine, in deren Nähe die berühmt gewordenen Handschriften
aus der Höhle im Jahre 1947 entdeckt worden sind. Die Lederrolle
ist in das Archäologische Museum im arabischen Jerusalem
gekommen. Sie enthält Teile der Bücher Micha, Jona, Na-
hum, Habakuk, Zephanja, Sadiarja. Eine relativ gut erhaltene
Kolumne mit Versen aus Habakuk 1 und 2 ist in Faksimile dem
Artikel beigegeben. Barthelemy vermutet, daß die Rolle im ersten
nachchristlichen Jahrhundert geschrieben ist, und aus den
Dokumenten, die mit ihr zusammen aufgefunden sind, und die
mit dem Bar Kokba -Aufstand in Verbindung zu stehen scheinen
, schließt er, daß die Rolle damals, also bald nach 130 n. Chr.,
dort deponiert worden ist. Er vermutet, daß sie viel gebraucht
worden war, als man sie dort deponierte.

Barthelemy gibt noch keine Ausgabe des Textes. Die bei
der Untersuchung der Höhlen zu Tage geförderten Handschriftenreste
seien so zahlreich, daß man ihrer erst allmählich Herr
werden könne. Er gibt nur vorläufige Mitteilungen über die
neue Entdeckung. Aber auch schon die sind sehr dankenswert.
Schon aufgrund ihrer kann man sich ein Bild machen von der
ungewöhnlichen Bedeutung des Fundes.

Da bei der neu gefundenen Rolle das Alter von grundlegender
Bedeutung ist, habe ich mich an C. H. Roberts in Oxford
gewandt mit der Bitte um Mitteilung seiner Ansicht über
das Alter des neu entdeckten Textes der griechischen Bibel.
Er schreibt:

„Die Hand gehört zu einem Typus, der in den ägyptischen
Papyri von der Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr. bis zum 2. Jahrhundert
n. Chr. bekannt ist. Natürlich läßt sich eine bedeutende Entwicklung
innerhalb dieses Typus feststellen. Ein Charakteristikum dieser
Hände ist der Gebrauch einer dekorativen Schreibung am Kopfende und
Fußende des Buchstabens. In den ägyptischen Papyri wenden sie sich
normalerweise nach links, hier nach rechts . . . Einige Ähnlichkeiten zu
dieser speziellen Hand mögen erwähnt werden: Schubart, Paläographie,
Abb. 72 (spätptolemäisdi) und Abb. 76 (augustäisdb). Ich würde geneigt
sein, diese Hand dem Jahrhundert von 50 v. Chr. bis 50 n. Chr.
zuzuweisen."

Wir müssen also damit rechnen, daß die Rolle 50 bis 100
Jahre früher geschrieben ist, als Barthelemy vermutet.

Der neu aufgefundene Bibeltext ist also erheblich älter als
die Chester Beatty-Papyri, die bisher mit wenigen Ausnahmen
als die ältesten griechischen Bibeltexte gegolten haben. Von
diesen sind die alttestamentlichen zumeist aus dem 3. Jahrhundert
n. Chr., nur der Papyrus VI mit Teilen von Numeri und
Deuteronomium ist aus dem 2. Jahrhundert, und der eine Gene-

*) Redecouverte d'un diainon manquant de l'histoire de la Sep-
tante. Revue Biblique LX, 1953. 18-29.

sis-Papyrus aus dem 4. Jahrhundert. Von den Kleinen Propheten
ist in der Chester Beatty-Sammlung nichts erhalten. Einen gewissen
Ersatz bieten die Fragmente des Papyruskodex der Kleinen
Propheten, der in die Freer-Collection in Washington gekommen
ist (veröffentlicht New York 1927 durch Henry A.Sanders
, zusammen mit dem von Carl Schmidt herausgegebenen Berliner
Genesis-Papyrus, beide aus dem 3. Jahrhundert). Aber
nicht nur durch das 2—300 Jahre höhere Alter unterscheidet sich
die neugefundene Lederrolle von den bisher bekannt gewordenen
Papyruskodizes, sondern audi durch ihre Herkunft. Die Pa-
pyruskodizes sind im Auftrag von Christen geschrieben worden.
Das legen schon die zahlreichen neutestamentlichen Texte der
Chester Beatty-Sammlung nahe. Dazu kommt, daß der Befund
der dort befindlichen alttestamentlichen Kodizes von solcher
Qualität ist, daß man mit Sicherheit annehmen kann, daß diese
Texte aus ganz offiziellen christlichen Kreisen stammen oder doch
auf solche zurückgehen. Das gilt in erster Linie von den Chester
Beatty-Kodizes, aber bis zu einem gewissen Grade auch von den
nach Berlin und Washington gekommenen Kodizes.

Einen direkten Beweis für die frühzeitige Benutzung dieser
Papyri durch Christen bieten die koptischen Glossen, die zwei
der Kodizes tragen. Der Jesaiakodex der Chester Beatty-Sammlung
aus dem 3. Jahrhundert weist koptische Glossen im altfai-
jumischem Dialekt auf, die sdion aus sprachlichen Gründen nicht
später als in der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts geschrieben
sein können, also nicht lange nach der Niederschrift des Kodex
selber. Sie beweisen, daß der Kodex damals im Faijum nicht nur
vorhanden war, sondern auch von dort lebenden Christen ge-
braudit worden ist. Die koptischen Glossen, die dem nach Washington
gekommenen Kodex der Kleinen Propheten beigeschrieben
sind, sind in sahidischer Sprache verfaßt, die damals in
ganz Ägypten verbreitet war und somit in den koptischen Glossen
keinen sicheren Anhaltspunkt für die Frage bietet, wo in
Ägypten er gebraucht worden ist. Immerhin sind diese koptischen
Glossen ein sicherer Beweis dafür, daß der Kodex schon im
3. Jahrhundert von Christen benutzt worden ist.

Aber nicht nur diese mit koptischen Glossen versehenen
Kodizes sind unmittelbar nadi ihrer Entstehung von Christen
benutzt worden, sondern von den anderen gilt das ebenfalls, und
für alle gilt es, daß sie von Christen geschrieben sind. Darauf
weist schon rein äußerlich die Tatsache hin, daß der Gottesname,
das Tetragramm, hier überall durch kyrios — bzw. durch eine
beim nomen sacrum üblidie Abkürzung davon — wiedergegeben
ist. Von Origenes wissen wir, daß im griechischen Bibeltext
das Tetragramm in hebräischen Buchstaben beibehalten war. Die
Juden lasen es adonai, schrieben es aber nicht dementsprechend
(d. h. sie schrieben jhwh und lasen das adonai). Die Christen
lasen dieselben vier Buchstaben als kyrios, haben dann aber
bald die hebräischen Buchstaben des Tetragramms durch das grie-
i dusche Wort kyrios ersetzt. Griechische Bibeltexte, in denen das
i Tetragramm durch kyrios wiedergegeben ist, haben von vorn-
| herein alle Wahrscheinlidikeit für sich, daß sie von Christen
i geschrieben sind.